Ich fuhr durch Dessies Tor, parkte und betrachtete mich prüfend im Rückspiegel. Ein blütenweißes Hemd mit offenem Kragen, das Dessie selbst ausgesucht hatte, dazu eine sorgfältig gebügelte Hose.

Sie wohnten in einem dieser alten Kolonialhäuser, ganz aus Holz gebaut, überall Giebel und Erker und vorne eine Veranda mit Gitterwerk und Flügeltür. Es war so konstruiert, dass es viel Licht und Luft hereinließ, von einem sanft abfallenden Rasen umgeben, der hier und da von Hybridmangos, Zwergkokospalmen, Zwetschgen- und Kirschpflaumenbäumen beschattet wurde.

Mrs Shona Manille begrüßte mich auf der Treppe. Ihr baumwollweißes Haar war zu einem hohen Schopf frisiert, wie man es häufig bei Damen mittleren Alters in Hochglanzmagazinen sah.

»Michael?«, sagte sie. »Wir kennen uns ja bereits. Sie sind hübscher, als Dessie Sie beschrieben hat. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Ich betrat eine geräumige Diele mit glänzendem Holzfußboden. Sah einen Tisch, gedeckt mit einer Phalanx von blinkendem Besteck zu beiden Seiten der Teller.

Raymond Manille, der Vater, ein großer, schlanker Mann, hellbraun wie mein eigener Vater. Graugrüne Augen und nicht ganz europäische Haare, die wahrscheinlich durch lebenslanges aggressives Striegeln zu einer passablen Glätte gezwungen worden waren.

»Michael Digson?« Er gab mir die Hand wie bei einem Business-Meeting. Bohrender Blick in mein Gesicht, als würde er jede Pore begutachten. »Schön, dass Sie da sind.«

Dessie kam die Treppe herunter, sagte schüchtern »Hallo« und platzierte sich neben ihre Mutter. Offensichtlich war ich auf mich allein gestellt.

Raymond Manille wies mich zu einem Stuhl. Ich saß Dessie gegenüber, die mich kaum ansehen konnte.

Mrs Manille fächelte sich Luft zu, beklagte das Wetter und fragte mich nach meiner Arbeit.

Raymond Manille erkundigte sich nach meiner Ausbildung, wartete die Antwort nicht ab, sondern sah zur Tür und rief: »Mildred?«

Eine Frau mit Schürze rollte von irgendwo hinten einen Speisewagen herein und servierte uns Suppe.

»Bitte, Mister Digson«, forderte Raymond Manille mich mit einer Geste auf.

Das war natürlich ein Test. Ich war gut in Tests. Ich bereitete mich auf sie vor, hatte eben noch das Wichtigste unterwegs im Auto memoriert.

Die Reihenfolge des Bestecks richtete sich nach der Reihenfolge der Gänge, man begann von außen und arbeitete sich nach innen zum Teller vor. Ausnahmen: Das Buttermesser durfte auf dem Brotteller liegen und das Dessertbesteck über dem Teller, parallel zur Tischkante.

Gutes Essen immerhin – Kürbis und Süßkartoffeln von ihrem eigenen Gut irgendwo im Inland, zu einem unwahrscheinlich glatten Mus geschlagen. Gemüse, das vertraut schmeckte, aber fremd aussah in seiner dekorativ geschnitzten Form. Entgräteter und marinierter Fisch. Salat, der wie ein Blumenstrauß in einer polierten Holzschüssel prangte.

Mister Raymond fragte mich erneut nach meinem Beruf. »Verbrechensaufklärung«, antwortete ich. »Ich mache das seit drei Jahren.«

»Dessie sagt, Sie hätten sich in England spezialisiert? War das nicht recht anspruchsvoll?« Mrs Manille verschränkte ihre schönen Hände wie zum Gebet vor dem Gesicht, senkte ein wenig das Kinn und zwinkerte mir einmal langsam zu.

Ich legte mein Besteck ab, betupfte meinen Mund mit der Serviette. Dann hielt ich Mr Manille einen kleinen Vortrag über die Komplexität forensischer Pathologie, über Thanatologie und die entscheidenden Durchbrüche, welche die forensische Osteologie Vertretern meines bescheidenen Berufs ermöglichte.

»Einen Abschluss haben Sie aber nicht«, sagte er.

»Das stimmt, Sir. Noch nicht. Aber ich bin gut in meinem Beruf, und ich kann Englisch so korrekt sprechen wie sonst wer auf dieser Insel. Falls das ein Parameter ist, nach dem man einen Menschen beurteilen sollte.« Ich sah ihm ins Gesicht. »Mit Verlaub, Sir – ich dachte, ich bin hier zum Mittagessen eingeladen?«

»Entschuldigung«, sagte er. »Sie haben recht. Dessima ist meine einzige Tochter, vielleicht bin ich etwas überbehütend.«

Mrs Manille steuerte uns mit einer Reihe von munteren, mit Ausrufen durchsetzten Bemerkungen über Gartenarbeit in den Tropen und den Klimawandel durch den Rest der Mahlzeit.

Die ganze Zeit spürte ich Raymond Manilles Augen auf mir.

Er lud mich ein, mit ihm hinaus in den vorderen Garten zu gehen, machte mich auf die Cattleya-Orchideen und Schmetterlingsjasminbüsche aufmerksam, die so viel von Shonas Zeit beanspruchten.

»Digson, den Namen habe ich noch nie gehört. Sind Sie mit den Dobsons verwandt, denen aus Morne Bijoux? Dessie hat Ihnen sicher erzählt, dass sie mit Luther Caine verheiratet war, dem ehemaligen Manager der Camahoer Co-op-Bank? Er hat jetzt eine gut gehende Bootswerkstatt. Wir bedauern alle, dass es nicht funktioniert hat.«

»Sie meinen, weil der Mann Dessie zweimal beinahe in den Tod getrieben hätte? Verzeihen Sie, Sir, Sie stellen mich die ganze Zeit so hin, als wäre ich wegen Ihres Geldes hinter Ihrer Tochter her. Ich weiß nicht, welchen Eindruck sie Ihnen vermittelt hat, aber ich habe mein eigenes Haus, und ich habe Pläne. Wenn Dessie nicht den Mumm hat, auf eigenen Füßen zu stehen, dann verschwendet sie meine und Ihre Zeit, indem sie mir das hier zumutet, denn ich werde nicht mit einer Frau zusammen sein, deren Eltern über unser Leben bestimmen wollen. Vielen Dank für die Einladung, aber ich muss jetzt gehen.«

Shona Manille fing mich beim Auto ab. »Mister Digson, so ist er zu allen. Bei Luther war es genauso beim ersten Mal.«

»Dann sollte er langsam mal bessere Manieren lernen, oder? Ich lasse mir so was nicht bieten. Und was Familiennamen angeht, so sind wir allesamt auf einem Schiff hierhergekommen, soweit ich weiß, und das war keine Passage erster Klasse.«

Ich fuhr zu Dessie herum, die mir ebenfalls nachgelaufen war. »Und was war mit dir los am Tisch? Hattest du deine Zunge verschluckt? Bist du nicht in der Lage, für deinen Freund einzustehen?«

Mrs Manille entschuldigte sich und schwebte zurück ins Haus. Nach einer Weile rief sie mit ihrer singenden Stimme nach Dessie.

»Wart kurz, Digger, ja? Bitte.«

Es dauerte eine Zeitlang, dann kam sie mit einem kleinen, undeutbaren Lächeln auf den Lippen wieder heraus. »Er geht gleich weg. Zum Golfen. Mom bittet dich zu bleiben.«

Raymond Manille kam in Shorts, Polohemd und Sandalen aus dem Haus und richtete den Schlüssel auf seinen Hyundai. Der Wagen gab einen erschrockenen Laut von sich. Mit einem knappen Lächeln in meine Richtung schwang er sich hinters Steuer und rollte davon.

»Er hat zu Mom gesagt, er glaubt nicht, dass er dich mag, aber du hättest Mut.« Sie verdrehte die Augen. »Das hätte ich ihm auch sagen können. Er hätte mich bloß fragen brauchen.«

»Hättest du, hast du aber nicht«, sagte ich. »Dessie, ich muss los. Ich will mich noch mit jemandem treffen.«

Das Essen und das Gespräch mit Raymond Manille lenkten meine Gedanken wieder auf meinen Vater, den Polizeichef. An meine Geschichte mit ihm als seinem »außerehelichen« Kind oder vielmehr an das Nichtvorhandensein einer Geschichte.

Ihm war zu Ohren gekommen, dass Dessie und ich »miteinander gingen«. Wieder dieselbe alte Leier von ihm: Wenn sie wüssten, dass ich sein Sohn war, würde mir das helfen.

»Wobei helfen?«, hatte ich gefragt, als er anrief. »Ich trage den Namen der Frau, die sich krummgeschuftet hat, um mich großzuziehen. Keine verspätete Unterstützung von Ihrer Seite wird daran etwas ändern. Entweder nehmen sie mich, wie ich bin, oder zum Teufel mit ihnen.«

Nachdem ich von Dessie weggefahren war, rief ich Miss Blackwood an. Ob sie mit mir etwas trinken gehen würde. Sie reagierte zögerlich auf das Lokal, das ich vorschlug.

»Zu gewöhnlich für Sie?«

»Ist nichts, wo ich normalerweise hingehe. Wie wär’s mit dem Saint Eloi in meiner Gegend? Heute Abend?«

Wir fuhren ein Stück nach Norden zu dem kleinen Restaurant mit freiem Blick auf Salt Point und den Flughafen. Um uns herum lauter Camahoerinnen mittleren Alters aus der Mittelschicht mit silbergetönten Dauerwellen und gefällig geglätteten Akzenten. Wir unterhielten uns bei einem Teller mit gegrillten Auberginen und Zucchini, frittierten Bananen und Brotfruchtscheiben.

»Kochen Sie?«, fragte sie.

»Die Leute mögen mein Essen.«

»Und wer sind ›die Leute‹?«

»Die, für die ich koche. Was macht der Golfplatz?«

»Ich bin wieder zu Hause, hab beschlossen, vor niemandem davonzulaufen. Wie läuft’s mit den Ermittlungen?«

»Shadowman hat Jana Ray ermordet. Ich war hinter ihm her, er ist mir entkommen, beim nächsten Mal entkommt er mir nicht«

»Sie sehen nicht aus wie diese Sorte Polizist.«

»Wie soll ein Polizist denn aussehen?«

Miss Blackwood zuckte die Achseln und legte ihr Besteck ab. »Ich würde ihn selbst umbringen, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.« Sie schob die Serviette auf ihrem Schoß zurecht. »Ich war zehn Jahre lang verheiratet. Mein Mann hat mich an einem Sonntag verlassen. Das Letzte, was er zu mir sagte, war, dass ich kalt sei. Manchmal habe ich gehört, wie meine Mitarbeiter das Gleiche sagten. Und es stimmte. Dann ist Jana Ray auf meiner Veranda aufgetaucht und wollte mir Marihuanaöl verkaufen. Wär ein Heilmittel für alles, meinte er. Ich sagte, ich sei nicht krank und hätte auch nicht vor, es zu werden. Und dann sagte er ›bitte‹, und ich merkte, wie verzweifelt er war. Er kam wieder und dann, na ja, wurde Liebe draus. Bei ihm …«

»Waren Sie nicht kalt, ich weiß. Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun, Miss Blackwood. Haben Sie Freunde bei den anderen Banken?«

»Kommt auf die Bank an.«

»Camahoer Co-op? Nicht die leitende Managerin. Ich denke eher an jemanden auf Ihrer Ebene.«

»Ja-ha?« Sie war vorsichtig, beinahe misstrauisch geworden.

»Es hat mit Jana Rays Tod zu tun. Sie kennen Dora Wilkinson, Lazar Wilkinsons Mutter. Vor ein paar Wochen wurden zweiundzwanzigtausend Dollar auf ihr Konto überwiesen. Ich möchte überprüfen, woher das Geld kam. Und es gibt noch ein paar Konten, die ich mir ansehen will.« Ich riss ein Blatt von meinem Notizblock ab, schrieb die Namen darauf und schob es ihr hin. »Kennen Sie jemanden dort, der das für Sie tun kann, abgesehen von der Filialleitung?«

»Können Sie das nicht direkt machen?« Sie wirkte beunruhigt.

»Hab ich versucht.«

»Und?«

»Ich bitte Sie, das für mich zu übernehmen. Bitte! Wenn nicht für mich, dann für Jana Ray. Möchten Sie noch was trinken?«

Sie nickte und steckte den Zettel in ihre Handtasche.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit klopfte eine smart gekleidete junge Frau an unsere Bürotür und fragte nach Mister Michael Digson. Ich erinnerte mich an ihr Gesicht – eine der Kassiererinnen in Miss Blackwoods Bank. Sie gab mir einen zugeklebten Umschlag, machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinaus auf die Straße.

Drei getippte Zeilen:

Ich schrieb Blackwood eine SMS. Danke! Wer verwaltet das Kto?

Eine Stunde später antwortete sie: Managerin.