Prolog
Berlin. An einem kühlen Apriltag 2005 …
Das Warten erschien ihm von Minute zu Minute unerträglicher. Sein Herz raste vor Verlangen. Doch er zwang sich, die Vorfreude auf ihren nackten, entstellten Körper zu zügeln und sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren.
Er lehnte an der Tür seines Campingbusses, zog nervös an seiner Zigarette und ließ seinen Blick ziellos über die heruntergekommenen Hausfassaden schweifen.
Noch einmal rief er sich jenen Freitagnachmittag vor sechs Wochen in Erinnerung, an dem Franziska Hoffmann in dem Schnellrestaurant am Alexanderplatz seine Bestellung entgegengenommen hatte. Hoffmann war das, was man als graue Maus bezeichnete. Doch in ihm hatte sie von der ersten Sekunde an jenes immer wiederkehrende Bild hervorgerufen, das ihm sagte: Sie wird die Richtige sein. Wird die Nächste sein …
»Hallo? Möchten Sie etwas bestellen?«, hatte sie ihn zum wiederholten Male gefragt, während er geistesabwesend auf das Namensschild über ihrer Brust gestarrt und sich hinter ihm bereits eine Schlange gebildet hatte.
Im Nachhinein hatte er sich gefragt, ob er sich das nur eingebildet hatte oder ob sich sogar die Stimmen ähnelten …
Von jenem Tag an war er Franziska Hoffmann auf Schritt und Tritt gefolgt. Er hatte angefangen, ihren Tagesablauf zu studieren. Ihre Hobbys und Gewohnheiten. Hatte sie im Fitness-Studio beobachtet. Kannte ihr Elternhaus. Ihren Freundeskreis. Hatte ihre Post aus dem Briefkasten gefischt und ihren Müll durchsucht. Er wusste, welche Zeitschriften sie las und bei welchem Pizzaservice sie bestellte, welches Parfum sie benutzte, welches Hundefutter sie kaufte, welche Nassrasierer, Slipeinlagen und Kondome sie benutzte. Und er wusste, dass sie an diesem Tag um Viertel nach zwei von ihrer Frühschicht im Virchow-Krankenhaus kommen würde. Wie immer würde sie ihren Zwergpinscher ausführen, bevor sie ihren Nebenjob im Schnellrestaurant antrat.
Der abgelegene Parkplatz, auf dem er seinen Bus im Schutz eines Bauschuttcontainers abgestellt hatte, lag ganz in der Nähe von Franziska Hoffmanns Wohnung.
Und auf ihrem Rückweg von der Hundewiese.
Der Mann warf einen weiteren Blick auf die Uhr und holte tief Luft, als ein Kläffen ihn aus den Gedanken riss. Augenblicke später bog Franziska Hoffmann um die Ecke. Mit seinem Stiefel trat er die Zigarette aus, zog seine Baseballkappe tief ins Gesicht und begann am Fahrradträger des Campingbusses herumzuwerkeln.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie das marineblaue Kleid trug, das er schon einmal an ihr gesehen hatte. Es betonte ihre schmalen Hüften und stand ihr ausgesprochen gut. Ihre schulterlangen haselnussbraunen Haare wehten im aufkommenden Wind, und es waren nur noch wenige Meter, bis die junge Frau den Parkplatz erreichen würde.
Die Show konnte beginnen.
Der Mann täuschte einen heftigen Hustenanfall vor, rang nach Luft, bis ihm das Blut in den Kopf schoss und seine Adern an Hals und Stirn hervortraten. Sein Ächzen steigerte sich zu einem hilflosen Röcheln. Er lehnte mit der Schulter an dem Bus, fuhr mit der Hand in die Bauchtasche seines Anoraks und umfasste das Messer. »O Gott, mein Herz! Mein HERZ!«, keuchte er und fasste sich an selbiges, als wollte er es sich aus der Brust reißen.
Als ihn die junge Frau bemerkte, zögerte sie keine Sekunde und eilte ihm zu Hilfe.
Natürlich tat sie das, hatte sie doch keinen Grund, es nicht zu tun. Sie war Krankenschwester, es war helllichter Tag, der Parkplatz lag nicht einmal hundertfünfzig Meter von ihrer Wohnung entfernt. Und nicht zuletzt ging es hier um ein Menschenleben.
Um ein Menschenleben!
Wie hätte sie auch ahnen können, dass es um ihr eigenes ging?
»Um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut?« Neben ihr kläffte der Zwergpinscher. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
Statt einer Antwort brachte der Mann nur ein heiseres Keuchen heraus, schien das Gleichgewicht zu verlieren und taumelte dicht an Franziska Hoffmann heran. Diese zückte ihr Handy, um die Nummer des Notrufs zu wählen. Doch das wusste er durch eine weitere dramatische Herzattacke, bei der er sie so heftig anrempelte, dass ihr Handy zu Boden fiel, gerade noch zu verhindern. Gäbe es einen Oscar für den besten Herzanfall, er hätte ihn sicher verdient.
Danach ging alles ganz schnell. Scheinbar mit dem Tod ringend, schlang er seinen linken Arm um die schmächtige Frau, als wolle er sich auf sie stützen. Mit seiner Rechten stach er blitzschnell zu. Einmal. Zweimal. Direkt in die Magengrube.
Franziska Hoffmann brach sofort in sich zusammen.
Für einen entfernten Beobachter muss es ausgesehen haben, als krümme sie sich unter der Last seines Gewichts. Und ehe sie sich’s versah, hatte er sie bereits in seinen Campingbus gezerrt.
***
Momente später kauerte die zierliche Frau, keuchend vor Schmerz und an Händen und Füßen mit einer starken Kordel gefesselt, auf dem mit heller LKW-Plane bespannten Bett. Es befand sich im hinteren Teil des abgedunkelten Busses, in dem neben Fläschchen mit verschiedenen Chemikalien unzählige Klosteine verstreut lagen. Sie sollten den Geruch von Angst und geronnenem Blut mit einem beißenden Zitrusgeruch übertünchen.
Der Mann sank dicht neben die junge Frau auf das Bett.
»Nein, b-bitte tun Sie mir nichts!«, flehte die Krankenschwester. Ihre Stimme zitterte so stark, dass die Worte kaum zu verstehen waren.
Dünne Lichtstrahlen sickerten vereinzelt durch die zugeklebten Fenster, gerade ausreichend, um seine neueste Errungenschaft in Augenschein zu nehmen. Noch stand sie zu sehr unter Schock, um den Schmerz wahrzunehmen.
Aber das sollte sich schon bald ändern …
Der Mann schob den winzigen Pinscher, der ihnen in den Bus gefolgt war, mit dem Messer brutal beiseite, so dass dieser winselnd aus dem Campingwagen schnellte.
Dann schloss er die Tür. Franziska Hoffmann lag vollkommen starr auf dem Rücken. Ihr Atem ging stoßweise. Der Stoff ihres marineblauen Kleids färbte sich rund um die Einstichstellen dunkel, fast schwarz. Das Blut rann in feinen Bahnen über die Plane.
Gott, wie sehr er diesen Anblick liebte! Dieses Gefühl unendlicher Macht, die er über dieses kümmerliche Leben besaß. Er hoffte inständig, keine Hauptschlagader getroffen zu haben – das hübsche Fräulein Hoffmann sollte noch etwas durchhalten und ihm keinesfalls zu früh wegsterben.
»Bitte! I-ich habe kein Geld bei mir!«, keuchte sie. Kopfschüttelnd lachte der Mann. Warum dachten eigentlich immer alle, es ginge ihm ums Geld? »Pschhhh … ganz ruhig!«, hauchte er ihr ins Ohr, griff ihr ins Haar, schlang es sich um seine Faust und setzte ihr die scharfe Klinge an die zierliche Kehle. Übte leichten Druck auf ihre Haut aus, gerade so viel, dass die Klinge noch nicht einschnitt. »Ein Mucks und du bist tot, verstanden?«
Sie nickte zaghaft.
»Wenn du tust, was ich dir sage, wird dir nichts geschehen …«
Irgendwie glaubten sie ihm das immer, was die Sache erheblich erleichterte.
Wieder ein leichtes Kopfnicken.
»So ist gut … meine süße, kleine Franziska«, sprach er leise, fast flüsternd und sog den Geruch ihrer frisch gewaschenen Haare ein. Er spürte, wie sein Puls zu rasen begann, während die Klinge seines Messers ganz langsam den Hals der Frau hinabfuhr. Über ihr Dekolleté streifte.
Stumme Tränen liefenFranziska Hoffmanns Wangen hinab, während sie die Augenlider so fest aufeinanderpresste, dass sich ihr ganzes Gesicht verzerrte. Sie zitterte am ganzen Leib, als er mit dem Messer über ihren flachen Bauch fuhr … unter ihren Rock. Die Frau zuckte zusammen, als er ihre schwarzen Nylons zerschnitt. Den zarten Stoff ihres Slips.
»Schon mal von einem Messer gefickt worden?« Er stierte in ihre weit aufgerissenen Augen.
»Nein! BITTE! Bitte nicht!«, krächzte sie. »Ich flehe Sie an, lassen Sie mich gehen – ich werde Sie auch ganz bestimmt nicht verraten!«
Seine Lippen umspielte ein süffisantes Grinsen. »Was du nicht sagst …« Er liebte dieses herrliche Spiel mit der Angst und hätte es noch ewig weiterspielen können, doch es war höchste Zeit, zu verschwinden. Er durfte kein Risiko eingehen, hatte sich hier ohnehin schon viel zu lange aufgehalten. Und so zwang er sich, vernünftig zu sein und sich noch eine Weile zu gedulden, ehe er mit seiner Prozedur beginnen würde.
Er legte das Messer weg und verschloss ihr mit einem breiten Klebebandstreifen den Mund. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, da Franziska Hoffmann ohnehin nicht geschrien hätte. So wie die meisten, die die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgaben, doch noch mit dem Leben davonzukommen, wenn sie gehorchten.
Dann tauschte er seine blutbespritzten Klamotten gegen ein frisches T-Shirt und eine saubere Jeans und ging nach vorn zur Fahrerkabine, die durch einen Vorhang abgetrennt war.
Mit dem zufriedenen Lächeln eines treusorgenden Familienvaters lenkte er den Bus auf die Straße und steuerte jenen Ort an, an dem er sich Franziska Hoffmann in den nächsten Tagen ungestört widmen konnte, bevor er sie der Öffentlichkeit präsentierte.
***