Kapitel VIII

Fallanalyse an Bord

Kapitän Jacobsen war nicht gerade begeistert, stellte dem gemischten Ermittlerteam aber im Staffbereich einen Besprechungsraum samt modernem Smartboard zur Verfügung.

„Ich mache das nur unter Vorbehalt“, sagte Jacobsen, „aber ich will Ihrem Austausch auch nicht im Weg stehen.“

„Wir möchten Ihnen für dieses Entgegenkommen wirklich danken“, antwortete Thorsten Büthe.

„Dafür verlange ich aber, dass Sie alle absolutes Stillschweigen über Ihre Zusammenkunft bewahren“, fuhr der Kapitän fort. „Haben wir uns verstanden?“

Die Gruppe nickte zustimmend.

„Das gilt nicht nur den Passagieren gegenüber, sonder ebenso für das Bordpersonal.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Thorsten, „das können wir Ihnen zusichern. Ich bin überzeugt, das gilt auch für unsere norwegischen Kollegen.“ Er sah Magnus und Ingrid an.

„Klar, das versteht sich von selbst“, sagte Andresen trocken.

Magnus Andersen hatte seinem Chef, Inger Olsen, von neuen Ermittlungsansätzen und einem möglichen Tatzusammenhang berichtet, die nur an Bord zu klären waren. Die Kooperation mit den deutschen Beamten hatte er bewusst unterschlagen.

„Und?“, fragte seine junge Kollegin, Ingrid Larsen, unsicher. „Wie hat er reagiert?“

„So wie ich es erwartet habe. Er wurde aus Bergen schon informiert und gebrieft, dass wir mit den bornierten Profilern aus Deutschland sympathisieren. Olsen hat getobt. Sollte er erfahren, dass wir gemeinsam an dem Fall arbeiten, können wir nach Rückkehr vor dem Schloss von König Harald als Palastwache stehen. Wir brauchen Erfolge, sonst bekommen wir den Anschiss unseres Lebens“, stellte Magnus Andersen klar.

Thorsten eröffnete die offizielle Analysephase. „Dann lasst uns erfolgsorientiert loslegen. Habt ihr die Unterlagen und Fotos von der toten Frau im Botanischen Garten?“

Das gemischte Team rief sämtliche Informationen zum Opfer, die Tatortberichte und das rechtsmedizinische Sektionsprotokoll samt den entsprechenden Fotos auf.

Ingrid Larsen stellte die bisherigen Erkenntnisse vor: „Nach den aktuellen Ermittlungen hatte sich Frida Iversen im Botanischen Garten fernab der Hauptwege auf einer Decke unter einen Baum gesetzt. Sie wollte sich wohl auf eine Klausur vorbereiten. Man fand entsprechende Unterlagen sowie eine Thermoskanne Tee am Tatort vor. Laut rechtsmedizinischem Gutachten wurde sie von hinten mit drei kräftigen Stichen in die rechte Halsseite getötet, die sowohl die Halsarterie, die rechte Halsvene als auch die Luft- und Speiseröhre durchsetzten. Der Tod muss unmittelbar eingetreten sein. Abwehrverletzungen in Form von Schnitt- und Stichwunden an Armen, Händen und Fingern fanden sich nicht. Sie muss von dem Angriff völlig überrascht worden sein. Hautvertrocknungen an Ober- und Unterlippe sprechen zudem dafür, dass ihr der Täter kräftig den Mund zugehalten haben muss, um sie am Schreien zu hindern. Vermutlich noch in der Agonie dürfte der Täter dann die Kopfhaut vom Scheitel beginnend bis zum Nacken in Form eines Skalps samt den langen blonden Haaren abgetrennt und mitgenommen haben. Das Messer muss eine Klingenlänge von mindestens 18 Zentimetern und eine Mindestbreite von vier Zentimetern aufweisen. Die Tatwaffe wurde nicht aufgefunden, weitere Spuren oder gar Zeugen sind nicht vorhanden. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Skalp in Thorstens Koffer entdeckt wurde. Mehr haben wir nicht.“

Das Team ging die Befunde nach und nach ausführlich durch und betrachtete jedes Foto minutenlang, um auch die letzten Details herauszulesen, damit ihnen nicht der kleinste Hinweis entging.

Niemand konnte sich dem schrecklichen Anblick entziehen. Sie mussten ausblenden, was jeder Normal­sterbliche empfinden musste, der diesen optischen Eindrücken ausgesetzt war, denn jetzt ermittelten sie.

Die tote Frau war blutüberströmt an einen Baum gelehnt worden. Die Decke, die die Studentin genutzt hatte, lag geordnet etwa zwei Meter vor dem Opfer, wobei eine blutige Schleifspur zum Leichnam führte.

„Okay, dann beginnt jetzt unser Job“, eröffnete Thorsten die erste Phase der sogenannten Fallanalyse dieses Tötungsdeliktes mit der Tatrekonstruktion. „Was seht ihr auf den Fotos? Was fällt euch auf?“

Nina begann. „Frida war eine sehr attraktive Frau. Jung, blond, eine tolle Figur und große Brüste. Ihre Kleidung scheint aber unangetastet zu sein. Spricht nicht gerade für ein Sexualdelikt.“

Magnus warf ein: „Vielleicht wurde der Täter ja gestört?“, worauf Nina erwiderte: „Na ja, die Zeit zum Skalpieren hat er sich ja immerhin noch genommen, oder?“

Kristin führte weiter aus. „Schaut euch mal die Blutabrinnspuren an. Sie verlaufen sowohl aus den Halswunden als auch aus der abgetrennten Kopfhaut von oben senkrecht nach unten und sammeln sich pfützenartig im vorderen Hüftbereich.“

„Jetzt bin ich ja mal gespannt, was das aussagen soll“, warf Ingrid Larsen ein.

„Das will ich dir erklären“, fuhr Kristin fort. „Es spricht objektiv dafür, dass der Täter das Opfer nach den Halsstichen sofort in einer aufrecht sitzenden Position nach hinten gezogen und sie wiederum im Sitzen skalpiert haben muss. In der gesamten Angriffsphase ist sie nie zum Liegen gekommen, sonst hätten wir horizontale Abrinnspuren zu den Seiten finden müssen. Das war ein Ablauf, und der ging ratzfatz.“

Ingrid Larsen nickte anerkennend.

Thomas Schulte trat ans Smartboard. „Schaut euch die Decke an. Im hinteren Drittel zum Leichnam finden wir starke Blutstropfen und die beginnende blutige Schleifspur. Die flächigen Blutspuren auf der Decke sind unterbrochen. Seht ihr das? Genau hier. Glaubt ihr, dass ein Opfer, das auf einer Decke sitzt, nicht einmal zuckt, während ihm in den Hals gestochen und der Mund zugehalten wird? Es ist keine Schaufensterpuppe und wird versuchen aufzustehen oder zumindest zu strampeln. Das wird Frida auch getan haben. Schaut mal diese Blutspuren an. Es sieht aus, als seien sie erst flächig auf eine gefaltete Wolldecke aufgetragen und die Decke dann im Nachhinein wieder glatt gezogen worden“, mutmaßte Thomas und fuhr erklärend fort. „Nehmen wir mal an, Frida wird mit aufrechtem Oberkörper auf der Decke angegriffen. Sie schafft es nicht mehr, sich gegen die Stiche zu wehren, versucht aber, in eine aufrechte Position zu kommen, sich zu drehen oder in eine andere Position zu kommen. Blut tropft und läuft am Körper herunter auf die Decke, wo es sich teilweise flächig ausbreitet. Durch die Dynamik wird die Decke verschoben und faltig. Der Täter zieht sein Opfer dann auf den Rasen zu dem Baum, um es dort anzulehnen. Haarreste und Blut am Baumstamm implizieren, dass erst hier die Kopfhaut abgetrennt worden sein kann. Wenn ihr euch die Decke jetzt noch mal mit diesen Gedanken anschaut, fällt doch auf, dass sie total glatt und geordnet am Boden liegt. Die vorher flächigen Blutspuren sind auseinandergerissen und weisen freie, nicht beblutete Areale auf. Selbst wenn der Mörder den Leichnam darüber wegzieht, wäre sie nicht faltenfrei. Könnt ihr das nachvollziehen?“ Thomas blickte in die Runde, alle nickten.

Carlotta hakte ein: „Ihr meint, dass der Täter die Decke geordnet haben muss, nachdem er dem Mädchen die Kopfschwarte abgetrennt hat? Frei nach dem Motto ‚Ordnung muss sein‘?“ Das wäre wirklich kaum zu fassen.

Mit Blick auf die Psychologin stellte Maik Holzner fest: „Das wird dann wohl deine psychologische Herausforderung sein, das zu erklären, Carlotta.“

„Ich finde das echt total spooky!“, kommentierte die Angesprochene.

Thorsten resümierte: „Wir haben hier also einen Täter oder eine Täterin, denn denkt an Omi mit ihrem Rollator, der weder den durchaus sichtbaren sexuellen Reizen des Opfers erliegt noch Interesse an dessen Wertsachen zeigt. Er trennt den blonden Haarschopf samt Kopfschwarte ab und ordnet anschließend die Wolldecke mit den Unterlagen der Studentin. Dann führt die Spur zu der älteren Dame, die mir den Skalp in ihrem Koffer vor der ,Norwave‘ untergeschoben hat. Ich bin schon gespannt, was euer Chef dazu sagen wird, wenn ihr ihm diese Variante vorstellt“, frotzelte der OFA-Leiter und regte an: „Dann lasst uns die Situation im Park und auf der Decke samt Angriff, Tötung und Verlagerung mal praktisch rekonstruieren und einen botanischen Garten auf einem Kreuzfahrtschiff bauen.“

Das Team stellte alle erdenklichen Sitz-, Angriffspositionen und Verlagerungen des toten oder zumindest schwerstverletzten Opfers nach. Eine geordnete Decke wie auf den Tatortfotos zu hinterlassen, bekamen sie einfach nicht hin.

Nachdem man sich so ein tieferes Fallverständnis erarbeitet hatte, galt es einzuschätzen, welche Beziehung zwischen Opfer und Täter bestanden haben könnte. Waren sich beide schon einmal begegnet? Kannte nur der eine den anderen oder die andere? Oder war die Studentin nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und somit ein reines Zufallsopfer? Was aber war für den Täter dann der Auslöser für eine solche Tat, wenn persönliche, sexuelle und Bereicherungsmotive nicht infrage kamen? Warum hatte man Frida Iversen skalpiert und den Skalp sogar mitgenommen? Als Trophäe? Täter, die Souvenirs ihrer Opfer sammeln, behalten sie in der Regel, um ihre Tat immer wieder Revue passieren zu lassen. Man übergibt sie nicht einfach so einer anderen Person, schon gar nicht einem Profiler auf einem Kreuzfahrtschiff. Vielleicht war es ja wirklich reiner Zufall, und es hätte auch den Bäcker aus Wanne-Eickel treffen können. Schließlich hatte er der Dame mit Rollator seine Hilfe aufgedrängt, nicht umgekehrt.

Das Team versuchte noch, die Rolle der älteren Dame einzuordnen. Konnte sie trotz ihrer unverkennbaren Gebrechlichkeit die Täterin sein? Welche Rolle hatte sie in der Tatabfolge? Sie mussten spekulieren, so blieb das Ergebnis offen. Die Profiler waren nun mal wie bereits erwähnt keine Hellseher.

„Dann betrachten wir doch jetzt Fall zwei“, schlug der OFA-Leiter vor. „Wann genau haben wir im Team darüber gesprochen, dass wir mit der Fløibahn auf den Berg fahren wollen? Wo könnte jemand etwas davon mitbekommen haben?“, hinterfragte Thorsten.

„Gestern Abend in der Bar haben wir über den Ausflug gesprochen und auch die Abfahrtzeit des Shuttlebusses vereinbart. Ebenso könnte uns natürlich heute auch wer beim Frühstück belauscht haben“, erwähnte Thomas.

„Oder im Fahrstuhl, auf dem Flur, auf der Gangway, oder, oder, oder“. . ., warf Kristin ein. „Interessant ist ja, dass der Mörder auch erst um acht Uhr von Bord konnte. Dann musste er oder sie erst mal oben im Trollwald ankommen, sich ein passendes Opfer suchen, töten, skalpieren und entkleiden. Anschließend die Klamotten in dem Gebüsch platzieren, ebenso Tanga und BH, bevor wir oben angekommen waren. Echt sportlich“, fuhr die Profilerin fort.

„Du hast vergessen, dass unser Täter oder unsere Täterin vorher eine Skizze zeichnen und sie Thorsten – wo auch immer – zustecken musste. Darauf ist aber schon der Ort und in etwa die Fundsituation des Leichnams eingezeichnet. Woher weiß unser Täter denn zu diesem Zeitpunkt schon, dass er dort ein geeignetes Opfer finden, töten und es genauso platzieren kann?“, wandte Maik ein.

„Wir brauchen die Listen sämtlicher Nutzer der Shuttlebusse vor und mit uns und wenn möglich, auch eine der ersten Passagiere der Fløibahn, einschließlich der, die wir genutzt haben. Kannst du das veranlassen, Magnus?“, bat Thorsten seinen norwegischen Kollegen.

„Wie kommt man denn außer mit der Fløibahn nach oben? Mit einem Leihwagen, Taxi oder was gibt es noch?“, warf Nina ein.

„Das checken wir“, bot Ingrid Larsen an.

Carlotta wirkte nachdenklich. „Glaubt ihr, unser Täter kennt sich so gut aus und wusste bereits, wen und wo er töten wollte, als er die Skizze zeichnete? Müssen wir wirklich sicher sein, dass der Täter an Bord war?“

„Hattest du gestern auch deine Windjacke an, Thorsten?“, hakte Kristin nach.

„Nein. Die habe ich extra für den Ausflug angezogen. Die Zeichnung kann erst am Morgen in der Tasche platziert worden sein. Ob schon an Bord, im Bus oder erst vor oder in der Gondel, kann ich nicht sagen. Da war ja ein totales Gedränge“, erinnerte sich Thorsten Büthe.

„Können wir denn ausschließen, dass unser Täter erst in den Trollwald gefahren, dort getötet, die Skizze gezeichnet hat, wieder runtergefahren ist und dir erst dann die Zeichnung zugesteckt hat?“, hinterfragte Nina Bachmann.

„Sicher“, warf Maik ein, „nur wenn das so ist, kann er eigentlich nicht an Bord gewesen sein. Aber wie will der Täter erfahren haben, dass wir die Tour mit der Fløibahn gebucht haben? Hätten wir nämlich die Stadtrundfahrt gewählt, wäre dieser Plan überhaupt nicht aufgegangen.“

Carlotta war sich unsicher, ob sie ihre Hypothese einwerfen sollte, tat es dann aber doch. „Mit zwei Tätern könnte es klappen. Einer tötet, einer zeichnet und platziert die Skizze. Dann fällt unser Zeitproblem weg, und wir hätten die Omi wieder im Spiel. Vielleicht war dann sogar nur einer oder eine an Bord, und der eigentliche Mörder reist parallel mit.“

Stille.

„Puh, das muss ich erst mal sacken lassen. Können wir feststellen, ob es möglich ist, Anrufe an und von Bord zu erfassen? Falls es so war, wie Carlotta vermutet, müssten die beiden ja irgendwie zwischen Schiff und Festland kommuniziert haben“, stellte Thorsten fest.

„Ich lasse das über den Kapitän und die Kollegen in Bergen klären“, sagte Magnus Andersen zu. „Auch in Oslo versuche ich mein Bestes. Vielleicht gibt es ja Doppeltreffer.“

„Haben wir schon Näheres zum Opfer? Gibt es Angaben, wann die Frau in den Trollwald gegangen ist? Was ist mit ihren Handydaten? Bringt uns eine Todeszeitbestimmung der Rechtsmedizin weiter? Was hat eigentlich der riesige Troll ausgesagt? Wie hieß der noch mal?“, fragte Maik.

„Børre Thorsen“, erklärte Ingrid Larsen. „Er konnte noch nicht vernommen werden, da sein Betreuer bislang nicht erreicht wurde. Allein kommen die Kollegen nicht an ihn ran. Die Ermittlungen zum Opfer laufen noch. Es handelt sich um Edith Hansen. Sie studierte Geschichte und schrieb ihre Bachelorarbeit über Trollskogen. Die Eltern leben im Norden Norwegens. Man hat sie erst gestern Abend informiert. Leider sind sie bisher nicht vernehmungsfähig, das kann dauern. Der Sektionsbefund liegt auch noch nicht vor, aber wir sollten nicht darauf vertrauen, dass sich die Todeszeitbestimmung auf Minuten festlegen lässt. Edith Hansens Handy ist gespiegelt. Die Daten müssten wir heute bekommen“, sagte Ingrid Larsen.

„Okay, dann lasst uns das abwarten, bevor wir alles umwerfen müssen. Ihr seht, wir können momentan noch nichts ausschließen und sollten offen bleiben. Ich weiß nur, dass ich beim Sprint auf den Berg ganz bestimmt keiner alten Dame mit Rollator gefolgt bin“, erklärte der OFA-Leiter.

„Bist du dir sicher, Thorsten? Von einem Sprint hatte ich bislang andere Vorstellungen. Ich würde nicht ausschließen, dass eine Täterin mit einem Rollator schneller wäre als du“, frotzelte die Psychologin.

„Liebe Kollegen aus Oslo, würdet ihr euch bitte kurz umdrehen und ein Lied pfeifen, während ich die Psycho-Tante von Bord werfe“, bat Thorsten mit einem Augenzwinkern.

„Warten wir ab, was die Erkenntnisse aus Bergen und hier an Bord ergeben. Vielleicht kommen wir ja über die Listen der Shuttlebusse oder die Ausflügler zum Fløyen weiter. Nina, Kristin, könnte ihr das bitte übernehmen? Thomas, Maik, würdet ihr bitte die Kameras mit dem Security Offizier checken und vor allem aufmerksam bleiben. Wir treffen uns vor dem Abendessen um 17 Uhr und bereiten den nächsten Landausflug vor. Ingrid, Magnus, ich würde es begrüßen, wenn ihr die Kollegen in Hellesylt und dann auch gleich in Geiranger sensibilisieren könntet. Ich möchte nicht wieder mit einer neuen Frauenleiche konfrontiert werden“, erklärte der Profiler.

„Ich glaube, du gehst von falschen Voraussetzungen aus. Hellesylt hat maximal 700 und Geiranger keine 300 Einwohner. Wenn wir Glück haben, gibt es dort einen kleinen Polizeiposten, mehr nicht“, gab Magnus zu bedenken.

„Oh, dann wird sich der eine oder werden sich die beiden Kollegen aber freuen“, frotzelte Büthe und löste die erste Analysephase auf.

Man trennte sich, vereinbarte aber, am Abend wieder zusammenzukommen. Etwas freie Zeit würde allen guttun, fanden sie. Die Mädels hatten beschlossen, gemeinsam etwas essen zu gehen. Sie einigten sich darauf, das heutige Büffet zu inspizieren, da Kristin noch unentschlossen war, was sie kulinarisch ansprechen würde. Nina und Carlotta hatten es auf Fisch und Salat abgesehen. Kristin lud sich eine bunte Mischung kleiner Köstlichkeiten auf den Teller. Bei einem Glas Wein kam man unwillkürlich wieder auf die Fälle zu sprechen.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Carlotta mit ihrer Vermutung recht hat. Ein Täter allein könnte das alles so überhaupt nicht inszenieren“, sagte Nina nachdenklich und spießte ihre Gabel wieder in den Heilbutt.

„Einfacher wäre es in der Tat“, gab Kristin widerstrebend zu, „aber wir sollten auch weiter durchdenken, wie es einem Mörder allein gelungen sein könnte. Vielleicht haben wir es mit einem Verkleidungskünstler zu tun, der genau die Reise vor dieser Fahrt schon einmal unternommen hat. Dabei wäre es ihm möglich gewesen, alles genau zu planen. Auch die Zeichnungen hätte er daraufhin schon anfertigen können.“

„Dann hätte er immer einer der ersten Passagiere sein müssen, die das Schiff an den Häfen verlassen haben. Anders klappt es nicht“, wandte Carlotta ein.

Nina grinste. „Warum nicht gleich drei Täter? Mutter und Tochter an Bord, damit es unauffälliger wirkt und deren Partner an Land. Da würde doch ebenfalls ein Schuh draus. Auf jeden Fall könnte das auch den Auftritt der Oma erklären.“

„Ich glaube, eure Fantasie geht mit euch durch“, stöhnte Kristin. „Gleich erzählt ihr mir noch, wir seien die einzigen Passagiere an Bord, die nichts mit den Morden zu tun haben.“

„Na gut“, sagte Nina, „legen wir das Thema vorübergehend auf Eis. Apropos Eis. Hat jemand von euch Bock auf ein Dessert? Wenn wir schon kalorienmäßig beim Hauptgang gespart haben, können wir uns doch jetzt eine Nachspeise gönnen.“

Kristin blickte auf ihren Teller mit Käse- und Ba­guetteresten, Butterflöckchen sowie Feigensenf. „Nicht grade wenig üppig, aber ich bin trotzdem dabei, wenn es um Eis geht.“

Gemeinsam stellten sie sich an. Nina schwor auf Zitrone und Mango, während sich Carlotta Schwarzwälder-Kirsch- und Tiramisu-Eis auffüllen ließ. Kristin liebte es klassisch, nahm aber noch Sahne auf Schokolade und Vanille. Sie beschlossen, das Dessert an Deck zu genießen und fanden eine ruhige Ecke direkt an der Reling.

„Boah, das ist Urlaub“, seufzte Nina und hielt ihre Nase in den Wind. Die Mittagssonne wärmte heute tatsächlich. „Wir sollten diese Momente der Entspannung ganz bewusst wahrnehmen.“

„Nach dem Motto: Wer weiß, wie lange sie andauern, oder was?“, stichelte Kristin.

„Es ist doch wichtig und vor allem erholungstechnisch relevant, das aktuelle Geschehen um uns herum auch mal komplett zu vergessen“, erinnerte Carlotta die beiden.

„Wenn’s denn wirklich klappt“, insistierte Kristin. „Denn wenn ihr ehrlich zu euch selbst seid, sind das ganz kurze Momente, aber der Gedanke an die ungeklärten Morde schleicht sich sofort von hinterrücks wieder an.“

„Also müssen wir an uns arbeiten“, schlug Carlotta vor. „Kein Wort mehr über Leichen, Morde, Täter, Skalps und Tatorte, sagen wir mal für die nächsten zwei Stunden? Stellt ihr euch der Herausforderung?“

„Nur nicht drüber reden oder auch nicht dran denken?“, hakte Nina nach.

Kristin schlug sich die Hände vor die Augen. „Letzteres lässt sich wohl kaum kontrollieren.“

Carlotta grinste. „Schätze, euch wird es schon schwerfallen, während des Gesprächs nicht in diese Thematik zu verfallen. Das andere wäre die Kür, und ich gebe dir recht, Kristin, die Gedanken sind natürlich frei. Sie sollten es auch bleiben. Egal wie sehr wir uns im Job vertrauen. Privat wird doch jeder mal flunkern oder zumindest nicht alles sagen, was er denkt.“ Sie fegte sich die Krümel von der Eiswaffel vom Rock.

„Geiler Fummel“, kam es von Nina. „Ist das der, den du in Bergen gekauft hast?“

„Du warst doch dabei“, wunderte sich Carlotta.

„Sie hat ihn vor unseren Augen anprobiert“, bestätigte Kristin. „Du hast ihr noch zum Kauf von diesem Hippieding geraten. Müssen wir uns Sorgen machen?“

„Nee“, schmunzelte Nina, „ich wollte nur mal was sagen, was mit nichts was zu tun hat. Ihr wisst schon was.“

„Also, wenn ihr keine anderen Themen habt“, sagte Kristin, „dann haue ich mich jetzt ein Stündchen aufs Ohr.“

„Sie geht auf Nummer sicher“, mutmaßte Nina. „Wenn sie allein ist, kann sie das locker durchhalten.“

„Ein bisschen Ruhe würde uns allen nicht schaden“, vermutete Carlotta. „Thorsten wird uns nachher wieder fordern. Ich möchte mich auch gerne ein bisschen zurückziehen und lesen.“

„Okay“, stimmte Nina zu. „Deine Idee mit den zwei Stunden Sendepause macht so zwar keinen Sinn. Aber egal, ich will noch ein bisschen was erleben. Mal sehen, was die Jungs so machen. Vielleicht kann ich mich da einklinken. Ansonsten wird mir schon was anderes einfallen. Dann bis nachher.“

„Wir fragen nach, ob du auch durchgehalten hast“, sagte Carlotta und lachte. „Bei uns ist das ja unstrittig.“

Nina tippte sich an die Stirn und ging lächelnd davon. Die Kolleginnen sahen ihr nach. Sie freuten sich darauf, sich in ihre Kabinen zurückziehen zu können.

Am frühen Abend kam das Team wieder zusammen und plante die Ausflüge in Hellesylt. Kristin und Carlotta waren gut erholt. Der volle Magen, das sanfte Bewegen des Schiffs und eine herzzerreißende Liebesszene in ihrem Roman hatte auch die Psychologin einnicken lassen. Kristin war sofort weg gewesen. Sie pflegte gelegentlich eine Art Power-Nap, aus dem sie nach kurzer Zeit wieder ausgeruht erwachte. Anschließend hatte sie einen Cappuccino mit Blick aufs Nordmeer getrunken. Nina schien die Zeit ebenfalls gut herumgekriegt zu haben. Sie wirkte direkt fröhlich.

„Lasst uns drei Teams bilden“, schlug der Chefprofiler vor und holte alle in die Realität zurück. „Nina tut sich mit Thomas zusammen, Kristin und Maik werden etwas gemeinsam unternehmen, ich gehe mit Carlotta. Ich würde es begrüßen, wenn ihr, Ingrid und Magnus, die Verbindung zu dem oder den Kollegen in Hellesylt aufnehmen und für den Fall der Fälle einen Einsatz koordinieren könntet. Wäre das für euch okay?“, erkundigte sich der OFA-Leiter. Die beiden norwegischen Kollegen nickten zustimmend.

„Es werden mehrere Ausflüge mit dem Bike und Boot angeboten, die in festen Gruppen geführt werden. Darauf würde ich keine Schwerpunkte setzen, da unser Täter in einer solchen festen Gruppe gebunden, unflexibel und leicht zu ermitteln wäre. Ich schlage vor, wir teilen uns auf. Die einen unternehmen einen kleinen Bummel durch Hellesylt, die anderen beiden bereiten sich auf den Besuch der Aussichtsplattform Ljøen und den der Wasserfälle vor. Kristin und Maik, welchen Part übernehmt ihr?“, fragte Thorsten Büthe in die Runde.

Die beiden stimmten sich kurz ab. „Wir besuchen den Ljøen.“

Mit Blick auf Nina und Thomas fragte Thorsten: „Und ihr?“

„Wir bummeln durch Hellesylt, oder, Thomas?“, schlug Nina vor. Dem jüngsten Profiler blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, auch wenn er sich selbst für einen der anderen beiden Orte entschieden hätte.

„Okay, dann genießen Carlotta und ich den Blick auf die beiden Wasserfälle. Wir haben eh nur einen Aufenthalt von knapp drei Stunden, dann geht es schon weiter“, schränkte Thorsten ein.

„Achtet auf junge Blondinen und auf Mörderinnen mit Rollatoren“, scherzte Thomas.

„Nein, im Ernst“, sagte Thorsten, „achtet darauf, ob euch irgendjemand etwas zusteckt oder anhängt. Bleibt sensibel und passt auf euch auf. Kein Risiko, ihr seid unbewaffnet und nur als Touristen unterwegs. Nicht, dass wir jedes Mal verhaftet werden, wenn wir einen Landausflug machen. Ich hoffe aber, ihr beiden haut uns notfalls wieder raus“, dabei blickte der leitende Profiler auf die beiden norwegischen Kollegen und lachte.