Am Montagmorgen um neun erhielt ich per Sprachnachricht die Anweisung, mich in San Andrews Central zur Arbeit zu melden. Sie kam vom Sekretariat des Justizministers.
Auf dem Weg dorthin rief Chilman an und sagte, er könne nicht in unser Büro, sie hätten die Schlösser ausgetauscht. Aber ehe er es dem JM überlasse, würde er die verdammte Bude lieber abfackeln. Es freute mich zu hören, dass der Alte in Kampfstimmung war.
San Andrews Central war an allen vier Seiten von Straßen umgeben. Ein graues, zweistöckiges Gebäude mit einem großen Vorhof und niedrigen Räumen, beleuchtet von kaltem, grünlichem Neonlicht. Von den nach Osten gehenden Fenstern blickte man auf den Marktplatz, der praktisch unter ihnen begann.
Das Ganze glich einem Bienenstock, ein Büro grenzte ans andere. Durch die Wände drangen das Husten und Grunzen von Männern mittleren Alters. Vier Sekretärinnen saßen in der hinteren Ecke eines Großraumbüros an ihren Schreibtischen und nahmen mit gestresstem Ausdruck Anrufe entgegen oder versuchten hingekrakelte, schlecht geschriebene Berichte zu entziffern. Wir kannten die Kollegen hier als einen verschworenen Haufen, der die »Sünden« anderer Leute, auch anderer Polizisten, sammelte wie Rabattmarken und sie bedenkenlos als Zahlungsmittel einsetzte, damit über die Verfehlungen ihrer Verwandten und Sprösslinge hinweggesehen wurde.
Superintendent Gill zog einen Tisch samt Stuhl an den Rand des Gemeinschaftsbereichs. Ich fühlte mich wie ein Ausstellungsobjekt, sämtlichen Blicken ausgesetzt. Köpfe wurden zusammengesteckt, Bemerkungen gemurmelt: Grünschnabel … Weichei … Tratte … Besonders stieß ich mich an »Tratte«, eine Kurzform von Taschenratte – Chilmans Taschenratten. Doch ich tat, als hörte ich nichts.
Ich blätterte gerade durch eine Ausgabe von Forensics Today und machte mir Notizen, als ich jemand drohend über mir aufragen spürte. Es war Switch, der Typ, der mit seinen Kumpels mitten auf der Grand Beach Road gehalten hatte, um mich einzuschüchtern. Selten hatte ich so viel Bösartigkeit im Blick eines anderen Menschen gesehen. Das Seltsame war, dass mir das nichts ausmachte. Ruhig hielt ich seinem Starren stand.
Irgendwo im Gebäude glaubte ich, Malans Stimme zu hören, war mir dann sicher. Er kam aus einem der Büros am Ende des Korridors geschlendert und beschleunigte seinen Schritt, als er mich sah.
»Was geht, Switch?« Er klang entspannt, sein Ausdruck war es nicht.
Switch drehte sich halb zu ihm um. Malan hatte die Daumen in den Gürtel gehakt, die Schultern leicht zurückgenommen. Sie erinnerten mich an zwei räudige Straßenköter, die sich beschnupperten.
Switch nickte Malan zu und gab ihm die Hand, Malan schüttelte sie.
»Willst du später mitkommen, was trinken?«, fragte Switch.
»Meinetwegen.« Malan zuckte die Achseln.
Den Rest des Tages hing er bei Switchs Leuten herum, und gegen Abend war von Reserviertheit zwischen ihnen nichts mehr zu spüren.
Kurz vor Feierabend stand Malan mit den Männern am Ausgang. Seitenblicke zu mir von dem einen, den ich als Machete kannte. Er war klapperdürr, kleiner als die übrigen und hatte eine merkwürdige Kopfform. Sein Mund war ständig in Bewegung. Er trug Stiefel mit Stahlkappen, gemacht zum Treten und Knochenbrechen, die Sorte, die Schergen und Geldeintreiber schon zu Lebzeiten meiner Mutter trugen. Er dünstete Gemeinheit und Brutalität nur so aus.
Malan murmelte etwas und deutete mit dem Kinn auf die Toiletten hinten. Sagte zu den anderen, sie sollten draußen auf ihn warten.
Nach kaum einer Minute kam er zurück und blieb bei meinem Platz stehen. »Digger, trag deine verdammte Scheißwaffe«, zischte er wütend.
Dann warf er sich gegen die Schwingtür und war weg.
Gerade wollte ich ebenfalls gehen, als ich meinen Namen hörte. Superintendent Gill stand an der Tür zu seinem Büro und winkte mich mit gekrümmtem Finger zu sich.
»Heut hams alle auf mich abgesehen«, brummte ich.
Ein langer schwarzer Schreibtisch nahm den größten Teil seines Büros ein. Alles darauf fein säuberlich an seinem Platz, der ordentlichste Schreibtisch, den ich je gesehen hatte. Ein großer roter Band mit dem Titel Shakespeares Tragödien stand in der linken Ecke, eine vollständige Ausgabe der Encyclopaedia Britannica auf einem Bord über seinem Kopf.
Der Superintendent hatte breite Schultern und dicke Finger; ein einzelner Goldring lugte zwischen den Wülsten hervor, konnte nicht mehr abgenommen werden.
Klare Augen in einem sehr dunklen Gesicht.
Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und zeigte auf den Besucherstuhl.
»Ich hab noch keine Zeit gehabt, dich willkommen zu heißen. Und tut mir leid, dass ich mich bisschen im Ton vergriffen hatte bei unserem Telefonat neulich, nachdem du Officer Buso eingesperrt hattest. Du fühlst dich hier nich wohl, oder?«
»Nee.«
Er nickte. »Du bist jünger, als ich dachte. Auf den Fotos wirkst du älter. Diese Frau, deine Partnerin, is sie genauso?«
»Miss Stanislaus und ich sind gleich alt«, sagte ich.
»Ich hab die Fälle verfolgt, die du und Chilmans Tochter aufgeklärt habt. Gute Arbeit. Ich will ehrlich zu dir sein. Du siehst mir wie ’n anständiger Junge aus, nicht geschaffen für diesen Laden …«
»Ich bin nicht so weich, wie ich ausseh, Sir.«
»Trotzdem! Was ich meine ist, ich hab keine Verwendung für dich. Ich werd dich keinen Nachtdienst schieben lassen, und ich werd dich nich mit den andern auf Streife schicken. Nach dem, was du mit Officer Buso gemacht hast, haben viele der Kollegen hier ein Problem mit dir.«
»Mit andern Worten, sie haben es auf mich abgesehen?«
Er rutschte auf seinem Sessel herum, nahm einen Tacker zur Hand und legte ihn wieder ab. Schob ihn herum, bis er genauso lag wie vorher. »Du brauchst deine Zeit nicht hier in Central zu verschwenden. Du brauchst nicht mal herzukommen. Kriegst trotzdem dein Gehalt wie immer. Sieh’s als Urlaub an, bis ich mir was hab einfallen lassen für dich.«
»Wir arbeiten gerade an dem Mordfall Lazar Wilkinson, Sir, und was Sie sagen, klingt mir sehr nach eingeschränktem Dienst. Tut mir leid, das muss ich ablehnen.«
Der Mann lachte doch tatsächlich. »Du bist kein Vollstrecker. Malan Greaves, der passt gut hierher. Chilmans Tochter – tut mir leid wegen der Schwierigkeiten, die sie grad hat –, die klingt mir auch nach ’ner echten Vollstreckerin. Bei dir weiß ich nich, was du machst.«
»Hab ich Ihnen doch gerade gesagt, Sir.«
»Aber was genau, junger Mann?«
»Forensik«, sagte ich. »Hin und wieder auch ein bisschen Vollstreckung, wenn nötig.«
»Erzähl mir von dem Teil mit der Forensik.«
»Der Körper ist ein offenes Buch, Sir. In der Rechtsmedizin lernt man, es zu lesen.«
Er zog eine Grimasse und breitete ratlos die Hände aus.
»Ich könnt Ihnen zum Beispiel sagen, dass Sie auf der rechten Seite mal eine schwere Verletzung hatten, wahrscheinlich an den ersten beiden Rippen unter der Schulter. Das zeigt sich daran, wie Sie ihren Oberkörper bewegen, an ihrer Sitzhaltung und auch daran, dass ihr linker Schuhabsatz stärker abgelaufen ist als der rechte. Kurzum, Sie bevorzugen die linke Seite, obwohl Sie kein Linkshänder sind. Vielleicht ein Unfall oder ein Sturz? Und Sie waren noch ziemlich jung, als es passiert ist.«
»Wieso das?«
»Weil Sie sich sonst nicht so gut davon erholt hätten.«
»Achtundzwanzig«, sagte er.
»Wie kam’s dazu?«
»Eine Schusswunde. Ein anderer Polizist. Wegen einer Frau.«
»Was ist aus der Frau geworden?«
»Sie hat mich geheiratet.« Er zog seine Schreibtischschublade auf und nahm einen Umschlag heraus, den er mir gab. »Ich, äh, hätte das zurückhalten können. Hab mich dagegen entschieden. Constable Buso wird nächste Woche Freitag vor Gericht erscheinen. Sorry, meine Sekretärin hat das aufgemacht. Ist bei uns so üblich.«
Ich überflog den Brief – eine Aufforderung von A.J. Whitney & Son, Rechtsanwälte, als Zeuge im Fall Buso gegen Camella Whyte auszusagen.
»Gehst du hin?«
»Ich geh hin«, sagte ich.
»Der Richter ist eine Frau. Die Zeiten ändern sich«, sagte er.
Ich stand auf und steckte den Brief ein.
Der Superintendent gab mir die Hand. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Du hast doch eine Dienstwaffe?«
Ich überhörte das.