Vielleicht wollte ich Rumcakes Ergebnis betreffs der Todesursache einfach nicht wahrhaben. Doch seit dem Moment, als ich Jana Ray dort am Strand hatte liegen sehen, nagte etwas an mir, ähnlich wie wenn ich mich auf den Weg zur Arbeit machte und vergessen hatte, die Haustür abzuschließen.

Ich griff zum Handy.

»Hallooo! Missa Digger?«

»Miss Stanislaus, haben Sie warme Kleider?«

»Ich hab Kleider.«

»Warme, meine ich, wie fürs Wetter in Übersee. Haben Sie so was?«

»Missa Digger, wassis los?«

»Ich hol Sie heute gegen Mitternacht ab. Ziehn Sie sich warm an, okay?«

»Mhmm.«

»Und schlafen Sie ein bisschen auf Vorrat.«

»Mhmm.«

»Bis später.«

»Mhmm.«

Ich zog das untere Fach meines kleinen Kühlschranks auf und nahm ein paar Schalen, Sprühflaschen und Messbecher heraus, Teil des Zubehörs, das ich nach meinem Forensiklehrgang in England im Internet bestellt hatte. Dann breitete ich zwei Zeitungen auf dem Boden aus und setzte mich hin, um meine Vorbereitungen zu treffen.

Mit Rumcakes Diagnose konnte ich leben, aber seine Schlussfolgerung konnte ich nicht einfach so hinnehmen. Der alte Weiße hatte schon recht, was meine Einstellung betraf: Wenn die Trauer und die Rituale und der Schock über den Tod vorbei sind, sieht man, dass das, was von der körperlichen Existenz übrig bleibt, nichts als Chemie ist. Und ein ermordeter Körper begehrt gegen seinen Tod auf, wie ich immer zu Miss Stanislaus sagte. Er verzeichnet jede Sekunde seines Sterbens. Man musste nur wissen, welche chemischen Kniffe es anzuwenden galt, um eine Leiche zum Sprechen zu bringen.

Ich rief Daryl an, der in der Leichenhalle arbeitete. »Hast du heute Nachtschicht, Daryl?«

»Nein, Francis is heut dran.«

»Kannst du mit ihm tauschen?«

»Missa Digger, mein Sie unsereins will die ganze Zeit Tote angucken?«

»Etwa nicht? Kennst du Jonathon Rayburn?«

»Jonathon wer?«

»Jah-Ray. Netter Junge aus Beau Séjour.«

»Jah-Ray! Klar kenn ich Jah-Ray, warum sagen Sie nich gleich Jah-Ray. Ich und Jah-Ray verstehn uns.«

»Er ist tot.«

»Er is …? Missa Digger, das ’n schlechter Witz.« Seine Stimme wurde leise, wimmernd. »Ich glaub das nich. Wie kann das sein?«

»Das will ich heute Nacht rausfinden. Bist du da?«

»Ich ruf gleich Francis an.«

Miss Stanislaus hatte sich so dick angezogen, dass sie aussah wie ein überdimensionaler Teddybär. Ein tropischer, genauer gesagt, bei all den bunten Schichten um sie herum. Sie warf mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: Wenn Sie vorham, mich zu verscheißern, passen Sie bloß auf.

Unterwegs setzte ich sie ins Bild. Sie wisse schon von dem Jungen, sagte sie, hatte es von Pet gehört. Ob ich mitgekriegt hätte, dass sie es im Radio gemeldet hatten?

Ich läutete an dem hohen Stahltor. Daryl kam in einem dicken Mantel und Stiefeln heraus. Ich sah auf die Uhr, kurz nach eins.

»Missa Digger«, sagte er gähnend, »Sie sin echt gekomm?«

»Schläfst du bei der Arbeit?«, fragte ich.

»Unsereins is halt müd. Tut mir wirklich leid um den Jungen. Die Leute sterm auf so blöde Art.«

»Daryl, sag Miss Stanislaus guten Abend.«

Daryl murmelte etwas Höfliches und führte uns hinein, sah sich dabei nach Miss Stanislaus um. Sie hatte diese Wirkung auf Männer, jedes Mal.

»Schrank drei, dritte Zelle von unten.« Er zog die schwere Tür auf.

Die Kälte schlug mir ins Gesicht. Miss Stanislaus zog die Schultern hoch, ließ ihre Schichten sich setzen.

»Bleiben Sie dicht bei mir«, sagte ich.

Sie nickte.

Daryl öffnete das Fach und zog den Wagen heraus. Er wirkte durcheinander, was ich verstand. Trauer ist ein Anpassungsprozess, bevor das Akzeptieren beginnt. Ich bat ihn, die Neonbeleuchtung auszuschalten, und gab Miss Stanislaus meine Diensttaschenlampe. »Richten Sie sie zur Decke.«

In dem diffusen Lampenschein sah ich das Weiße von Daryls Augen.

»Weißt du noch, was ich dir über deinen Beruf gesagt hab, Daryl?«

»Nah.«

»Diskretion.«

»Keine Sorge, Missa Digger. Ich bin die Diskretion selbst. Ich stell niemand keine Fragen über nix. Was macht ihr da mit Jah-Ray?«

»Sei still oder ich schick dich raus.«

»Wecken Sie mich, wenn Sie fertig sind.« Daryl verdrückte sich zur Tür hinaus.

»Missa Digger, Sie wein ja«, murmelte Miss Stanislaus und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Nee, tu ich nicht.«

Ich holte die sechs Sprühflaschen heraus, die ich zu Hause vorbereitet hatte, reihte sie auf dem Boden auf und streifte ein Paar Neoprenhandschuhe über.

»Um Ihnen zu erklären, was ich jetzt tue, muss ich Sie zuerst verwirren«, sagte ich zu Miss Stanislaus. »Ich werde mit Jana Ray reden, und wenn er mir antwortet, wird es durch Licht sein.«

Sie trat von einem Bein aufs andere und nickte.

»Haben Sie sich je gefragt, wodurch Glühwürmchen leuchten?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Also, die Glühwürmchen verbinden einen Stoff namens ATP mit zwei anderen Substanzen, die nach dem Teufel benannt sind: Luciferin und Luciferase. Das tun sie dosiert, so dass ihr Hinterteil aufleuchtet wie der Blinker an meinem Auto. Das Ganze nennt sich Biolumineszenz.«

Ich nahm eine der Sprühflaschen. »Was ich hier drin habe, ist Luminol. Wenn das mit Blut reagiert, gibt es auch ein Leuchten ab. Ich hab noch einen anderen Indikator namens Fluorescein dabei, aber heut Nacht nehm ich Luminol. Wenn an dem Jungen irgendwo Blut ist, seien es auch nur die geringsten Spuren oder ein Bluterguss, wird die chemische Reaktion mir das zeigen. Das Leuchten dauert nur fünfundvierzig Sekunden, aber das sollte reichen, um ein paar Fotos zu machen. Können Sie mir folgen?«

Sie nickte.

»Ich werde mit der Vorderseite anfangen, von den Zehen bis zum Kopf. Wenn ich damit fertig bin, wird Daryl mir helfen, ihn umzudrehen. Dann mach ich das Gleiche noch mal, von den Füßen aufwärts. Wird schätzungsweise bis zum Sonnenaufgang dauern.«

Sie erschauerte, doch ich konnte nicht sagen, ob es an der Raumtemperatur lag oder an dem, was ich ihr gerade beschrieben hatte.

Dann begann ich mit der zähen, kräftezehrenden Arbeit: feine Spritzer entlang der Gliedmaßen und des Oberkörpers, Zentimeter für Zentimeter, immer wieder warten, dann weitermachen, stets mit der Befürchtung, ich könnte eine Stelle ausgelassen haben, weshalb ich hier und da noch mal einen Schritt zurückging. Ab und zu wackelte die Taschenlampe in Miss Stanislaus’ Hand, aber größtenteils hielt sie sie ruhig. Als ich schließlich zu Jana Rays Gesicht kam, war mir die Kälte in die Knochen gekrochen.

Ich sah auf meine Armbanduhr – drei Uhr morgens – und streckte mich. »Miss Stanislaus, wollen Sie eine Pause machen?«

»Nah.«

»Holen wir Daryl.«

Ich öffnete die Tür zum Nebenraum. »Daryl, ich will ihn umdrehen.«

Daryl kam und wendete die Leiche mit einer flinken Bewegung aus den Schultern heraus.

»Jesus!«

»Nee, nix Jesus, das war ich, Missa Digger.« Leise lachend ging er wieder hinaus.

Nach weiteren drei Stunden in gebückter Haltung in einem auf vier Grad Celsius heruntergekühlten Raum wurde ich immer langsamer. Miss Stanislaus ließ die Taschenlampe sinken und faltete die Arme um ihren Oberkörper. »Villeich isses nich, was Sie denken, Missa Diggger? Villeich isses bloß …«

»Nur noch der Hinterkopf jetzt«, sagte ich.

Wie die meisten jungen Männer in seinem Alter trug Jana Ray die Haare an den Seiten und im Nacken raspelkurz und oben zu einem stylishen Schopf frisiert. Zuerst leuchtete ich seinen Kopf mit der Taschenlampe ab und fand kein Anzeichen für eine Hautblutung oder Quetschung, was aber noch nichts hieß.

Inzwischen war ich bei der letzten Flasche Luminol angekommen, und die war schon halb leer. Millimeterweise arbeitete ich mich vom Nacken aufwärts und hatte gerade eine Stelle neben dem rechten Ohr erreicht, als ich mich aufrichtete und Miss Stanislaus näher heranwinkte.

Sie beugte sich über den Toten, drückte ihre Schulter an mich.

»Sehen Sie was?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. Ich sprühte noch mal etwas kräftiger und merkte, wie sie nach Luft schnappte.

»Und?«, sagte ich.

»Blaues Licht, nichwahr? Tiefblau.«

Ich hatte ihr nicht gesagt, mit welcher Farbe zu rechnen war.

»Jetzt wette ich mit Ihnen, dass wir auf der anderen Seite zum gleichen Ergebnis kommen.«

Ich drehte Jana Rays Kopf vorsichtig herum und sprühte. Und da war es, ein intensives, blaues Leuchten zwischen den kurzen Haaren, wie eine in der Sonne aufblitzende Welle. Ich bat Miss Stanislaus, die Lampe schräg zu halten, und besprühte die Stelle noch ausgiebiger, machte ein Foto mit dem Handy. Es war keine gestochen scharfe Aufnahme, aber sie würde es tun.

»Wollen Sie wissen, was ich daraus schließe?«, fragte ich.

Sie nagte an ihrer Unterlippe, machte dabei Kaubewegungen.

»Jemand hat Jana Ray ertränkt. Jemand mit großen, kräftigen Händen.« Zur Demonstration legte ich meine Hände von hinten um ihren Kopf und drückte ihn leicht nach unten. »Muss ihn so unter Wasser gehalten haben. Er hat sich gewehrt, klar hat sich der Junge gewehrt, und wie. Da, wo Daumen und Zeigefinger sich beim Runterdrücken in die Kopfhaut gebohrt haben, sind Abschürfungen vorhanden. Mit bloßem Auge nicht zu sehen, aber sie sind da.«

Sie berührte meinen Arm. »Missa Digger, Sie weinen wieder, und das macht mich fertich. Sie komm jetzt sofort mit mir raus!«

Draußen vor dem Gebäude war sie wieder ganz bei der Sache. »Was mich dran erinnert, ’s wird Zeit, die Frau noch mal zu besuchen, die Mudder von Laza Wilkins. Wir wern wohl so ’n Durchsuchungsbeschluss brauchen, denk ich?«

Ich räusperte mich. »Wieso?«

»Weil ich den brauchen werd.«