Der Hang, an dem mein Haus stand, stieg noch rund achthundert Meter bis zu einer gewaltigen Felsformation am Gipfel an. Ein paar Familien hatten ihre Häuser in der Senke direkt darunter gebaut, und ich fragte mich immer, wie sie ruhig schlafen konnten bei diesen Megatonnen von Granit, die sich über ihren Dächern auftürmten. Rock Top war ein karger Ort mit einer Reihe dürrer Gliricidiabäumchen, ihres Laubs beraubt und ständig von dem kühlen Wind geschüttelt, der vom Meer heraufblies. Doch ich saß gern dort oben in dieser Abgeschiedenheit, die mir half, einen klaren Kopf zu bekommen und das Dauerrauschen darin zum Verstummen zu bringen.

Ich ging meine mentale Liste durch und fühlte mich von den Dingen darauf mehr und mehr niedergedrückt.

Die alten Frauen auf Kara Island hatten noch kein Ergebnis, was die Leiche von Miss Stanislaus’ Großonkel anging. Als ich das letzte Mal mit Benna gesprochen hatte, sagte sie: »Koku is nich in dieser Erde begraben, Missa Digger. Sonst hätt er sich mir schon zu erkenn gegeben.«

»Versteh ich nicht«, erwiderte ich. »Haben Sie denn gesucht? Ich meine, so richtig …«

»Warum glaum Sie mir nich?«, fragte sie.

»Tu ich ja. Verzeihen Sie. Rufen Sie mich an, sobald …«

»Gestern Nacht is mir was innen Sinn gekommen, Missa Digger. Nur so ’ne Idee.«

»Sagen Sie’s mir.«

»Nah!«

»Benna, so helfen Sie mir und Miss Stanislaus nicht! Ich muss Bescheid wissen.«

Offenbar hatte sie mir meine Verzweiflung angehört, denn ihr Ton wurde sanfter. »Wir ham noch annere Inseln hier ringsum. Kara Island is nich die einzige, wissense.«

»Tun Sie Ihr Bestes, Benna. Bitte!«

»Ah-hah«, machte sie und legte auf.

Mir graute allein schon bei dem Gedanken an das Verfahren, bei der Vorstellung, wie Malan mit höhnischem Grinsen und abfälligem Blick auf Miss Stanislaus aus dem Raum stolzierte.

Als mein Vater, der Polizeichef, mich gefragt hatte, wie weit ich in der Sache zu gehen bereit sei, hatte ich ihm wahrheitsgemäß geantwortet. Ich würde so weit gehen, wie es nötig war, selbst wenn ich dabei meine Stelle verlieren sollte.

Alles nur wegen Miss Stanislaus? Nah …

Wie Chilman gesagt hatte, roch das Verhalten des Justizministers nach der Art von Machtmissbrauch, die Menschen auf Camaho schon früher das Leben gekostet hatte.

Doch was konnte ich schon gegen jemand mit dem Einfluss des JM tun? Ich machte mir keine Illusionen darüber, wozu er fähig war. Pet kannte eine frühere Assistentin von ihm, die seine Avancen zurückgewiesen und gekündigt hatte. Ein paar Monate später war sie ernstlich erkrankt und musste zur Behandlung nach Kanada reisen. Der JM ließ ihren Pass beschlagnahmen, und ihre Schwester war gezwungen gewesen, sie mit dem Pass einer anderen Frau von der Insel zu schmuggeln.

Dann war da noch Jana Ray. Sosehr ich auch versuchte, den Jungen aus meinen Gedanken zu verbannen, sie kreisten doch immer wieder um ihn. Es gab so vieles, was ich nicht mehr aus ihm herausbekommen hatte. Er hatte zugegeben, für Lazar Wilkinson gearbeitet zu haben, war aber so verstört über die Veränderungen in dem Geschäft gewesen, dass er hatte aussteigen wollen. Der Verdacht lag nahe, dass diese Veränderungen zu seinem und Lazars Tod beigetragen hatten. Vielleicht sogar die Ursache waren. Keine Ahnung! Doch dass zwischen diesen beiden Morden ein Zusammenhang bestand, daran zweifelte ich kaum.

In meinem Forensik-Lehrgang in England hatte ich gelernt, dass es stets mehrere Ansätze bei der Untersuchung eines Verbrechens gab. Der naheliegendste war nicht immer der beste, und je nachdem, welchen man wählte, konnte man entweder in einer Sackgasse landen oder einen Durchbruch erzielen. Fürs Erste, beschloss ich, würde ich mich auf Jana Ray konzentrieren.

Ich stand auf, klopfte meinen Hosenboden ab und stieg den Hügel hinunter.

In den Häusern ringsum war alles still, als ich zu Jana Rays Hütte kam, das Meer weiter draußen mattgrau. Die kühle Bergluft, die sich nachts über das Dorf legte, war noch nicht von der Morgensonne erwärmt worden. Von irgendwo aus der Nähe ertönte das Tschak, Tschak einer auf Holz einschlagenden Machete.

Ich stieß die Tür auf und blieb einen Augenblick mitten in dem vorderen Zimmer stehen. Jana Rays Bücher stapelten sich wie üblich auf dem Boden, doch seine wenigen Küchengeräte lagen überall verstreut. Eine Kralle aus halbverfaulten Bananen am Fuß des Schranks, wimmelnd von Ameisen und Blattläusen. Eine kleine Geldbörse aus Stoff, aus der ein Fünf-Dollar-Schein herauslugte. Eine Schachtel Anchor-Streichhölzer, Haushaltsgröße, am Rand des Herds. Ich schob sie auf, leer.

Mein Blick fiel auf etwas, das wie eine Digitaluhr aussah, daneben eine Karte mit dem Aufdruck Amazon.com. Ich hob das Ding auf, hielt es dicht vor die Augen. Las: Thermometer/Hygrometer. Made in China.

Ich steckte es in meine Umhängetasche.

Dann knipste ich die Taschenlampe an und ging in das halbdunkle Schlafzimmer hinüber. Die Matratze auf dem Boden war aufgeschlitzt worden, die Kokosfasern lagen klumpenweise drumherum verstreut. Die Dielenbretter waren in den Ecken hochgehebelt worden. Ein kleiner Textilkoffer lag mit aufgezogenem Reißverschluss an der Seite. Ich schlug die Klappe um und holte den Wust der von mir gekauften T-Shirts und Unterwäsche heraus, verknittert, aber ungetragen. Tastete das Innenfutter des Koffers ab.

Als ich mich aufrichtete, entdeckte ich ein an der Wand lehnendes Buch, halb aufgeschlagen, offensichtlich beiseite geworfen. Hydrokultur: Grundlagen und Praxis. Dick, fester Leineneinband, teuer. Ein Werbeflyer für Amazon Prime steckte zwischen den Seiten. Auf der vorderen Umschlaginnenseite stand mit Hand geschrieben: V. deinem Sternapfel. Darunter, kaum erkennbar in dem Zwielicht, das Buch, das ich ihm geliehen hatte. Mit pochenden Schläfen von den Kopfschmerzen, die ich seit dem Aufwachen ignorierte, stand ich einen Moment still da.

Schritte draußen. Ich schloss die Augen und lauschte. Eine Frau … schwer. Schnaufendes Atmen vom Bergaufgehen. Ich stopfte die Bücher in meine Tasche, lief zur Tür und machte sie auf.

Braune, flackernde Augen richteten sich auf mich. Sie stand barfuß an der Hangschräge über dem Eingang, eine rostige Machete in der Hand und leicht vorgebeugt, als wollte sie sich auf mich stürzen. »Der Junge is tot, warum könnt ihr ihn nich in Ruh lassen? Was macht ihr euch an seiner Hütte zu schaffen? Habt ihr noch nich genug Unheil angerichtet?«

Ich zückte meinen Ausweis und hielt ihn ihr hin. »DC Digson, San Andrews CID. Wen meinen Sie mit ›ihr‹?«

Sie trat von einem Fuß auf den andern und sah sich hastig um. »Männer! Scheißkerle! Stellen nur Böses an hier bei uns, und keiner kann sie stoppen. Ich wünsch mir ’n Gewehr gegen die. Die nehm Leute mit, Kinner, Esel …« Der Rest blieb ihr in der Kehle stecken.

Mir schwoll der Kamm. »Ich brauche Namen, verdammt noch mal! Nennen Sie mir ein paar Namen!«

Die Frau wich seitwärts vor mir zurück, dann trommelten ihre Fersen einen schweren Rhythmus, als sie den Hang hinunterlief. Ich folgte ihr, als sie auf einen Weg durch eine Häusergruppe abbog. Ein paar ausgehungerte Streuner, nur Haut und Knochen und gefletschte Zähne, versperrten mir plötzlich den Weg, ihr wütendes Gebell tat mir in den Ohren weh.

»Ich komm wieder«, knurrte ich. »Wiederkommen werd ich.«

Ich ging zu Jana Rays Hütte zurück und machte die Tür hinter mir zu.

Dann rief ich Dessie an.

»Dessie, hier ist Digger. Wie geht’s dir?«

»Digger! Ich bin so traurig wegen deinem jungen Freund.«

»Ich bin auch traurig, Dessie.«

»Wann sehn wir uns?«

»Dessie, ich ruf an, um dich um einen Gefallen zu bitten. Ich möchte, dass du ein Konto für mich überprüfst. Die Inhaberin ist eine Dora Wilkinson. Ich hab dir doch von dem Krawattenmord erzählt?«

»Es ist ständig im Radio darüber berichtet worden, Digger.«

»Also, Dora Wilkinson ist die Mutter des Opfers. Sie hat Mitte letzter Woche eine Zahlung über zweiundzwanzigtausend Dollar erhalten. Ich möchte wissen, von wo oder besser noch von wem das Geld überwiesen wurde.«

»Wart Digger, nicht so schnell. Sag mir noch mal den Namen.«

Ich tat es.

»Und du bist sicher, dass sie ein Konto bei uns hat?«

»Ja.«

»Leider ist das nicht ganz so einfach. Wir haben unsere Vorschriften, weißt du.«

»Dessie, ich könnt mir eine gerichtliche Verfügung besorgen, aber schnell und unkompliziert wär mir lieber. Bist du noch da?«

»Hast du die Kontonummer?«

»Moment«, sagte ich und klickte das Foto von dem Bankbuch an.

»09434. Ausgestellt auf Dora J. Wilkinson, Beau Séjour, Bezirk San Andrews.«

»Ich glaub, ich seh’s.« Sie senkte ihre Stimme. »Hast du später Zeit?«

»Nah, tut mir leid. Lass mich wissen, was du rausgefunden hast. Fax es ans Büro, wenn du willst.«

»Ich schick dir ’ne SMS.«

»Danke, Dessie.«

Ein paar Minuten später rief sie wieder an. »Das Geld wurde von der Kundin bar eingezahlt, Digger. Nicht überwiesen.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich.«

Ich lief hinunter ans Meer und setzte mich auf die Hafenmauer. Die Bucht war verlassen bis auf eine kleine Gruppe Jungen, die sich am nördlichen Ende gegenseitig nassspritzten. Jemand hatte eine schwarze Fahne an der Stelle aufgepflanzt, wo wir Lazar Wilkinsons Leiche gefunden hatten. Vermutlich seine Mutter. Die Häuser hinter mir am Hügel wurden nach und nach von der Morgensonne beschienen. Abseits davon, ein Stück weiter oben, stand Jana Rays Hütte. Von hier aus konnte ich nur das rostige Dach sehen, wie eine verschorfte Wunde in dem Grün.

Ich sprang von der Mauer und ging zum Strand. Das Geschrei der Jungen erstarb, ihre Köpfe drehten sich in meine Richtung. Langsam wateten sie aus dem Wasser und standen abwartend im Sand. Dünne Kids mit vorstehenden Schlüsselbeinen, narbigen Händen und Striemen an den Beinen und Schultern. Die wulstige Narbe, die sich quer über Jana Rays Rücken zog, kam mir in den Sinn. Die Jungen blickten mir mit halb offenen Mündern entgegen. An dem Abend, als ich mit Miss Stanislaus nach Beau Séjour zurückgekehrt war, hatte ich mein Essen mit zweien von ihnen geteilt. Derjenige, der Eric hieß, war nicht darunter.

»Sagt mir, woher ihr die Narben habt«, forderte ich sie auf.

Sie nahmen Reißaus, als hätten sie sich abgesprochen, wurden zu im Zickzack davonhuschenden Schemen zwischen den Bäumen.

Ich rief ihnen das Gleiche hinterher, was ich zu den Hunden gesagt hatte.