Zwei Monate später.

Freitagabend, 3. Juni …

Das kleine Café am Ende der Mulackstraße war brechend voll. Ein eigenes Café zu besitzen war schon immer Laras Traum gewesen.

Nach der Trennung von Raffael sollte es ihrem Leben wieder einen Sinn geben. Sie vor neue Herausforderungen stellen.

Die Eröffnungsparty war Torbens Idee gewesen. Er war Gerichtsmediziner an der Berliner Charité und ihr bester Freund. Ihre bessere Hälfte, wie sie manchmal scherzhaft sagten. Und seit dem Tod ihrer Eltern ihr einziger Vertrauter.

Während Lara sich fragte, ob er auch Raffael eingeladen hatte und dieser auch kommen würde, lenkte sie sich mit belanglosem Smalltalk über die zunehmende Sanierung der Stadt ab, sagte »Hallo, schön, dass Sie gekommen sind« zu ankommenden Gästen, sagte »Ach wirklich? Klingt ja interessant« zu denen, die bereits da waren, und »Danke fürs Kommen« zu jenen, die sich verabschiedeten.

Unwillkürlich zog es ihren Blick dabei immer wieder zum Eingang. Gerade so, als ob Raffael doch noch kommen würde, wenn sie nur oft genug zur Tür starrte.

Er kam. Er kam spät, aber er kam. Und er kam allein, was Lara mit immenser Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Rasch wandte sie sich ab, als habe sie ihn nicht bemerkt.

»Hallo, Lara, wunderschön siehst du aus«, begrüßte er sie, als er Augenblicke später in Jeans und einer dünnen Lederjacke hinter ihr stand.

Nun, da ihr Exmann gesagt hatte, was sie hören wollte, wünschte sich Lara nichts lieber, als dieses verflucht enge, schulterfreie Kleid, das er immer so gerne an ihr gesehen hatte, gegen ein weites T-Shirt und eine bequeme Jeans einzutauschen. Selbst nach so vielen Jahren wollte sie ihn immer noch beeindrucken.

»Sieh an, du hast es also noch geschafft«, gab Lara die Überraschte.

»Alles Gute für dich und dein Café«, sagte er und reichte ihr einen Strauß Blumen.

Chrysanthemen. Er wusste es immer noch. Als sie noch ein Paar waren, hatte er ihr jeden Freitag einen Strauß mitgebracht; später nur noch an jedem zweiten oder dritten. Und irgendwann gab es gar keine Sträuße mehr.

»Danke«, sagte Lara und roch an den Blumen. »Wie wär’s mit einem Glas Sekt?«

»Nur deshalb bin ich hier«, meinte Raffael grinsend und spähte zu dem attraktiven Kellner, der mit einer Zigarette im Mund untätig hinter der Theke stand und jetzt zu ihnen herüberstarrte. »An deinem Personal solltest du allerdings noch arbeiten – es sei denn, deine Gäste sollen verdursten. Aber, lass nur, ich hole uns zwei Gläser«, stichelte er und verschwand in der Menge, ehe Lara etwas entgegnen konnte.

»Alles in Ordnung?«

Die Frage stellte Torben Landsberg.

»Sicher«, seufzte sie.

»Hehe, lass dich nicht wieder auf die alten Spielchen ein, heute ist dein großer Abend«, meinte Torben, ihrem Blick zu Raffael folgend. »Sieh dich um, die Leute amüsieren sich prächtig – und du solltest das auch!«

Lara bemühte sich zu lächeln. »Immerhin hat er den Anstand besessen, alleine zu kommen, ohne diese … diese …«

»Ach was, die ist doch längst Schnee von gestern«, entgegnete Torben, der genau wie Lara stets ein Händchen für den falschen Mann und unglückliche Liebschaften bewiesen hatte.

Nach ihrer Scheidung von Raffael war Torben für sie mehr denn je der Mann mit der starken Schulter zum Ausweinen gewesen.

»Apropos Spaß …«, grinste er und sah verzückt zur Theke. »Wer ist dieser hübsche Kerl mit der Schürze?«

»Ach, das ist nur Daniel.« Die Tatsache, dass er sie noch immer anstarrte, wurde ihr allmählich unheimlich. »Meine Aushilfe.«

Torben schmunzelte. »So, so. Von dem würde ich mich auch gern mal bedienen lassen …«

Lara unterdrückte ein Grinsen. »Vorsicht, an dem verbrennst du dir die Finger – Daniel ist stockhetero.«

»Hm, zu schade … Kennst du ihn schon länger?«

»Nö«, flunkerte sie. Gute Freunde erzählen sich zwar vieles, aber eben nicht alles.

»Du hast diesen Daniel aber nicht zufällig eingestellt, um Raffael eifersüchtig zu machen?«

»Nein, nein, Daniel hat sich erst vor ein paar Tagen um die Stelle beworben. Und …« 

»Und da dachtest du, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen kann nie schaden.«

»Bin ich wirklich so durchschaubar?« Lara lachte und sah wieder zu Raffael, der sich inzwischen mit einer kleinen Blonden unterhielt, die ungefähr halb so alt war wie er.

Da hätte ich ja lange auf meinen Sekt warten können.

Sie fragte sich, ob Raffael es darauf anlegte, sie zu provozieren, als Torben plötzlich ein in buntes Papier eingeschlagenes Geschenk hinter seinem Rücken hervorholte. »Taraaa, das ist für dich!« Er nahm Lara die Blumen ab, während sich auf ihrem Gesicht ein erwartungsvolles Grinsen ausbreitete und sie das Papier aufriss.

»Ein Elektroschocker?« Sie lachte laut auf, als sie bemerkte, dass Torbens makabres Präsent die Blicke der umstehenden Partygäste auf sich gezogen hatte.

»Falls das eine Warnung sein soll, mich vor dir in Acht zu nehmen …« 

»Vor mir? Vielleicht, wenn du ein Kerl wärst …«, wandte er scherzhaft ein und wartete vergeblich darauf, dass Lara sein Lächeln erwiderte. »Ich dachte, dir als frischgebackener Café-Besitzerin kann so ein Ding nicht schaden – schließlich weiß man nie, wer da so hereingeschneit kommt … Und dann diese schrecklichen Morde in letzter Zeit«, murmelte er kopfschüttelnd. »Erst der grausam zugerichtete Leichnam dieser Rechtsanwältin, dann die Flugbegleiterin und zuletzt noch die junge Krankenschwester … Hast sicher davon gehört, aber glaub mir, ich hatte die Damen auf meinem Seziertisch, und der Anblick war alles andere als …« Lara brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Jeder in Berlin hat davon gehört, Torben. Aber das ist kein Thema für den heutigen Abend.«

Er biss sich auf die Unterlippe. »Ups, sorry, ich vergesse wohl manchmal, dass das kein Party-Thema ist.«

Lara bedankte sich mit einer Umarmung für den Elektroschocker und ließ diesen mit einem Lächeln in ihrer Handtasche hinter dem Tresen verschwinden, während die umstehenden Gäste ihre Gespräche wieder aufnahmen. »Was soll’s, lass uns anstoßen«, meinte Lara und winkte Daniel heran. »Trinken wir auf das Café und darauf, dass ich dein kleines Präsent niemals brauchen werde.«

Daniel war gerade dabei, die Gläser zu füllen, als Lara ihren Vermieter in der Menge auf sich zusteuern sah. Die Glatze so rot wie die Karos auf seiner Krawatte, die er schon bei Vertragsunterzeichnung getragen hatte. Fast hätte Lara vergessen, dass sie ihn eingeladen hatte.

»Guten Abend, Frau Simons.«

»Herr Eberts, schön, dass Sie kommen konnten.« Lara schüttelte seine ausgestreckte Hand und wollte ihn gerade mit Torben bekannt machen, da blieb Daniel mit einem Tablett Sektgläser neben ihnen stehen. »Lara, kann ich dich mal kurz in der Küche sprechen?«

»Äh, ja klar«, meinte sie und unterdrückte ein Seufzen, als ihre Augen unwillkürlich über Daniels Schulter hinweg zu Raffael und der Blonden huschten. Achtzehn. Höchstens neunzehn.

»Moment bitte.« Sie ließ Eberts und Torben stehen und schlängelte sich hinter Daniel an den umstehenden Gästen vorbei Richtung Küche.

»Oh, Lara …« Raffael sprach sie im Vorbeieilen an und streckte ihr schuldbewusst ein Glas Sekt entgegen.

»Nein, danke. Deinen abgestandenen Sekt kannst du behalten.« Sie klang hörbar gereizt. Und mehr um ihm die Tour zu vermasseln, fragte sie: »Ach, bevor ich’s vergesse, könntest du Emma am Montag von der Schule abholen? Ich krieg das mit dem Café nicht unter einen Hut.«

Raffael musste schmunzeln. Kurz überlegte er, was er darauf antworten sollte. »Was soll ich?«

»Ob du unsere Tochter am Montag von der Schule abholen könntest«, wiederholte sie so laut, als hätte sie es mit einem Schwerhörigen zu tun.

»Nein, nein – das Wort meine ich.«

Sie hasste ihn. »Ob du sie bitte abholen könntest.«

Er lächelte. »Na, wenn du mich so nett fragst …«

Lara schenkte ihm ein bissiges Grinsen und warf einen flüchtigen Blick auf das Blondchen, das mit glühenden Wangen zwischen ihnen stand.

»Vielleicht gehen sie ja auf dieselbe Schule, dann kannst du gleich beide nach Hause fahren.« Raffael schob das Kinn vor und grinste blöd. Kaum hatte Lara die Tür zum Gastraum hinter sich zugezogen und sich umgedreht, stand wie aus dem Nichts Daniel vor ihr.

»Kannst du mir mal verraten, was dein Ex hier verloren hat?«, fragte er aufgebracht.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, sagte Lara, nahm eine Vase aus dem Schrank und stellte die Chrysanthemen hinein, die Torben für sie in die Küche gebracht hatte.

Mit jovialem Lächeln trat Daniel dicht an sie heran.

»Du willst mir unbedingt die kalte Schulter zeigen, was?« Lara wollte ihm gerade ausweichen, da presste er sie plötzlich gegen die Tür und versuchte, sie zu küssen. Mit einer Hand betatschte er ihre Brust, mit der anderen fuhr er ihr in den Schritt.

Lara schlug seine Hände weg.

»Mach das nie wieder!«

»Sonst hat es dir doch auch gefallen …«

Es klopfte an der Tür.

»Lara?«

Torben.

Lara funkelte Daniel wütend an, bis dieser zurückwich.

»Bin gleich da!«, rief sie durch die Tür.

Sie strich ihr Kleid glatt und hörte, wie sich Torbens Schritte wieder entfernten.

»Mach, dass du wegkommst!«, fauchte sie Daniel an. »Und lass dich hier bloß nicht mehr blicken!«

Er warf ihr seine schwarze Schürze vor die Füße.

»Na schön, ganz wie du willst …« Mit ausdrucksloser Miene steckte er sich eine Zigarette an, ließ das brennende Streichholz auf einen Stapel Papierservietten fallen und lief wortlos zur Hintertür hinaus. Die Servietten fingen sofort Feuer.

»Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt!«

Blitzschnell nahm Lara die Vase und goss das Blumenwasser auf die Flammen, bevor diese auf die Holzschränke und den danebenstehenden Karton mit dem Kaffeeautomaten übersprangen. Erst nachdem sie einen ganzen Kanister Wasser darüber ausgeschüttet hatte, gelang es ihr, das Feuer zu löschen. Sie hastete in den Hinterhof und sah im hereinfallenden Licht der umliegenden Wohnungen gerade noch, wie Daniel durch das Gatter zur Straße verschwand.

»Scheißkerl!«, brüllte sie ihm nach und bemerkte, dass sie vor Wut zitterte. Lara lief wieder hinein, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich keuchend dagegen.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder beruhigt hatte und bereit war, zurück auf ihre Party zu gehen.

Die Hintertür schloss sie sicherheitshalber zweimal ab.

***

Noch in derselben Nacht …

Stunde um Stunde hatte er schon im Schutz der Dunkelheit hinter dem Steuer des Taxis gesessen und wie ein lauerndes Tier in das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gespäht. Der bloße Anblick von Lara Simons beschleunigte seinen Puls. Seit Wochen schon verfolgte ihn wieder dieses unsägliche Verlangen, dunkel und zugleich sternenklar wie diese Juninacht.

Gott, wie lange hatte er schon auf diesen Abend gewartet! Sein schweißnasses Unterhemd klebte an seinem Rücken. Er sank im Sitz zurück und spürte, wie sein Schwanz in seiner engen Jeans hart wurde, während er mit dem Zeigefinger über das Messer fuhr und bereits bildlich vor Augen hatte, wie er damit Laras schwarzes, schulterfreies Kleid aufschlitzte. Zitternd würde sie vor ihm liegen, an Händen und Füßen festgeschnallt. Würde um ihr Leben betteln, so wie es bisher noch alle getan hatten.

Nach einigen Tagen würde er die Schlampe dann von ihren Qualen erlösen und ihr den wohlverdienten Todesstoß versetzen. Am Montagmorgen würden die ersten Kunden dann vor verschlossenen Ladentüren stehen. Freunde und Bekannte würden sich allmählich um die spurlos verschwundene Lara Simons sorgen und mutmaßen, ihr sei vielleicht doch alles über den Kopf gewachsen.

Nach den obligatorischen achtundvierzig Stunden würde auch die Polizei mit der Suche beginnen. Dort ginge man, anhand der Indizien, die er ihnen zum Fraß vorwerfen würde, schließlich von einem Gewaltverbrechen aus. Eine Annahme, die sich wenige Tage später bestätigen würde, nachdem man ihren verstümmelten Leichnam an einem Ort seiner Wahl vorgefunden hätte.

Mit leuchtenden Augen sah er die Schlagzeilen in der Presse vor sich … Da öffnete sich die Tür zum Café.

Ein junger Mann verließ mit einer aufgedonnerten molligen Frau an der Hand die Party und entschwand einige Meter weiter in die Nacht.

Wieder zwei Gäste weniger.

Inzwischen kratzte die Perücke, die er unter seiner Baseballkappe trug, so sehr, dass er fast wahnsinnig wurde. Er ließ das Messer in der Bauchtasche seines Kapuzenpullis verschwinden, zündete sich die elfte oder zwölfte Zigarette an und ging im Kopf ein letztes Mal die nächsten, alles entscheidenden Schritte durch. Denn in der Routine lauerte die Nachlässigkeit und in der Nachlässigkeit lauerten Fehler – niemand wusste das besser als er.

Zu viel stand für ihn auf dem Spiel, als dass er sich auch nur den allerkleinsten Fehler erlauben durfte. Er schloss die Augen und trommelte aufs Lenkrad, als es plötzlich an der Scheibe pochte. Im Augenwinkel erkannte er die Silhouetten zweier Gestalten. Der Mann und die Mollige. Reflexartig zog er seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und rauchte seelenruhig weiter. Erst nach einem erneuten, heftigeren Klopfen drückte er die Zigarette in der Mittelkonsole aus und ließ die Scheibe ein Stück weit herunter.

»Entschuldigung, sind Sie frei?« Der junge Mann stützte sich mit einer Hand am Dach des Mercedes ab und beugte sich mit einem breiten, einnehmenden Zahnpastalächeln zum offenen Fenster hinunter.

»Nein, bin ich nicht.«

»Wirklich nicht? Ihr Taxilicht ist an, und da dachte ich …«

»Bist du taub? Ich hab NEIN gesagt! NO! NIENTE! Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst!«

Nach Luft schnappend, riss der junge Mann die Hände hoch, als richte man eine Pistole auf ihn.

»Okay, okay!« Er nahm die Mollige bei der Hand und zerrte sie fluchend davon.

Weise Entscheidung …

Kaum waren die beiden an der nächsten Straßenecke verschwunden, starrte der Mann wieder zum LARAs hinüber. Nur noch eine Handvoll Gäste leerte die letzten Gläser. Bald sind auch die weg, dann wird die Schlampe ihren Laden absperren und sich auf den Heimweg machen. Er leckte sich die Lippen und fuhr sich mit der Hand in den Schritt.

Lange kann es nicht mehr dauern.

***

25 Minuten später …

Lara löschte das Licht. Sie schloss die Eingangstür zum LARAs hinter sich ab und trat auf die Straße, als Torben plötzlich hinter ihr stand. »Wo kommst du denn jetzt her?«, fragte sie überrascht. Torben hatte schon vor einiger Zeit das Café verlassen. Sie war davon ausgegangen, dass er genug von dem ganzen Trubel hatte.

»Bloß ein bisschen frische Luft schnappen, war ziemlich stickig da drin«, meinte er mit einer fächernden Handbewegung und machte ein besorgtes Gesicht. »Ich hab doch gesagt, ich lass dich nach der Aktion von diesem Daniel nicht allein nach Hause gehen.«

Er legte den Arm um Lara, und sie gingen ein paar Schritte die Straße entlang.

»Ist dieser Kerl noch mal aufgetaucht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wäre ja noch schöner …«

»Ts, so kann man sich täuschen«, seufzte Torben. »Dieser Typ hat echt ’ne gewaltige Schraube locker. Hast du keine Angst vor dem? Ich meine, der ist doch unberechenbar. Wenn du willst, sorge ich dafür, dass mein Anwalt …« 

»Ach, lass mal …«, unterbrach Lara ihn und winkte ab.

Im trüben Lichtkegel einer Laterne blieb Torben kurz stehen.

»Du kennst ihn also doch näher, was?«

Schnaubend sah Lara auf.

»Ja, ja, schon gut«, sagte Torben schnell, »musst ja nicht drüber reden, wenn du nicht willst …«

Für eine kurze Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher.

»Mach dir keine Sorgen, von diesem Zwischenfall in der Küche hat niemand etwas mitbekommen. Und davon einmal abgesehen, war deine Eröffnungsparty ein voller Erfolg«, durchbrach Torben die Stille. »Und dein Café wird es auch.«

Unsicher lächelte Lara.

»Meinst du wirklich?«

»Klar, wirst schon sehen – sobald am Montagmorgen der erste Espresso gebrüht wird, stehen die Leute Schlange.«

»Das hoffe ich. Immerhin stecken da meine gesamten Ersparnisse drin. Von den Krediten ganz zu schweigen …«

Torben kniff sie in die Seite.

»Hey, hey! So kenne ich meine toughe Kämpferin ja gar nicht. Du lässt dich doch sonst nicht so leicht unterkriegen …«

»Mein Wagen steht gleich da hinten …«, wechselte Lara seufzend das Thema, »… ist lieb gemeint, aber wirklich nicht nötig, mich nach Hause zu begleiten.«

»Sicher?«, fragte Torben. »Nein, nein, ich komme besser mit.«

»Ach was, ich komm schon klar«, bekräftigte Lara und kramte ihren Autoschlüssel aus der Handtasche.

»Na schön, wie du meinst«, sagte er schließlich.

»Kann ich dich irgendwo absetzen?«

Torben sah an sich herunter und tätschelte den kleinen Bauchansatz, der sich unter seinem T-Shirt abzeichnete. »Danke, aber die paar Meter gehe ich zu Fuß, ein bisschen Bewegung kann mir nicht schaden.« Zum Abschied drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Falls dieser Daniel sich doch noch melden sollte, dann –« 

»Dann rufe ich dich sofort an.«

Lächelnd nickte Torben.

»Braves Mädchen.«

Dann trennten sich ihre Wege.

»Ach, Lara …«, rief er ihr noch hinterher.

Lara drehte sich um.

»Und versprich mir, dass du heute Nacht keinen Gedanken mehr an Raffael verschwendest!«

»Raffael? Wer soll das sein?«, gab sie scherzhaft zurück und stieg in ihren metallicblauen Mini Cooper. Den Wagen hatte Raffael ihr bei der Scheidung aus schlechtem Gewissen überlassen. Als ob er seinen Vertrauensbruch damit wieder wettmachen könnte.

Verziehen hatte Lara ihm die Seitensprünge bis heute nicht, das Auto aber dennoch angenommen; schließlich war es nun an ihr, Emma zur Schule zu fahren.

Sie ließ den Motor an und lenkte den Mini aus der Parklücke. Jetzt, da die Anspannung allmählich von ihr wich, spürte sie, wie die Müdigkeit Besitz von ihr ergriff. Noch schnell eine Dusche und dann nichts wie ins Bett, dachte Lara, als sie Augenblicke später plötzlich ein schlappendes Geräusch vernahm.

Der Wagen begann zu holpern und zog zunehmend nach rechts, ganz gleich, in welche Richtung sie lenkte. »So ein Mist!« Lara hielt am Straßenrand und stieg aus. Sie ließ die Fahrertür offen stehen, lief um den Wagen herum und fluchte, als sie den platten Vorderreifen entdeckte. Hilflos blickte sie sich um, doch weit und breit war da niemand, der ihr bei einem Reifenwechsel behilflich sein konnte.

Als sie noch darüber nachdachte, ob sie Torben, Raffael oder den ADAC anrufen sollte, bog ein Taxi um die Ecke.

So was nennt man wohl Glück im Unglück.

Kurzerhand entschied Lara, den Reifenwechsel auf den nächsten Morgen zu vertagen, und winkte das Taxi heran. Sie nahm ihre Handtasche aus dem Mini, schloss ihn ab und stieg vorne ins Taxi ein, da die Rückbank von zwei wuchtigen Kindersitzen in Beschlag genommen wurde. Lara nannte dem Fahrer ihre Adresse und lehnte sich im knirschenden Ledersitz zurück. Einfach nur nach Hause.

Sie unterdrückte ein Gähnen, während sie mit halbgeöffneten Augen Straßenschilder und Ampellichter am Fenster vorbeifliegen sah.

»Fahren Sie doch bitte über die Invalidenstraße, das geht schneller«, bat sie, nachdem ihr aufgefallen war, dass sie einen Umweg fuhren.

Der breitschultrige Fahrer mit Baseballkappe und Kapuzenpulli erwiderte nichts.

»Am besten wenden Sie da vorne«, wies ihn Lara an.

Doch der Mann machte keinerlei Anstalten, umzudrehen.

Er schwieg einfach und fuhr geradeaus weiter.

Lara spürte, wie sich alles in ihr anspannte, doch sie befahl sich, ruhig zu bleiben.

»Haben Sie mich gehört? Sie fahren falsch!«

Möglicherweise verstand der Fahrer kein Deutsch oder er war schlichtweg nicht willens, sich von besserwisserischen Fahrgästen belehren zu lassen.

Doch spätestens als Lara im hereinfallenden Mondlicht bemerkte, dass der Mann mitten im Sommer lederne Handschuhe trug und das Taxameter nicht eingeschaltet war, bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Anhalten, ich will auf der Stelle aussteigen!«, brüllte sie den Mann an und löste mit einer raschen Handbewegung ihren Gurt. Jegliche Müdigkeit war verflogen, und mit einem Mal begriff sie, dass auch die Kindersitze auf der Rückbank kein Zufall waren – er hatte gewollt, dass sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Direkt neben ihm.

Nichts wie raus hier! Schnell! Panisch rüttelte sie am Türgriff, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Verdammt, Kindersicherung!

»ANHALTEN hab ich gesagt!«

Er würdigte sie keines Blickes. Kein Wort. Keine Geste. Nichts.

Plötzlich bog er in einen holprigen Pfad ein und steuerte geradewegs das stillgelegte Industriegelände am Nordhafen an. Keine Menschenseele weit und breit. Keine Straßenlaterne. Nur nachtschwarze Dunkelheit.

Laras Herz begann wie wild in ihrer Brust zu hämmern. Hier draußen würde niemand ihre Schreie hören. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen. Das Taxi erschien ihr mit einmal Mal unsagbar winzig und erdrückend eng. Sie umklammerte ihre Handtasche, als ihr unwillkürlich die entstellten Frauenleichen durch den Kopf schossen, über die Torben gesprochen hatte. Torben! Der Elektroschocker!

»Was … was wollen Sie von mir?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, drosselte der Mann das Tempo. Sie sah noch, wie seine Hand in die Türablage glitt, bevor er ihr urplötzlich eine Messerklinge an die Kehle hielt.

»Ein Mucks …«, flüsterte der Mann mit seltsam belegter Stimme, »… und du bist tot.«

Lara rührte sich nicht und wagte kaum noch zu atmen, während ihr die scharfe Klinge in die Haut zu schneiden drohte. Sie fuhren jetzt nur noch Schrittgeschwindigkeit, drangen immer weiter in die unbeleuchtete Industriebrache vor. Dann stoppte der Wagen. Das Scheinwerferlicht erlosch. Tausend Filme liefen gleichzeitig in Laras Kopf ab, während ihre Hand im Schutz der Dunkelheit unmerklich tiefer in ihre Handtasche fuhr. Jetzt!, schrie alles in ihr, und binnen Bruchteilen von Sekunden wich Lara zurück und zog den Elektroschocker aus ihrer Handtasche.

Doch just als sie dem Mann satte einhunderttausend Volt durch den Leib jagen wollte, war seine Klinge auf ihre Schulter abgerutscht. Lara schrie vor Schmerz, als sich die Klinge in ihr Fleisch bohrte und sie es mit letzter Kraft schaffte, ihm den Elektroschocker in die Seite zu rammen. Funken zischten durch die Dunkelheit, bevor ihr Peiniger das Messer endlich fallen ließ und ächzend in sich zusammensank.

Mit aller Gewalt rüttelte Lara am Türgriff. Doch wie zuvor waren ihre Mühen umsonst. Das Herz klopfte Lara bis zum Hals, als sie sich nach dem Mann umsah, der wie ein schlaffer Sack auf dem Sitz hing. Das Gesicht von der Kappe verschattet. Sie war sich nicht sicher, ob er tatsächlich weggetreten war – dennoch führte der einzige Weg aus diesem gottverdammten Taxi an ihm vorbei. Verdammt, wo ist sein Messer? Laras Augen schnellten durch den Wagen, doch es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte, mit dem Elektroschocker in der Hand über den Schoß des Mannes zu klettern.

Unmengen von Adrenalin schossen durch ihre Adern, während sie sich ganz vorsichtig an den erschlafften Gliedmaßen des Mannes vorbeizwängte. Lara erlaubte sich kaum noch zu atmen, bevor sie endlich die Tür erreichte, sich mit aller Kraft dagegenstemmte und es ihr schließlich gelang, sich aus dem Taxi zu befreien.

Schmerzerfüllt hielt sie sich die Schulter und stolperte orientierungslos durch das düstere Hafengebiet.

Es dauerte eine Zeitlang, ehe sie zurück zu dem Pfad fand, auf dem sie gekommen waren. Lara zwang sich, nicht zurückzuschauen und immer weiterzulaufen, als sie plötzlich stehen blieb. Meine Handtasche! In der Tasche waren ihre Hausschlüssel, ihr Handy und ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis und all ihren Personalien! Warmes Blut strömte ihr über die Finger, während sie zurück in die Richtung sah, aus der sie gekommen war. Kurz haderte sie mit sich. Aber schließlich verwarf sie den Gedanken, noch einmal zurückzulaufen, und schleppte sich keuchend weiter. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, erkannte sie endlich die Lichter einer Tankstelle, an der sie Minuten später kraftlos zusammenbrach.

***

Samstagmittag, 4. Juni …

Eine grauenvolle Nacht lag hinter Lara. Der Schock der Ereignisse steckte ihr noch tief in den Knochen, und bei jeder Bewegung spannte und schmerzte die frische Naht an ihrer Schulter. Noch während sie in T-Shirt und Jeans mit Emma beim Frühstück saß, verfluchte sie sich dafür, dass sie sich von dem Arzt in der Charité nicht doch die stärkeren Schmerztabletten hatte verschreiben lassen.

Wie so oft hatte sie im Wohnzimmer gedeckt. Der Anblick von Raffaels leerem Platz am Küchentisch – sie konnte ihn noch immer nicht ertragen. Sie bestrich eine Scheibe Toast mit Butter, während ihre Augen über die Schlagzeilen der auf dem Tisch ausgebreiteten Berliner Zeitung wanderten. Erleichtert stellte sie fest, dass der Überfall auf sie mit keinem Wort erwähnt wurde.

Ein Skandal war das Letzte, was sie so kurz vor der Eröffnung des Cafés gebrauchen konnte.

Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute gedankenverloren zu Emma, die vor dem Fernseher saß und beiläufig die Rosinen aus ihrer Schale Müsli pickte. Für gewöhnlich blieb die Flimmerkiste um diese Zeit aus, doch Lara hasste es, ihre Tochter anzulügen – und solange Emma selbstvergessen die Zeichentricksendungen im Kinderkanal verfolgte, würde sie wenigstens keine Fragen mehr zu Mamis Schulterverband stellen.

Lara schob die Zeitung beiseite und sah die Post durch. Rechnungen. Eine Einladung zu einer Vernissage. Prospekte. Und noch mehr Rechnungen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, wieder Alltag einkehren zu lassen, überall tauchten die Buchstaben A. N. G. S. T. vor ihren Augen auf. Ein Gefühl, das sie auf keinen Fall zulassen wollte.

Sie hatte sich zur Wehr gesetzt. Sie war kein Opfer, redete Lara sich ein, als es im nächsten Moment an der Tür klingelte. Beunruhigt schaute Lara auf. Sie erwartete niemanden. Wie immer sprang Emma auf, um als Erste an der Tür zu sein.

»Schon gut, Schatz, setz dich wieder hin, heute geht Mami.« Lara stand auf und ging zur Tür. »Wer ist da?«, fragte sie durch die Gegensprechanlage.

Keine Antwort.

»Hallo?«

Wieder nichts.

»Mami, wer ist denn da?«, wollte Emma wissen, die ungeduldig neben der Tür stand.

»Niemand, Schatz, bestimmt nur Werbung.«

Plötzlich klopfte es oben an der Wohnungstür.

»Frau Simons?« Eine Männerstimme drang dumpf durch die Tür. »Sind Sie zu Hause?«

Lara warf einen Blick durch den Spion. Im Treppenhaus zwei Gesichter, die sie nicht kannte. Sie öffnete einen Spaltbreit die Tür, ohne die Sicherheitskette zu lösen.

»Sind Sie Frau Lara Simons?« Dieses Mal kam die Frage von der Frau im anthrazitfarbenen Trenchcoat. Sie war schätzungsweise Ende vierzig und damit ein paar Jahre älter als ihr Kollege.

»Und wenn es so wäre?«

»Ich bin Hauptkommissarin Sylvia Hausmann, Mordkommission Berlin.« Ein schräges Kopfnicken zu ihrem Kollegen in gutsitzendem Jackett, Jeans und Turnschuhen. »Mein Kollege Magnus Kern. Wir hätten da ein paar Fragen an Sie, wenn wir kurz reinkommen könnten?«

Lara ließ sich einen Dienstausweis zeigen, wie sie es in Filmen gesehen hatte. Nicht dass sie eine Ahnung davon hätte, wie so ein Ding auszusehen hatte. Davon abgesehen, hatte Torben ihr mal erklärt, konnte jeder, der ein paar Euro investierte, so eine Plastikkarte im Internet ersteigern.

Kurz dachte sie daran, Torben anzurufen, kam sich bei dem Gedanken schließlich aber doch albern vor.

Lara schloss die Tür, hakte die Kette aus und ließ die Polizisten herein.

Sylvia Hausmann trat als Erste ein. Ihre wachsamen Augen wanderten durch die Dachgeschosswohnung, die trotz einiger herumliegender Spielsachen ordentlich wirkte. Sonnendurchflutet und gemütlich.

»Wie geht es Ihnen?«, fühlte die Kommissarin sich mit einem Blick auf Laras Schulterverband bemüßigt zu fragen.

Lara seufzte und rang sich ein Lächeln ab. »Gut wäre wohl übertrieben …«

»Mama ist gestern gestürzt und hat eine riiiesige Wunde – die ist mindestens so groß!«, erzählte Emma mit weit auseinandergestreckten Händen. Lara schloss die Tür hinter den Beamten und strich Emma über den Kopf.

»Schatz, bist du so nett und spielst bitte in deinem Zimmer weiter?«

Die Kleine wusste, dass dies eine Aufforderung und keine Frage gewesen war, nahm murrend ihre Babypuppe und verzog sich ins Kinderzimmer.

Lara führte die Polizisten über den Flur in das von Dachschrägen durchzogene Wohnzimmer.

»Tja, dann nehmen Sie doch Platz.« Sie deutete auf die Couch und schaltete den Fernseher aus. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten?«, fragte sie mehr der Form halber.

»Nein, nein, machen Sie sich wegen uns bitte keine Umstände«, entgegnete Magnus Kern nach einem Blick zum gedeckten Esstisch.

Der blonde Polizist mit den leicht abstehenden Ohren und den tiefblickenden, fast bernsteinfarbenen Augen war von jener Sorte Mann, die erst mit zunehmendem Alter zu Attraktivität gelangte.

»Laut Polizeibericht sind Sie unmittelbar nach der Messerattacke im Taxi zu einer nahe gelegenen Tankstelle geflüchtet, dort zusammengebrochen und dann erst wieder in der Notaufnahme der Charité zu sich gekommen, richtig?«, begann er ohne weitere Erklärungen das Gespräch und nahm neben seiner Kollegin auf der Couch Platz.

Lara ließ sich auf den Sessel sinken und faltete ihre Hände.

»So weit die Kurzfassung.«

»Verzeihen Sie meine Direktheit«, meinte Kern und stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab. »Aber wie kommt es, dass Sie den ganzen Weg von Ihrem Café in der Mulackstraße bis zum Nordhafen neben diesem Mann saßen, ihn aber kaum beschreiben können?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie ich Ihren Kollegen gestern Nacht bereits zu Protokoll gegeben habe, war es dunkel. Außerdem hatte der Mann eine Baseballkappe auf … Und die Haare, die hatte er so ins Gesicht gekämmt«, beschrieb sie mit einer entsprechenden Geste. »Ich meine, er hätte Locken gehabt.«

»Locken?«, ergriff Sylvia Hausmann das Wort und zückte einen Notizblock.

»Ja, so bis übers Ohr … Dunkelbraun, glaube ich, beschwören kann ich das aber nicht. Und wenn ich mich recht erinnere, war er recht muskulös.«

Hausmann notierte etwas und sah wieder auf.

»Kommen wir noch mal auf die Baseballkappe zurück: Können Sie die etwas präziser beschreiben?«

Lara schob den Unterkiefer zur Seite und sah die Kommissarin mit schmalen Augen an. »Wenn ich mich nicht täusche, war die Kappe blau und das Schild rot, oder andersherum, so genau weiß ich es nicht mehr. Ach, und ich meine mich zu erinnern, dass es eine RedSox-Kappe war, ganz sicher bin ich mir aber nicht. Wie gesagt, es war dunkel.« Ein tiefer Atemzug. »Abgesehen davon hatte ich einen langen Abend hinter mir und war hundemüde.«

»RedSox«, wiederholte Hausmann und bedachte Lara mit einem verblüfften Lächeln.

»Sie sind Baseballfan?«

Lara schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht wirklich. Aber ich kenne mich ein bisschen aus. Mein Mann« – sie korrigierte sich –, »mein Exmann … Er hat in Boston studiert, bevor er eine Stelle als Grafiker in Berlin angenommen hat. Die Spiele der Boston RedSox hat er auch im Nachhinein noch öfter verfolgt.«

Magnus Kern räusperte sich.

»Ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht irgendjemand aufgefallen, der Ihnen gefolgt ist oder sonst irgendwie verdächtig vorkam?«

Lara senkte die Lider, um sich zu konzentrieren.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Was ist mit Ihrem Kellner, diesem Daniel Rodriguez?«, fragte Kern mit einer kurzen Pause zwischen Vor- und Nachnamen. »Sie haben zu Protokoll gegeben, dass es am besagten Abend Ihrer Eröffnungsfeier einen Zwischenfall gab. Um was ging’s denn?«

»Ach, das war bloß eine Meinungsverschiedenheit.« Sie lachte hilflos auf. »Ich glaube kaum, dass Daniel der Mann im Taxi war, falls Sie darauf hinauswollen.«

Kern studierte ihr Gesicht.

»Aber gerade sagten Sie doch, Sie konnten den Fahrer nicht erkennen.«

Lara blinzelte irritiert.

»Daniel hat keine Locken, außerdem ist er viel schlanker.«

»Wir wollten Rodriguez heute früh einen Besuch abstatten, doch der Vogel war bereits ausgeflogen. Hat seine Wohnung mit Sack und Pack verlassen und ist auf seinem Motorrad abgedüst«, schaltete Sylvia Hausmann sich ein. »Nach Angaben seiner Nachbarin schien er es wohl ziemlich eilig gehabt zu haben. Wissen Sie vielleicht, wohin er wollte?«

Lara verneinte. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Um ehrlich zu sein, war die Affäre mit Daniel Rodriguez ein Akt purer Verzweiflung gewesen und ein für alle Male abgeschlossen.

»Der Bursche hat nicht gerade ein kleines Vorstrafenregister«, fügte Magnus Kern hinzu. »Reicht von Autodiebstahl und Körperverletzung bis zu wiederholter Brandstiftung.«

Lara sah überrascht auf, sagte aber nichts.

Der Polizist zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen.

»In was für einem Verhältnis standen Sie denn zu Herrn Rodriguez?«

»Ich hatte ihn als Kellner eingestellt.« Lara schluckte und unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen. »Na schön, es gab da zwei, drei gemeinsame Nächte.«

»Vor oder nach der Scheidung von Ihrem Mann?«

»Ist das so wichtig?«

Kern räusperte sich.

»Nein, eigentlich nicht, aber …«

»Nach der Scheidung«, fiel Lara ihm ins Wort. Dies klarzustellen war ihr plötzlich ein Anliegen gewesen. »Es war, wie soll ich sagen, nichts von Bedeutung …«, fügte sie mit einer gleichgültigen Geste hinzu.

»Sind Sie sicher, dass Rodriguez das genauso sieht?«, fragte Hausmann.

Lara zuckte nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung, im Moment weiß ich überhaupt nichts mehr …«

Magnus Kern nickte nachdenklich.

»Hätte Rodriguez gewollt, hätte er Sie also schon viel früher in seine Gewalt bringen können – und es dazu noch viel einfacher haben können.« Seufzend verschränkte er die Arme. »Für den Fall, dass sich Rodriguez noch mal bei Ihnen melden sollte, lassen Sie es uns bitte trotzdem wissen.«

»Natürlich.«

»Ist Ihnen im Nachhinein sonst noch etwas eingefallen bezüglich letzter Nacht?«, fragte Sylvia Hausmann nach. »Denken Sie genau nach – jedes noch so kleine Detail könnte wichtig sein.«

»Nein«, seufzte Lara. »Nicht dass ich wüsste.« Sie drückte ihren verspannten Rücken durch und saß jetzt kerzengerade da. »Hören Sie, wie Sie sich sicher denken können, bin ich mindestens genauso daran interessiert wie Sie, dass dieser Kerl geschnappt wird. Allerdings habe ich das bereits ausführlich –«

»Frau Simons«, unterbrach Magnus Kern energisch. »Sie haben weitaus mehr Glück gehabt, als Ihnen bewusst ist.«

»Ich weiß«, gab sie kleinlaut zu. »Hätte mich sein Messer nur ein paar Zentimeter weiter oben erwischt …« Abwesend fuhr sie sich über den Hals. Dann stand sie kopfschüttelnd auf und vergewisserte sich, dass die Tür zu Emmas Kinderzimmer noch immer geschlossen war. Als sie zurückkam, schob sie die Hände in die Taschen ihrer Jeans und sagte mit nervösem Lächeln: »Wenn mir noch etwas einfallen sollte, melde ich mich selbstverständlich bei Ihnen.«

Die Beamten blickten sie besorgt an und machten keinerlei Anstalten zu gehen. Und mit einem unmissverständlichen Blick bedeutete ihr die Hauptkommissarin, sich wieder zu setzen.

»Frau Simons, wir haben Ihren medizinischen Befund an die Gerichtsmedizin weitergeleitet.« Sie machte eine Pause, um den nachfolgenden Worten eine höhere Bedeutung beizumessen. »Dem Röntgenbild nach zu urteilen, ist Ihnen die Verletzung am Schlüsselbein eindeutig mit der Klinge eines Tranchiermessers zugefügt worden.« Sie atmete geräuschvoll ein. »Es besteht kein Zweifel, dass es sich um dasselbe Messer handelt, das auch bei anderen Opfern benutzt wurde.«

Lara sah sie forschend an.

»Anderen Opfern?« Sie brauchte einen Moment, ehe sie begriff, wovon die Polizistin sprach.

»Bei dem Täter handelt es sich also um keinen Unbekannten«, erklärte Hausmann nach kurzem Zögern.

Lara spürte einen Kloß im Hals.

»Wovon um alles in der Welt sprechen Sie da?«

»Davon, dass Sie gestern Nacht Bekanntschaft mit einem der gefährlichsten und meistgesuchten Serienmörder Deutschlands gemacht haben!« Hausmann beugte sich vor, wie um Laras Blick einzufangen. »Frau Simons, Sie sind die Einzige, die ihm je entkommen ist, und wir befürchten, dass er das nicht einfach so auf sich beruhen lassen wird.«

Lara sank tiefer in den Sessel. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Laut heraus. Serienmörder? Großer Gott, in was bin ich da bloß hineingeraten! Unscharfe Bilder des Mannes im Taxi schossen ihr durch den Kopf. Wie er ihr das Messer an die Kehle gehalten hatte. Sie rieb sich die Schläfen und schloss einige Sekunden lang die Augen, als hoffte sie, die Polizisten hätten sich in Luft aufgelöst, sobald sie sie wieder öffnete. Und mit ihnen auch die schrecklichen Nachrichten. Doch Hausmann und Kern saßen unverändert auf der Couch. Die Hauptkommissarin ging ans Fenster und sah zur Straße hinunter, während sie mit ernster Miene erklärte, dass die ersten Morde bereits mehr als zwanzig Jahre zurücklägen.

»Damals hat er seine Blutspur in ganz Berlin hinterlassen. Prostituierte, Studentinnen oder Frauen, die sich schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatten. Das Tranchiermesser, mit dem er sie nach tagelanger Folter tötete, war stets dasselbe – doch die Wahl seiner Opfer, die aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus kamen, erschien zunächst wahllos«, erklärte sie. »Aber nach und nach ergaben sich Indizien, die ein Muster erkennen ließen. Aber dazu komme ich noch …« Sie zog einen Umschlag mit Fotos aus ihrer Manteltasche.

Die Bilder, typische Porträtfotos, wie sie auf Büroschreibtischen stehen, zeigten die Rechtsanwältin Patricia Braun, die Flugbegleiterin Ricarda Scholl sowie die im April getötete Krankenschwester Franziska Hoffmann. »Kommen Ihnen diese Frauen bekannt vor?«

Lara schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

»Die sind alle tot, nicht wahr? Ich habe in der Presse davon gelesen.« Der Anblick der ahnungslos in die Kamera lächelnden Frauen schnürte ihr beinahe die Brust zu.

»Alle Opfer waren Anfang dreißig, von zierlicher Statur, höchstens ein Meter fünfundsechzig groß und hatten schulterlange hellbraune Haare«, schilderte Hausmann und musterte sie unverwandt.

»Genau wie ich …«, sprach Lara in heiserem Flüsterton aus, was die Polizisten längst wussten. Und für einen Moment füllte ein beklemmendes Schweigen den Raum.

Hausmann tauschte einen knappen Blick mit Kern, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr.

»Eine Zeitlang war es dann plötzlich still um den Trancheur geworden, wie wir ihn damals nannten. Über die Wochen und Monate, in denen keine neuen Opfer vermeldet worden waren, hatte die tagtägliche Nachrichtenflut den Fall auf die hinteren Seiten der Presse verbannt, und schließlich war er kaum mehr eine Zeile wert gewesen.« Sie holte tief Luft. »Insgeheim hatte wohl jeder gehofft, unser Freund hätte sich nach all den Jahren des Mordens endlich zur Ruhe gesetzt oder aber anderen ›Hobbys‹ zugewandt, die weniger Menschenleben forderten.« Mit einem gequälten Seufzer senkte sie ihren Blick auf die Fotos. »Was sich jedoch als fataler Irrtum herausgestellt hat.«

Lara starrte ins Leere und hatte das Gefühl, im Sessel zu versinken. Sie dachte an Emma, an ihr Café, ihr neues Leben. Alles in Gefahr …

»Wir gehen davon aus, dass der Täter Sie schon einige Zeit observiert hat und bereits wusste, wo Sie wohnen, bevor Sie ihm Ihre Adresse im Taxi genannt haben«, setzte Magnus Kern Hausmanns Bericht fort. »Diese Jungs dort …« – er trat ans Fenster und deutete mit dem Kinn auf den grauen BMW auf der anderen Straßenseite –, »… die werden Ihren Hauseingang vorerst im Auge behalten.«

Resigniert nickte Lara.

Sie sah, wie Kern seiner Kollegin ein Zeichen gab, dass es an der Zeit war zu gehen. Lara folgte ihnen mit unsicheren Schritten zur Tür.

»Wenn Ihnen doch noch etwas einfallen sollte«, sagte die Hauptkommissarin und reichte ihr eine Visitenkarte.

Erneut nickte Lara, dann schloss sie langsam die Tür. Die Hand noch an der Türklinke, stand sie eine Weile benommen da und wartete, bis die Beamten im Treppenhaus verschwunden waren, gerade so, als hoffte sie, aus diesem Alptraum doch noch zu erwachen. Aber sie erwachte nicht. Dieser Alptraum war ihr Leben und ebenso real wie die Visitenkarte in ihrer Hand.

Nicht lange nachdem die Beamten gegangen waren, stürzte Emma aus dem Kinderzimmer und umklammerte Laras Bein. »Gucken wir jetzt weiter fern?«

»Ja, das machen wir«, sagte Lara, verwundert über ihre eigene Gefasstheit.

Emma warf den Kopf in den Nacken und sah mit großen Augen zu ihr auf.

»Mama, hast du geweint?«

»Nein, nein, keine Sorge, mein Schatz, es ist alles in bester Ordnung.« Sie ging in die Hocke, küsste ihre Tochter auf die Stirn und zog sie etwas zu fest an sich. »Ich werde nicht zulassen, dass uns etwas passiert.«

***

Montag, 6. Juni …

Um kurz nach neun stieg Lara am Hackeschen Markt aus der Tram. Es war ein herrlich sonniger Morgen, was sie als gutes Omen deutete. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, prüfende Blicke über ihre Schulter zu werfen.

War er in der Tram gewesen? Beobachtete er sie aus einem der Autos? Oder hatte er sich unter die Gruppen von Touristen gemischt, die an ihr vorbeizogen?

Ganz gleich, wohin sie auch ging, in ihren Gedanken war er schon da. Sie lief die Rosenthaler Straße entlang und hoffte, dass diese neuerlichen Anflüge von Paranoia bald der Vergangenheit angehörten. Und sie endlich ihr Leben wieder zurückhätte.

Sie hatte Emma vorsorglich bei Raffael untergebracht und vermisste die Sechsjährige schon jetzt. Doch da auch Raffaels neue – wie er zu sagen pflegte – Lebensabschnittspartnerin bei ihm wohnte, hatte Lara sein Angebot, auf seiner Gästecouch zu schlafen, entschieden abgelehnt. Stattdessen hatte sie das restliche Wochenende damit zugebracht, eine Alarmanlage in ihrer Wohnung installieren zu lassen.

Eine weitere würde am nächsten Tag im Café angebracht werden.

Sie zog den Schlüssel zum Café aus ihrer verwaschenen Jeansjacke und bog in die Mulackstraße, ohne dem nachtblauen Wagen an der Ecke Beachtung zu schenken. Eigentlich hatte ihr der Arzt jegliche körperliche Betätigung untersagt, doch Lara hatte dem bevorstehenden Tag seit Monaten entgegengefiebert wie ein Kind dem Weihnachtsabend und wollte es sich nicht nehmen lassen, das Café selber zu eröffnen. Sie wollte wenigstens so lange bleiben, bis Katrin Ludwig, die neue Aushilfe, die sie kurzfristig über die Studentenvermittlung aufgetrieben hatte, mit den wichtigsten Instruktionen vertraut sein würde. Daniel hatte schon mehr als genug Schaden angerichtet, und Lara wollte keineswegs riskieren, dass ihr irgendeine ungelernte Kraft zu guter Letzt auch noch den sündhaft teuren Kaffeeautomaten ruinierte.

Lara lief am Frisörsalon vorbei, vor dem zwei junge Mütter mit silbernen Folien im Haar in der Sonne saßen und ihre Kinder stillten. Von dem Gerüst des Nachbargebäudes pfiffen ihr einige Bauarbeiter hinterher, die eine heruntergekommene Altbaufassade restaurierten, als sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht das Café ansteuerte.

Ihr eigenes kleines Café.

Doch schon wenige Meter weiter verstummte das  Klackern ihrer Absätze abrupt. Der Schriftzug LARAs hing schief über dem Eingang. Die Tür stand offen, das Schloss war zerstört. Lara erstarrte zur Salzsäule. Erst als ein plötzliches Hupen ertönte, bemerkte sie, dass sie mitten auf der Fahrbahn stand.

»Blöde Kuh! Mach, dass du wegkommst!«, hörte sie einen Autofahrer hinter sich schimpfen. Die Rufe erschienen ihr unendlich weit entfernt, als sie mit weichen Knien auf das Café zuging. Sie trat zögerlich ein.

Innen sah es noch wüster aus. Lara erstarrte, als ob ihre Füße in die dunklen Fliesen eingearbeitet worden seien. Tische und Stühle waren umgeworfen. Sitzpolster aufgeschlitzt. Sogar der Deckenventilator war heruntergerissen worden. Lara eilte zur Theke. Das wenige Bargeld, das sie am Freitag dagelassen hatte, lag unberührt in der Kasse.

Wer auch immer hier war, wollte nichts als zerstören.

Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, dieses Chaos in ihr altes neues Café zurückzuverwandeln!

Als sie ein Knarren aus der Küche vernahm, beschlich Lara die leise Ahnung, dass die Zerstörung erst der Anfang sein sollte. Sie hob ein abgebrochenes Stuhlbein vom Boden auf, hielt es wie einen Baseballschläger schlagbereit in der Hand und bewegte sich langsam auf die Küche zu. Sie stieß vorsichtig die Tür auf und sah sich um.

Doch da war niemand.

Nur ein weiteres Trümmerfeld: Teller, Tassen, Gläser, Sektflaschen – die Scherben waren über den ganzen Boden verteilt. Es war eine Riesensauerei. Nur die Espressomaschine, das Herzstück ihres Cafés, stand noch immer verpackt neben der Spüle.

Lara atmete auf. Plötzlich entdeckte sie hinter dem Karton eine Maske. Eine Clownsmaske …

Beunruhigt schaute sie sich weiter um, entschied, dass es besser war, nichts anzufassen und die Polizei zu rufen. Sie hatte sich eine Prepaidkarte und ein neues Handy zugelegt und wollte gerade die Nummer der Polizei eintippen, als sie hinter sich plötzlich Schritte hörte.

Blitzschnell wandte Lara sich um.

»Scheiße, Mann – was’n hier los?!« Die Stimme gehörte Katrin Ludwig, der Kaugummi kauenden, mit Piercings und Indianerschmuck behängten jungen Frau, die sie eingestellt hatte und die soeben den Raum betrat. »Ham Se schon die Bullen gerufen?«

Lara schüttelte den Kopf und sammelte die Scherben auf. »Nein.«

Neugierig sah die Studentin sich um, ließ den Kaugummi schnalzen und stemmte die Hände in die Hüften.

»So, wie dit hier aussieht, wird hier vorerst ja wohl keen Kaffee serviert.« Die Hände in den Hosentaschen vergraben, sah sie sich weiter um, als sie plötzlich etwas entdeckte. »Heilige Scheiße! Keene Ahnung, wat hier abläuft – und ick will’s auch gar nich wissen!« Und mit den Worten »Wissen Se wat, behalten Sie Ihre Kohle, ick hau ab!« ergriff sie schlagartig die Flucht. Lara sah ihr nach. Dann schoss ihr Blick in Richtung des Garderobenständers, den Katrin beiseitegeschoben hatte.

Dahinter stand in blutroter Schrift jene unmissverständliche Drohung an die Wand gesprüht, die Lara jeglichen Boden unter den Füßen wegriss:

Ich krieg dich, Nutte!

Lara tastete nach dem Garderobenständer, um sich an irgendetwas festzuhalten und nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Großer Gott, diese Polizisten hatten recht, er wird so lange hinter mir her sein, bis … bis … Lara wagte gar nicht erst daran zu denken.

Benommen stellte sie einen Stuhl auf und sank darauf nieder. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, obwohl sie mit jeder Faser ihres Körpers dagegen ankämpfte.

Das Geschmiere an der Wand – für einen kurzen Moment verschwammen die Buchstaben ineinander, und ihr war, als ob nicht sie es sei, die da in den Trümmern dieses Cafés stand. Und deren Leben gerade systematisch zerstört wurde.

***

Vierundzwanzig Stunden später.

Am frühen Morgen des 7. Juni …

Der Anruf riss Sylvia Hausmann unsanft aus dem Tiefschlaf.

»Na endlich«, drang die Stimme von Magnus Kern etwas zu laut aus dem Hörer. »Ich dachte schon, du würdest nie drangehen … Hör zu, der Russbach hat schon nach dir gefragt, der ist stinksauer.«

Sylvia Hausmann schaltete das Licht an und nahm ihre Armbanduhr vom Nachttisch. Kurz nach halb fünf.

»Was … was ist passiert?« Sie rieb sich müde die Augen und setzte sich im Bett auf.

»Es gab einen weiteren Mord. Der Trancheur – sieht ganz so aus, als hätte er wieder zugeschlagen.«

Schlagartig war sie hellwach.

»Wo?«, fragte sie.

»Hellersdorf. Ein Straßenfeger hat sie auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums gefunden.«

Hausmann ließ sich die Adresse geben und stand keine drei Minuten später vollständig angezogen im Badezimmer. Sie schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht und fragte sich, was Gregor Russbach, den Leiter der Mordkommission, dazu veranlasst haben könnte, persönlich am Tatort aufzukreuzen. Dann verließ sie überhastet die Wohnung. Sie war schon an der Treppe, da fiel es ihr plötzlich ein. Scheiße. Im Hausflur machte sie kehrt, schloss noch einmal auf und eilte in die Küche, in der sie die beiden schwarzen Katzen ungeduldig maunzend erwarteten. Hausmann beugte sich hinunter und streichelte sie kurz, während die Katzen sich schnurrend um ihre Beine schlängelten.

»Da hätte ich euch fast vergessen …« Und das ausgerechnet an Fabiennes achtem Todestag. Sie nahm die angebrochenen Whiskas-Dosen aus dem Schrank und kratzte die Fleischstücke mit einem Löffel in die Näpfe. Obwohl sie spät dran war, sah sie einen Augenblick lang zu, wie die Katzen leise schmatzend darüber herfielen. Damals hätte sie sie am liebsten ins Tierheim gebracht, doch inzwischen waren diese verzottelten Stubentiger alles, was ihr von Fabienne noch geblieben war. Wie so oft zwang sie sich, die schmerzhafte Erinnerung an ihre Tochter in ihrer Wohnung in der Boxhagener Straße zurückzulassen, ehe sie ihren Dienst antrat.

Keine zwanzig Minuten später parkte sie ihren rostbraunen Passat unweit des Einkaufszentrums, vor dem die Leiche gefunden worden war. Hausmann atmete tief durch, bevor sie aus dem Wagen stieg. Eine verstümmelte Leiche und ein leerer Magen waren eine denkbar schlechte Kombination. Magnus Kern kam über den asphaltierten Parkplatz auf Hausmann zu. Im fahlen Licht der Morgendämmerung sah er ebenso übernächtigt aus wie das Spiegelbild, von dem sie sich soeben im Badezimmer verabschiedet hatte.

»Guten Morgen, Sylvia.«

»Gut wäre wohl reichlich übertrieben«, erwiderte Hausmann. Sie warf einen kritischen Blick über Kerns Schulter und sah, wie die Kollegen der Spurensicherung in ihren obligatorischen weißen Einwegoveralls den Parkplatz rund um das Einkaufszentrum weiträumig absperrten. Am Straßenrand hielten erste Schaulustige auf ihrem Weg zur Arbeit an. Von der Presse schien glücklicherweise noch niemand anwesend zu sein. Etwas abseits lief Gregor Russbach aufgeregt telefonierend auf und ab.

»Bei der Toten handelt es sich um eine vierundzwanzigjährige russischstämmige Prostituierte namens Irina Petrova. Keine Kinder. Keine in Deutschland lebenden Verwandten«, referierte er, während Hausmann ihm durch die Polizeiabsperrungen folgte. »Allerdings hat unser selbsternannter Kiez-König Andy Kuttner aus dem achten Bezirk bereits eine Kollegin von ihr ausfindig machen können. Die Lady hört auf den Namen Candy Deluxe und ging mit Petrova auf der Oranienburger Straße anschaffen. Sie hat ausgesagt, Irina Petrova zuletzt am Freitagabend gesehen zu haben, als diese zu einem unbekannten Freier in den Wagen gestiegen ist.«

»Gute Arbeit«, meinte Hausmann anerkennend. »Wusste diese Candy noch, was das für ein Wagen war?«

Kern schüttelte den Kopf.

»Nur, dass es kein Taxi war.«

»Verstehe«, murmelte Hausmann und stellte den Kragen ihres Trenchcoats hoch, als ihr der Wind in den Nacken pfiff.

Die Tote lag keine zwanzig Meter vom Haupteingang des Shoppingcenters entfernt. Hausmann bedeutete Claudius Killing, einem jungen Mann der Spurensicherung – wegen seiner schneeweißen Haare und leichenblassen Haut von allen nur Schneemann genannt –, die Plastikabdeckung von dem Leichnam zu entfernen. Es waren Augenblicke wie dieser, in denen Hausmann ihren Job verfluchte.

Widerwillig richtete sie ihren Blick auf die Tote. Die Frau, mittelgroß und schlank, lag bäuchlings auf dem Asphalt, das Gesicht abgewandt. Wie die vorherigen Opfer war auch Petrova splitternackt. An Armen und Beinen zeichneten sich bläuliche und grünliche Hämatome auf ihrer blassen Haut ab, und ihr schmaler Rücken war bis zum Nacken mit Striemen und Schnittwunden übersät. Ihre hüftlangen braunen Haare waren blutverklebt.

Nach einer Weile wies die Hauptkommissarin den Schneemann an, den Leichnam umzudrehen. Der Mann tat wie geheißen, und Hausmann zuckte unmerklich zusammen. Der Anblick der Toten, deren Mund ein breiter Klebebandstreifen verschloss, übertraf alles, worauf sie sich innerlich vorbereitet hatte. An Petrovas zierlichem Hals klaffte die charakteristische Schnittwunde. Ein einziger sauberer Schnitt hatte die Halsschlagader durchtrennt. Die rundlichen, unnatürlich gen Himmel zeigenden Brüste der Frau – offensichtlich Silikonimplantate – schienen unberührt.

Doch die Bauchdecke war oberhalb des Schambereichs geöffnet worden und gab den Blick auf die Eingeweide frei.

»Er hat sie wirklich schlimm zugerichtet«, dachte Magnus Kern laut und schüttelte fassungslos den Kopf.

Bestialische Folter war das Erste, was Hausmann in den Sinn kam, und sie spürte, wie sich Abscheu und Übelkeit gleichermaßen in ihrem leeren Magen ausbreiteten.

»Bitte sag mir, dass sie zum Zeitpunkt dieser Verstümmelungen bereits tot war«, sprach sie leise vor sich hin.

»Den Hämatomen nach müssen die Verletzungen prämortal zugefügt worden sein«, warf der Schneemann räuspernd ein. »Genaueres wird die Obduktion bringen.«

Die Kommissarin nickte steif.

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Etwa zwölf Stunden, die Körpertemperatur des Leichnams ist bereits um fünfzehn Grad gesunken.«

Hausmann sah in die aufgerissenen Augen der Toten, als versuche sie darin zu lesen, welche Qualen diese Frau durchlitten haben musste. Doch was es auch war, es lag mit hoher Wahrscheinlichkeit außerhalb menschlicher Vorstellungskraft. Die Art und Weise, wie das Opfer zugerichtet worden war, konnte nur auf das Konto eines Geisteskranken gehen.

»Irgendwelche Anzeichen einer Vergewaltigung?«

»Bisher nicht, weder vaginal noch anal.«

Hausmann nickte, ohne ihren Blick von dem Leichnam zu nehmen. Du bist es also. Deine Morde sind nicht sexuell motiviert. Deshalb wurden im Labor auch bei keinem der Opfer Sperma- oder Latexspuren gefunden. Du spielst lediglich mit der Angst deiner Opfer – dein unerbittlicher Hass geht weit über sexuelle Erniedrigung hinaus.

»Können wir den Leichnam dann in die Gerichtsmedizin bringen?«, wollte der Schneemann wissen.

»Ja – das heißt, nein«, meinte Hausmann, »ich rufe Sie, sobald wir so weit sind.«

Der Schneemann verschwand Richtung Einsatzwagen.

Grübelnd schob Sylvia Hausmann das Kinn vor.

Irgendwo habe ich das Gesicht dieser Frau schon einmal gesehen.

»Oranienburger Straße, sagtest du?«, fragte sie und sah zu Kern auf.

»Hat der Kuttner gesagt«, antwortete er.

Ihr Blick schweifte über den Parkplatz.

»Was ist?«, fragte Kern.

»Auf dem Boden ist kein Blut«, stellte sie fest.

»Und?«

»Schau dir Petrova doch an, das müsste doch eine riesige Sauerei gegeben haben – aber hier ist weit und breit keine Lache zu sehen. Kein Blutspritzer. Nichts.«

Ihr Kollege nickte versunken.

»Er hat sein Opfer wieder einmal woanders ermordet und es anschließend hier ausgeladen – an einem öffentlichen Ort, quasi auf dem Präsentierteller … Genau wie bei Patricia Braun, Ricarda Scholl und Franziska Hoffmann wollte er nicht nur sichergehen, dass die Leiche gefunden wird, er wollte damit auch die größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nicht nur seitens der Polizei – jeder sollte erfahren, was er getan hat.«

Hausmann presste den Zeigefinger an ihre nachdenklich gespitzten Lippen und sah in Gedanken die Massen von Menschen vor sich, die sich tagtäglich durch die gläsernen Drehtüren des Einkaufszentrums schoben.

»Irgendwie passt das nicht zusammen.«

»Was passt nicht zusammen?«

»Petrova passt nicht ins Beuteschema …«

»Komm schon, Sylvia, das ist jetzt nicht dein Ernst«, stöhnte Kern. »Die Sache liegt doch auf der Hand – die Tote trägt eindeutig seine Handschrift. Sag jetzt nicht, du willst erst noch den Autopsiebericht abwarten.«

»Bislang waren alle Frauen brünett und nicht größer als ein Meter fünfundsechzig – Petrova ist deutlich größer«, wandte Hausmann ein und starrte ihren Kollegen an. »Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass dieser Psychopath seine Opfer jahrelang akribisch auswählt, um sein Beuteschema dann einfach so von heute auf morgen über den Haufen zu werfen!«

Kern rieb sich die Schläfe.

»Und die Schnittwunde am Hals? Fünfzig Mäuse, dass diese Schnittwunde von seinem gottverdammten Tranchiermesser stammt. Möglicherweise war diese Prostituierte für ihn nicht von größerer Bedeutung, nichts weiter als ein Trostpflaster. Immerhin hatte er eine gewaltige Niederlage zu verkraften«, überlegte er laut. »Irina Petrova wurde seit Freitagnacht vermisst – ausgerechnet seit jener Nacht, in der ihm diese Lara Simons entwischt ist. Der Elektroschock dürfte ihn zwar eine geraume Weile außer Gefecht gesetzt haben, als unsere Kollegen im Hafenbereich nach ihm suchten, fand man aber keine Spur mehr von dem Taxi …«

Hausmann nickte. »Zudem hat dieser Überfall auf das Café der Simons nochmals verdeutlicht, was für eine Wahnsinnswut er die ganze Zeit über gehabt haben muss.«

Und höchstwahrscheinlich noch immer hat.

Kern zog die Schultern hoch.

»Und Prostituierte sind leichte Opfer. Man hält am Straßenrand, wedelt mit ein paar Scheinen und schon steigen sie ein. Er wäre also nicht das geringste Risiko eingegangen.«

Sylvia Hausmann gab ein abwägendes Nicken von sich. Tatsächlich waren die Ansichten ihres Kollegen gar nicht so abwegig. Und wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie sich eingestehen, dass Kern schon bei den vorherigen Opfern den richtigen Riecher gehabt hatte.

Plötzlich blickte die Kommissarin auf.

»Natürlich – die Razzia im Velvet Club letzte Woche! Wusste ich doch, dass ich dieses Mädchen irgendwo schon mal gesehen habe.« Und mehr zu sich selbst sagte sie: »Zumindest würde das ihre Haarlänge erklären …«

Kern runzelte nur die Stirn und lachte.

»Ihre Haarlänge?«

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu.

»Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie bei der Razzia noch sehr viel längere Haare. Ungefähr bis zum Hintern.«

»Und weiter?«

»Sie könnte natürlich Extensions getragen haben oder eine Perücke«, spekulierte Hausmann. »Es sei denn, der Täter hätte ihr die Haare vor ihrem Tod bis zur Schulter abgeschnitten – damit sie besser in sein Beuteschema passte, bevor er den finalen Schnitt ausgeführt hat. Selbst wenn er sich dieses Mal nicht viel Zeit mit ihr lassen konnte, musste alles so perfekt wie nur möglich sein.«

Ihr Kollege musterte sie eine Sekunde lang sprachlos, dann sah er wieder auf die Tote hinab. »Möglich wäre es«, Georg Russbach, der jetzt unmittelbar hinter ihnen stand und sein Handy wegsteckte, räusperte sich. »Anscheinend ist dieser Kerl noch viel obsessiver, als wir bislang angenommen haben.«

***

Vier Stunden später auf dem Revier der Berliner Mordkommission …

Der unablässig vor sich hin surrende Ventilator kämpfte erfolglos gegen die drückende Schwüle auf dem Korridor an, über den Torben mit zwei Bechern schwarzem Kaffee in der Hand auf Lara zukam.

»Hier …«, sagte er und streckte ihr einen entgegen. Doch Lara lehnte ab. Sie konnte weder diesen verfluchten Kaffee noch dieses stickige Revier, auf dem sie seit dem frühen Morgen wartete, länger ertragen. Kern und Hausmann hatten sie gebeten, zu kommen, nachdem sie gestern Anzeige gegen Unbekannt wegen der Zerstörung des LARAs erstattet hatte.

Nervös knetete sie ihre Hände im Schoß. Die makabre Botschaft in der Küche wollte ihr nicht aus dem Kopf, und die Angst, die allein der Gedanke daran in ihr auslöste, kroch ihr tiefer und tiefer in die Glieder. Torben nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz und stellte die Becher auf dem Boden ab, um Lara zu umarmen. In dieser schweren Zeit war er ihr einziger Halt, und seine Berührungen taten unendlich gut. Emma war noch immer bei Raffael. Sie sollte von dem ganzen Alptraum nichts mitbekommen.

»Mit etwas Glück haben sie ihn bald gefasst«, versuchte Torben sie zu beruhigen und zog Laras Kopf an seine Brust.

Auf einmal sah Lara ihn seltsam an. »Du verschweigst mir doch was, los, raus mit der Sprache, du sitzt doch direkt an der Quelle – was ist passiert? Ich bin nicht nur wegen dieser Sache im Café hier, stimmt’s?«

Torben nippte an seinem Kaffee und wich ihrem Blick aus.

»Deshalb hast du auch vorgeschlagen, mich zu begleiten – sag schon, was ist los? Hattest du ein neues Opfer auf dem Obduktionstisch?«

»Lara, du weißt, dass ich nicht darüber reden darf und …« Er verstummte, als Magnus Kern aus dem Büro der Hauptkommissarin trat und Lara auffordernd zunickte.

»Ich muss Sie bitten, draußen zu warten«, wies er Torben an, der sich mit Lara erhoben hatte. Sie bedeutete Torben, auf dem Korridor zu warten, und als sie in Sylvia Hausmanns Büro verschwand, sah sie ihm an, dass er sie nur ungern allein ließ.

Hausmann saß hinter einem großen unaufgeräumten Schreibtisch, auf dem sich leere Pappbecher und Berge von Aktenordnern stapelten. Sie wirkte aufgewühlt und hatte Lara bereits erwartet.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, bitte nehmen Sie doch Platz.«

Lara sank auf den Stuhl neben Kern.

»Es hat ein weiteres Opfer gegeben«, begann die Kommissarin.

Lara zuckte innerlich zusammen. Also doch.

Die Kommissarin holte durch die Nase tief Luft und beugte sich leicht vor. »Die Abstände, in denen dieser Psychopath tötet, werden immer kürzer, zudem hat seine Vorgehensweise inzwischen ein Maß an Brutalität und Grausamkeit erreicht, das wir so noch nicht erlebt haben. Man könnte fast meinen, Ihr Entkommen aus diesem Taxi hat ihn erst richtig angestachelt. Und dann diese Drohung …« Kopfschüttelnd zog sie unter einem Aktenordner ein Foto hervor, das die Spurensicherung im Café gemacht hatte.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Frau Simons, dieser Mann da draußen ist äußerst gefährlich«, warnte Hausmann, bevor sie die nächste Bombe platzen ließ: »Sie sind in Berlin nicht mehr sicher – ich rate Ihnen dringend, umgehend die Stadt zu verlassen und sich in die Obhut eines Zeugenschutzprogramms zu begeben.«

Entgeistert blickte Lara auf.

»Zeugenschutzprogramm?« Kurz glaubte sie, sich verhört zu haben. »Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Mein voller Ernst«, entgegnete Hausmann, ohne eine Miene zu verziehen.

»Aber, wie … wie stellen Sie sich das denn vor!« Lara sprang vom Stuhl auf. »Ich kann hier doch nicht alles einfach so stehen und liegen lassen und irgendwo neu anfangen! Ich habe mich abgerackert und mir mein Leben hier mühsam aufgebaut – das lasse ich mir doch nicht von irgendeinem dahergelaufenen Irren kaputtmachen!« Sie riss die Arme hoch und ließ sie wieder fallen, während ihr hilfloser Blick durch die Jalousien zu Torben schnellte, der auf dem Korridor nervös auf und ab ging. »Ich meine, was … was, wenn es sich bloß um einen Irrtum handelt?«

Die Beamten schüttelten die Köpfe.

»Aber wieso sollte er es ausgerechnet auf mich abgesehen haben? Ich bin rein zufällig in dieses Taxi gestiegen – er konnte wohl kaum wissen, dass ausgerechnet mein Reifen …« Ihre Stimme verlor sich, als Lara plötzlich begriff, dass dies bereits Teil seines Plans gewesen war. Sie kam sich vor wie ein Idiot.

Kern schlug die Beine übereinander und knackte mit den Fingern.

»Wir gehen davon aus, dass die Tat von langer Hand geplant war. Kriminelle seines Kalibers gehen äußerst planvoll vor. Angefangen bei der Wahl des Opfers und des Tatorts bis hin zur Tatzeit und der Tatwaffe – sie überlassen nichts dem Zufall.«

Lara fehlten die Worte.

»In einem Zeugenschutzprogramm würde alles dafür getan, dass dieser Serienmörder Sie nicht aufspürt«, setzte Hausmann abermals an. »Sie bekämen eine neue Identität, angefangen mit einem anderen Namen und einem neuen Wohnort bis hin zu einem stark veränderten Lebenslauf samt Geburtsurkunde, Führerschein und was Sie sonst noch für Papiere brauchen«, zählte sie an ihren Fingern auf.

Lara strich sich nervös die Haare zurück. Derartiges kannte sie bislang nur aus Mafia-Filmen oder von spektakulären Gerichtsprozessen, in denen V- Männer oder Kronzeugen geschützt werden mussten.

»Und Emma?«, fragte sie, noch immer baff. »Was geschieht mit Emma?«

»Da Sie das Sorgerecht haben, trifft auf Ihre Tochter selbstverständlich das Gleiche zu«, redete Hausmann in bemüht mildem Tonfall auf sie ein.

Lara hatte das Gefühl, in diesem Raum zu ersticken. Tausend Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Emma hatte sich so schwer damit getan, in der Schule Anschluss zu finden sie konnte das Kind doch nicht einfach aus seinem vertrauten Umfeld reißen!

Und dann das Café – sollte ihr Traum nun einfach so geplatzt sein? Sie hatte ja noch nicht einmal offiziell eröffnet!

Lara legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Die Polizisten sollten die Tränen in ihren Augen nicht sehen. Niemand sollte das, so war es immer schon gewesen. Sie, Lara Simons, hatte bislang doch alles im Leben irgendwie gemeistert, den Tod ihrer Eltern, die Trennung von Raffael.

Wieder sah sie zu Torben, wie um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Während sie bis vor wenigen Minuten noch überzeugt gewesen war, den grausamen Höhepunkt ihres Lebens erreicht zu haben, hatten die Polizisten sie soeben eines Besseren belehrt. In ihrem Kopf begann sich alles drehen.

»Glauben Sie mir, Frau Simons, wenn Sie weiterhin in der Stadt bleiben, können wir weder für Ihre Sicherheit noch für die Ihrer Tochter garantieren«, fasste Hausmann in aller Deutlichkeit zusammen.

Lara ging mit weichen Knien zum Fenster und starrte mit leerem Blick auf den Parkplatz der Mordkommission. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte krampfhaft, ihre Gedanken zu ordnen, um eine Entscheidung zu treffen, die den Rest ihres Lebens beeinflussen würde. Unendlich lange Momente später nickte sie schließlich, wandte sich zu den Polizisten um und erklärte mit fester Stimme:

»Um nichts in der Welt riskiere ich, dass meiner Tochter etwas zustößt oder sie ohne Mutter aufwächst. Treffen Sie alle nötigen Vorkehrungen, ich werde mich mit Emma schnellstmöglich in die Obhut eines Zeugenschutzprogramms begeben.«

***

Hellwach starrte Lara an die Schlafzimmerdecke, auf der Schatten tanzten.

Die zuständigen Beamten des Zeugenschutzprogramms hatten sie den ganzen Tag auf Trab gehalten. Sie hatte eine Vielzahl an Sicherheitsinstruktionen erhalten, hatte sich durch unzählige Verträge gequält und eine Reihe von Verschwiegenheitsabkommen unterzeichnet.

Zu ihrer eigenen Sicherheit hatte man sie im Unklaren darüber gelassen, wohin sie mit Emma, die die letzte Nacht bei ihrem Vater verbrachte, in den frühen Morgenstunden gebracht würde. Nicht einmal die Beamten der Berliner Mordkommission würden ihren neuen Aufenthaltsort erfahren. Alles war streng geheim.

Den Abend hatte Lara mit Torben verbracht, der ihr bei einer Flasche Rotwein und Gesprächen über alte Zeiten beim Packen geholfen hatte. Er war der Einzige, der von ihrem Vorhaben wusste, und die Vorstellung, ihn nie wiederzusehen, löste ein ebenso flaues Gefühl bei Lara aus wie die Tatsache, dass dies die letzte Nacht in ihrem alten Leben sein sollte.

Im hereinfallenden Licht der Straßenlaternen betrachtete sie die gepackten Koffer neben der Tür. Als Kind hatte sie sich oft gewünscht, jemand anders zu sein. Doch inzwischen hatte sie sich ihre eigene kleine Welt geschaffen. Etwas, worauf sie stolz war. Nun aber würde sie eine Reise ins Ungewisse antreten, ohne Rückfahrschein.

Schon jetzt kam sie sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Leben vor. Doch solange Emma und sie dort sicher waren, würde sie sich mit jedem Ort der Welt arrangieren.

Für einen Moment dachte sie an ihre Mutter, eine gescheiterte Schauspielerin, die für jede noch so miserable Gage jede x-beliebige Filmrolle blind angenommen hatte. Nun war es an Lara, die Hauptrolle in einem Film zu spielen, dessen Drehbuch sie nicht kannte und ohne zu wissen, ob es ein Happyend geben würde.

***

Die rotleuchtenden Ziffern des Radioweckers auf Laras Nachttisch sprangen auf drei Uhr um, als sie ein leises Quietschen aus dem Schlaf riss. Sie schlug die Augen auf, doch das Geräusch war abrupt wieder verstummt. Nur der Wind, der an den Fensterläden rüttelt, beruhigte sie sich und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch da – da war es plötzlich wieder. Lara schlug die Decke beiseite und stieg mit einem mulmigen Gefühl aus dem Bett. Sie zog ihren seidenen Morgenmantel über, nahm instinktiv ihr Handy vom Nachttisch und ging auf die Nummer, die Hausmann ihr für Notfälle gegeben hatte.

Barfuß schlich sie über die Dielen, die knarrend unter ihren Schritten nachgaben. Plötzlich vernahm sie ein dumpfes Poltern. Leise und doch zu laut, als dass es aus der Nachbarwohnung hätte stammen können. Immer wieder blickte Lara sich um und achtete auf jeden Schatten, während sie auf Zehenspitzen durch den Flur schlich. Dabei bemerkte sie nicht, dass das kleine grüne Lämpchen der scharf gestellten Alarmanlage erloschen war. Letzte Spuren der Müdigkeit fielen von Lara ab, als sie mit pochendem Herzen feststellte, dass sie die Balkontür im Wohnzimmer nicht richtig geschlossen hatte. Ein leichter Windstoß blähte die bodenlangen Vorhänge auf und fuhr ihr unters Nachthemd. Lara trat auf den Balkon hinaus. In dem kleinen, verwinkelten Innenhof war alles ruhig. In der Ferne hasteten Schritte über den Asphalt, bevor diese von der nächtlichen Stille geschluckt wurden.

Dann war es wieder still. So still, wie es in einer lauen Sommernacht mitten in Berlin eben sein konnte.

Kopfschüttelnd ging Lara wieder hinein. Sie wollte die Balkontür gerade schließen, da vernahm sie ein leises Knacken hinter sich. Sie war nicht allein.

Lara stockte der Atem. Er war in ihrer Wohnung. In ihrem Wohnzimmer. War direkt hinter ihr. Im fahlen Spiegelbild der offenen Balkontür tauchten die Umrisse einer breitschultrigen Gestalt mit Baseballkappe auf, die jetzt direkt von hinten auf sie zu geschnellt kam. Doch ehe Lara reagieren konnte, hatte er sie rücklings zu Boden geschleudert. Ihr Handy schlitterte unter die Couch, als er ihr plötzlich etwas ins Gesicht sprühte, das wie Säure in ihren Augen brannte. Lara schrie vor Schmerz. Schrie vor Angst. Schrie um ihr Leben, während sie blind und voller Panik auf allen vieren durch das dämmrige Wohnzimmer krabbelte, um sich zwischen Emmas herumliegenden Spielsachen zum Kamin vorzukämpfen. Wenn sie es zum Schürhaken schaffte, dann … Plötzlich packte er sie beim Genick und zerrte sie zurück wie eine ungehorsame Hündin. Lara rollte sich auf den Rücken und trat wie wild um sich. Der Mann warf sich mit seinen Knien auf ihre Rippen, drückte ihr mit einer Hand den Mund zu, mit der anderen riss er ihren Morgenmantel auf. Ihre Schreie erstickten unter seiner kräftigen Hand, während sie um sich schlug.

»Halt endlich still, Fotze – ich werd dir’s Maul schon stopfen!«, zischte er leise durch die Dunkelheit, fuhr Lara unters Nachthemd, drückte ihre linke Brust, als wolle er sie zerquetschen.

»Miststück!«, ächzte er plötzlich. Lara hatte ihm mit aller Kraft in die Hand gebissen, aber durch die ledernen Handschuhe verfehlte der Schmerz seine Wirkung. Ein kräftiger Faustschlag traf sie in die Magengrube. Sie krümmte sich vor Schmerz zusammen und rang verzweifelt nach Luft. Sie hatte nicht die geringste Chance gegen ihn. Er zog sie an den Haaren hoch, bis sie, den Rücken ihm zugewandt, kniete.

»Nein, bitte!« Lara spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte, als sie im fahlen Licht des Mondscheins eine Klinge in seiner Hand aufblitzen sah. Er zerschnitt erst den einen, dann den anderen Träger ihres Nachthemd bis der Stoff zu Boden glitt und sie splitterfasernackt war. Lara spürte seinen harten Schwanz, als er sich gegen ihren Rücken presste. Langsam fuhr er mit der Messerspitze zu ihrem Hals hinauf, bevor in der nächsten Sekunde unverhofft die Wohnungstür aufkrachte.

»Polizei! Keine Bewegung!«

Die sonoren Stimmen der Polizisten, die vor dem Haus postiert waren, dröhnten über den lichtlosen Flur. Blitzschnell ließ die dunkle Gestalt von Lara ab und hetzte zum Balkon.

Lara fiel nach vorne. Sie zitterte von Kopf bis Fuß und bedeckte sich gerade noch mit dem Bademantel, als die Wohnzimmertür aufflog, die Deckenleuchte anging und zwei uniformierte Polizisten mit gezogenen Pistolen hereingestürmt kamen.

»Der Scheißkerl ist über den Balkon reingekommen, ich häng mich dran!«, rief einer der Männer und sprintete mit gezogener Pistole hinaus. Der andere rannte zu Lara, während er über Funk Verstärkung und einen Krankenwagen anforderte.

»Sind Sie verletzt?«

Lara hielt sich stöhnend die Schulter und stieß ein ersticktes »Ich glaube, es geht schon …« aus.

»Verdammt, der ist übers Dach entwischt!«, schnaubte der Polizist auf dem Balkon und eilte zu Lara. »Haben Sie den Mann erkannt?«

Benommen schüttelte sie ihren Kopf.

»Die Baseballkappe … die Statur – er war es. Aber sein Gesicht …«

»Irgendetwas, das Ihnen noch aufgefallen ist?«, fragte er hektisch.

»Es war dunkel … und er hat mir dieses Zeug ins Gesicht gesprüht … ich konnte nichts mehr sehen.« Lara rieb sich die Augen, die noch immer höllisch brannten. Ächzend erhob sie sich, ging vor der Couch in die Hocke und tastete nach ihrem Handy, um Raffael anzurufen.

»Ich will abreisen, jetzt sofort«, erklärte sie entschlossen, als sie eine halbe Stunde später mit Sylvia Hausmann im Wohnzimmer saß. Die Beamten der Spurensicherung, darunter auch Claudius Killing alias Schneemann, untersuchten die deaktivierte Alarmanlage auf Fingerabdrücke, derweil sich ein Notarzt Laras Schulter ansah und den Verband erneuerte. Sie hatte Glück gehabt, die Naht war wider Erwarten nicht aufgeplatzt.

»Ich fahre gleich ins Präsidium und leite alles in die Wege«, stimmte Hausmann ruhig und sachlich zu. »Mein Partner wird sicher gleich hier sein. Er bringt Sie dann zu Ihrem Exmann. Die Kollegen vom Zeugenschutz werden Sie und Ihre Tochter dann umgehend dort abholen und sich um alles Weitere kümmern.« Sie warf einen Blick auf die Uhr, als Magnus Kern, verstrubbeltes Haar und zerknittertes Hemd, zur Wohnungstür hereinkam.

Hausmann streckte Lara die Hand entgegen.

»Ich schätze, wir sehen uns dann nicht mehr. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Ein beherzter Händedruck, dann verschwand die Kommissarin.

»Wenn Sie dann so weit wären …«, räusperte sich Magnus Kern und lächelte ansatzweise.

Lara nickte. »Ich hole nur noch mein Gepäck aus dem Schlafzimmer.«

»Lassen Sie mal, ich mach das schon.« Er nahm ihre Koffer und ging voran.

Lara nutzte die Gelegenheit, um Torben anzurufen, erreichte aber nur seine Mailbox. Auf der Türschwelle zum Treppenhaus wandte sie sich ein letztes Mal um und warf einen Blick in die Wohnung, die jahrelang ihr Zuhause gewesen war. Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zurück ins Schlafzimmer. Mit ihrer gesunden Schulter schob sie die schwere Eichenkommode neben dem Bett beiseite. Sie ging auf die Knie, zwängte ihre Finger in einen Spalt im Holz und hob die Diele leicht an. Die darunter befindlichen Filmspulen waren mit den Jahren verstaubt. Es waren die letzten, wenn auch makabersten Erinnerungsstücke an ihre Mutter. Und wer auch immer diese Wohnung danach beziehen würde, sollte diese Aufnahmen keinesfalls zu Gesicht bekommen. Niemand sollte das.

Geschwind ließ Lara die Filmspulen in ihrer Reisetasche verschwinden und eilte mit klackernden Absätzen die Treppen hinunter.

Raffaels Wohnung lag im dritten Stock des Vorderhauses. Das Haus war ein denkmalgeschützter Altbau am oberen Ende der Schönhauser Allee. Küche und Wohnzimmer lagen zur Straße hin, die übrigen Zimmer gingen auf einen begrünten Innenhof.

Vor dem Nachbarhaus wimmelte es nur so von feierwütigen, betrunkenen Touristen, die vor einer portugiesischen Bar anstanden, die bis spät in die Nacht geöffnet hatte. Dem Plakat nach feierten die Besitzer zehnjähriges Jubiläum.

Magnus Kern parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Sie warten hier«, sagte er und stieg aus dem Wagen. Er überquerte die Straße und schob sich an der grölenden Meute vorbei zum Hauseingang. Lara blieb auf dem Beifahrersitz sitzen und sah, wie der Polizist seinen Zeigefinger nach dem Klingelknopf ausstreckte.

Niemand öffnete.

Er versuchte es weiter, doch die Tür blieb verschlossen. Lara legte den Kopf schräg in den Nacken und schaute mit gerunzelter Stirn zu Raffaels Wohnung hinauf. Alles dunkel.

»Ich dachte, Sie hätten Ihren Exmann angerufen?«, fragte Kern, wieder zurück am Wagen, eine Hand an der offenen Beifahrertür abgestützt, die andere in die Hüfte gestemmt.

»Das habe ich auch, er ist nicht rangegangen, ich habe ihm eine SMS geschickt.«

Mit nervösen Fingern durchsuchte sie die Reisetasche, bevor ihr wieder einfiel, dass sie ihr Handy hatte abgeben müssen. Kurz ärgerte sie sich darüber, ehe sie sich damit tröstete, dass sie sich ohnehin ein neues hatte zulegen wollen. Kern klappte sein Handy auf und ließ sich Raffaels Mobilnummer diktieren.

»Scheint ausgeschaltet zu sein«, stellte er Augenblicke später fest. »Sicher, dass es die richtige Nummer ist?« Er beugte sich zu ihr herunter und streckte ihr sein Handy entgegen.

Sie sah aufs Display. »Ja, die Nummer ist korrekt.«

Sie versuchten es mit Raffaels Festnetznummer, doch auch dort hob niemand ab.

»Verdammt«, fluchte Kern, ließ sein Handy zuschnappen und steckte es wieder ein. »Und jetzt?«

»Warten Sie.« Lara fischte einen Bund mit zwei Schlüsseln aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke. »Die hier habe ich ihm nie zurückgegeben – nur für Notfälle«, schob sie mehr aus Verlegenheit hinterher.

Kern nahm die Schlüssel an sich.

»Warten Sie, ich komme mit.«

»Sie rühren sich nicht von der Stelle.« Die Wagentür fiel zu.

Angespannt blieb Lara sitzen, während Kern im Hausflur auf der anderen Straßenseite verschwand. Endlose Minuten verstrichen. Misstrauisch beäugte Lara die Gesichter der Männer auf der anderen Straßenseite, und immer wieder schnellte ihr besorgter Blick zu Raffaels Wohnung hinauf. Je länger Magnus Kern wegblieb, desto stärker manifestierte sich in ihr das Gefühl, dass da oben irgendetwas nicht stimmte. Und obwohl es eine schwülwarme Sommernacht war, fröstelte sie. Plötzlich sah sie Licht in der Wohnung brennen. Sofort stieg Lara aus dem Wagen und steuerte auf die gegenüberliegende Straßenseite zu.

An der Haustür kam ihr Kern entgegengeschossen. Sein kantiges Gesicht war blass wie das Antlitz eines Toten, seine Augen weit aufgerissen.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, keuchte er und schob Lara beiseite. »Gehen Sie da nicht hoch!« Er rannte zum Wagen und gab einen Funkspruch an alle Einheiten durch.

Laras Herz begann zu rasen.

»Sagen Sie mir sofort, was da oben los ist!«

»Frau Simons, bitte setzen Sie sich zurück in den Wagen! Ich will nicht, dass Sie …« Doch er sollte nicht mehr dazu kommen, den Satz zu beenden.

Lara hastete mit Riesensätzen das Treppenhaus hinauf.

Nicht ahnend, dass sich ihr Momente später in Raffaels Wohnung ein Anblick offenbaren würde, der dem Wort Schmerz eine ganz neue Dimension verleihen und sie bis ans Ende ihres Lebens verfolgen sollte.