Officer Mibo hatte sein Haus ein paar Kilometer außerhalb des Orts gebaut.
Es stand zwischen ein paar kleineren Wohnhäusern, die vielleicht ein Zehntel so groß waren. Die Villa roch noch nach Rohbeton und sollte wohl irgendwie römisch im Stil sein: Löwenköpfe auf den Torpfosten, eine breite, geschwungene Eingangstreppe mit Säulen, die zu einer Bogentür oben führte. Ein gepflasterter Hof mit vier Autos, darunter ein SUV. Ich fragte mich, was er damit auf einer dreißig Quadratkilometer großen Insel wollte.
Ich stieg die Treppe hinauf und klopfte an die große Glastür. Nach einer Weile tauchte Mibo auf, dünn wie die Dürre, die Haut so fest um sein Gesicht gespannt, dass ich seine Schädelform erkennen konnte. Er trug geblümte Shorts und Gummisandalen und hatte eine Fernbedienung in der Hand. Ein kinoleinwandgroßer Fernsehbildschirm schimmerte blau in dem Wohnzimmer hinter ihm.
»Guten Tag, mein Name ist Digger.« Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis. Er kannte mich natürlich, aber ich wollte ihn durch mein Benehmen verunsichern. Mibo blinzelte und versuchte es mit einem kumpelhaften Polizistenlächeln. Ich reagierte nicht darauf, seine Miene gefror.
»Sie haben gehört, was mit Officer Buso passiert ist, dem Polizisten, den ich wegen fahrlässiger …«
»Hab ich von gehört«, sagte er.
»Also wissen Sie auch, was ich mit ihm zu machen gezwungen war.« Ich blickte auf meine Uhr, dann auf seine Kleidung. »Es ist ein Uhr. Sind Sie in der Mittagspause?«
Er murmelte irgendwas von sich »nich so gut« fühlen heute.
Ich sah ihm in die Augen. »Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit dem Polizeichef. Officer Mibo, ich will Sie jetzt sofort auf der Wache sehen.«
Seine Augen quollen hervor, er leckte sich die Lippen. »Is was passiert?«
»Eine Menge! Und falls Sie Zweifel an meiner Befugnis hier haben, rufen Sie den Polizeichef an.« Ich hielt ihm mein Handy hin. Wie erwartet, verzichtete er. »Ziehn Sie sich was an, Mibo. Ich warte.«
Ich ging die Treppe hinunter und sah mich auf dem Grundstück um: Angelzeug, reichlich davon, zwei Schlauchboote hinten, ein schnittiges Speedboot mit einem großen Yamaha-Außenbordmotor.
Mibo kam heraus und knöpfte sich das Hemd zu, hatte noch den Gürtel offen. Die Frau, der ich zuvor schon auf der Wache begegnet war, folgte ihm hinaus auf die Veranda und starrte mich mit undurchdringlicher Miene an.
Mibo ging zu dem SUV. Ich zeigte auf den blauweißen Toyota am anderen Ende des Hofs mit der Aufschrift POLICE.
Wir fuhren schweigend. Ich hatte meine Remington nach Malans Art aufs Armaturenbrett gelegt, konnte Mibos Schweiß riechen. Der Mann hatte seinen Hintern fest in den Sitz gedrückt, das Kinn lag fast auf dem Lenkrad, die Ellbogen standen rechtwinklig davon ab.
»Officer Digger …«, begann er.
»Wir reden auf der Wache.« Ich hatte das alles im Kopf geprobt, angelehnt an Chilmans Methoden bei der Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit: Den Gegner ständig aus dem Gleichgewicht bringen. Doch als ich jetzt neben Mibo saß, der Lauf der Remington »zufällig« auf ihn zeigte und die Erinnerung an die sterblichen Überreste des alten Mannes auf White Island mich verfolgte, überwältigte mich die Wirklichkeit beinahe.
Als wir endlich die Wache erreichten, war ich miesester Laune. Ich dachte an die furchtbaren Auswirkungen, die Gier und Selbstsucht eines Einzelnen auf das Leben anderer hatten. Dachte an den Druck, unter dem Miss Stanislaus stand, nicht zuletzt wegen des Berichts dieses Mannes.
Ich ließ ihn vorangehen, hielt den Blick auf seinen Nacken gerichtet.
Ein alter Schreibtisch in einer Ecke, eine beschädigte Tastatur darauf, das Festnetztelefon, mit dem die Frau ihn bei meinem ersten Besuch hier zu warnen versucht hatte, ein Stoß Kugelschreiber und ein A4-Notizblock.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich.
Er murmelte irgendwas von Urlaub. »Nettes Leben«, sagte ich. »Benna meinte, Sie wären einer der besten Seeleute hier auf Kara Island. Stimmt das?«
Er zuckte die Achseln.
»Officer Mibo, Sie reden nicht viel. Warum?«
»Sie gem mir ja keine Gelegenheit«, krächzte er.
»Jetzt geb ich sie Ihnen. Reden Sie!«
Er warf mir einen rotäugigen, hasserfüllten Blick zu. Ein Feigling, entschied ich, trotz seiner Körpergröße und seines Auftretens.
»Sie haben Angst, sich zu verplappern, weil Sie so viel zu verheimlichen haben, deshalb.«
»Ich hab gar nix nich zu verheimlichen. Weiß nich, wieso Sie herkomm und auf mir rumhacken!« Er bleckte die Zähne und glotzte mich an, und jetzt erkannte ich Bosheit in ihm.
Ich zog die beiden einzigen Stühle im Zimmer nebeneinander. »Setzen Sie sich, Officer Mibo. Ich will Ihnen ein paar Fotos zeigen.«
Er ging zur Tür.
»Wenn Sie jetzt rauslaufen, schieß ich Ihnen die Beine weg, ich mein’s ernst!«
Mibo ließ sich auf dem einen Stuhl nieder, glotzte mich wieder an dabei. Es war schon ein spezieller Charakter nötig, um ein Polizist zu werden wie er – so viel von sich aufzugeben für Geld, für einen hässlichen Kasten von einem Haus, in dem ein kleines Dorf Platz gehabt hätte, und ein Auto, mit dem man kaum ein paar Kilometer weit fahren konnte, bevor man im Meer landete.
Ich schaltete das Tablet an und rückte so dicht an ihn heran, dass sich unsere Schultern berührten. Das gefiel ihm nicht, aber er konnte nichts dagegen tun, wenn er nicht vom Stuhl fallen wollte. Auch ein Trick, den ich von Chilman gelernt hatte.
Ich wischte durch die Fotos, beobachtete Mibos Gesicht aus dem Augenwinkel. Er blieb ausdruckslos. Bei der Aufnahme von dem Gürtel des alten Mannes hielt ich inne und fühlte, wie er krampfartig zuckte. Ich klickte auf ein Foto von dem Skelett in der Tasche. Wieder ein Zucken.
»Das ist Ihre Tasche, nichwahr?«
»Nah! Hab nie so ’ne Tasche nich gehabt.«
»Sind Sie sicher?«
»Na klar, ich …«
Bei der nächsten Aufnahme verstummte er: die Aufzeichnungen von Tomas über den Geschäftsvorgang, die Rechnung. »Immer noch sicher?«
Mibos Unterlippe bebte.
Ich drehte meinen Stuhl herum, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Wenn Juba Hurst noch leben würde, hätte ich jetzt die Beweise, um ihn wegen Mordes lebenslänglich ins Gefängnis zu bringen. Ihre Beteiligung an der Tat und Ihre Verbindung zu Juba hätte ich vielleicht nicht mal rausgekriegt, wenn Sie nicht Ihren Arsch aus dem Fenster gehängt hätten, indem Sie einen hinterhältigen Bericht an den Justizminister und die Presse weitergeleitet haben. Warum?«
Sein Blick zuckte zur Tür.
»Laufen Sie, wenn Sie sterben wollen, Mibo. Nur zu.« Ich hob drohend den Finger vor sein Gesicht. »Demnächst ist das Verfahren. Sollte Miss Stanislaus dabei fertiggemacht werden, werden Sie erst recht fertiggemacht, das schwör ich Ihnen. Ich mach Sie so verdammt fertig, dass Sie wünschten, Sie wärn nie geboren worden. Ich sorg dafür, dass Sie nie wieder ausm Knast rauskommen, denn ich kann beweisen, dass Sie die Leiche des alten Mannes in einem Ihrer Boote nach White Island geschafft haben. Sie sind wahrscheinlich der Einzige hier, der es bei Nacht mit dem gefährlichen Gewässer da draußen aufnehmen kann. Und dann die Tasche – Sie mussten Ihre schöne teure Fischtasche nehmen, weil Sie sicher gemerkt haben, dass eine Leiche sich wehren kann. Vier schwere Gliedmaßen und ein Kopf, die einfach nicht so liegen bleiben, wie sie sollen. Eine Leiche hilft einem nicht dabei, sie zu heben oder zu bewegen, es ist, als würd sie Widerstand leisten. Wenn man sie zieht, ist sie schwer wie Beton, stimmt’s? Und sie hinterlässt eine Schleifspur aus Blut oder Scheiße oder beidem. Also mussten Sie sie in Ihre Delphintasche packen. Das Erste, was man in der Rechtsmedizin lernt, Mibo – ein menschlicher Körper, ob tot oder lebendig, hat immer eine Geschichte zu erzählen.«
Meine Kehle war auf einmal so zugeschnürt, dass ich schwer schlucken musste.
Mibo rutschte auf seinem Stuhl herum. Ich sah die Anspannung in seiner Miene, die Angst. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er wahrscheinlich den kommenden Tag nicht überleben würde, wenn ich mit Benna über all das spräche. Wie Chilman gesagt hatte, brauchten die Leute auf Kara Island keine Polizei. Regulierende Kräfte, die mächtiger waren als wir, regierten diese Insel, ein System aus Recht und Vergeltung, in das ich durch die alte Frau, die selbst ein mürrischer Knacker wie Tomas zu fürchten schien, einen flüchtigen Einblick erhalten hatte. Ich nahm einen von den Kulis und zeigte damit auf den Notizblock mit dem Briefkopf der Polizei von Camaho. »Ich will eine unterschriebene Aussage von Ihnen, in der Sie zugeben, dass all Ihre Behauptungen über Miss Stanislaus und die Anschuldigungen gegen sie auf Hörensagen beruhen. Mit anderen Worten, reine Erfindung sind! Sie werden erklären, dass Sie einen persönlichen Groll gegen Miss Stanislaus hegen – denken Sie sich was aus, wenn’s sein muss – und keinen Grund haben, an unserem Bericht über die Ereignisse in jener Nacht, als Juba erschossen wurde, zu zweifeln.«
Ich stand auf und blickte auf ihn herab. »Wenn ich nicht zufrieden bin, lass ich Sie alles noch mal schreiben. Und danach hätt ich noch ein paar Fragen dazu, auf wessen Anweisung Sie sich über die Vorschriften hinweggesetzt und Ihre persönliche Meinung zu einem Polizeieinsatz direkt danach im Radio geäußert haben. Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde Zeit.«
Erschöpft trat ich aus dem winzigen Betonkasten hinaus ins Freie. Die Hitze war erstickend, unerträglich.
Nach einer halben Stunde ging ich wieder hinein, meinen zusammengerollten Gürtel in der Hand.
Mibo hatte seine Aussage natürlich niedergeschrieben, für alle Fälle. Doch er würde sie mir nicht überlassen, wenn er es irgendwie verhindern konnte. Zu viel zu verlieren. Das war mir von vornherein klar gewesen.
Mit der Tastatur in der Hand stürzte er sich auf mich, schwang sie in mörderischer Absicht gegen meinen Kopf. Ich duckte mich und machte einen Rückzieher zur Tür, doch beim Anblick der erhobenen Waffe in meiner Hand war er es, der rückwärts stolperte.
»Okay, der Schrieb ist fertig«, sagte ich. »Jetzt zu unserer Unterhaltung.«
Ich verbrachte anstrengende drei Stunden mit Mibo, rang die ganze Zeit mit einem Lügner. Falschheit und Verstellung troffen so selbstverständlich aus ihm heraus wie der Schweiß, der ihm übers Gesicht lief. Doch ich lernte schnell, ihn zu durchschauen. Bevor er log, leckte er sich über die Lippen. Sein fest von der Faust umschlossener Daumen war ein sicheres Zeichen dafür, dass er bei der Frage, mit der ich ihn traktierte, dichtmachen oder Angst bekommen würde. Ich erfuhr viel durch das, was er nicht sagte. Miss Stanislaus wäre stolz auf mich gewesen.