Kapitel X

Heiße Spur in Hellesylt

Es toste und donnerte. Gischt lag in der Luft. Schon von Weitem erblickten Carlotta und Thorsten die beiden Wasserfälle, die oberhalb der Brücke in Hellesylt zusammenflossen und ein beeindruckendes Naturschauspiel in die Landschaft malten. Mit gewaltiger Kraft bahnte sich das abschmelzende Eis der umliegenden Bergmassive als Wasserfall den Weg durch felsiges Granitgestein und zerschnitt den Ort und den Hafenbereich in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Zwei Brücken führten über den Fluss, von denen aus sich das Naturschauspiel aus der Nähe bewundern ließ. Dort angekommen mussten Carlotta und Thorsten allerdings feststellen, dass sie ihre Ausflugsidee mit Hunderten anderen Landgängern teilten.

Thorsten fiel neben den Bordfotografen der „Norwave“ eine junge Norwegerin auf, die Portraitshootings vor den Wasserfällen anbot. Sie hatte ihre langen blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und sah wie Pippi Langstrumpf aus, nur viel attraktiver. Ihre Posings waren witzig und kamen bei den Touristen gut an.

„Hey, Carlotta, was hältst du von einem Paarshooting?“, fragte Thorsten euphorisch, wusste aber auch, dass Carlotta Fotos hasste. Sie empfand sich als unfotogen, was aus seiner Sicht definitiv nicht stimmte und zierte sich.

„Komm, wenn nicht für mich, dann fürs Vaterland. Die Fotografin könnte das nächste Opfer sein, und wir haben es in der Hand, das zu verhindern. James Bond hatte auch nie eine Wahl“, befahl Thorsten fast und sprach die junge Fotografin an. In perfektem Englisch bot sie gegen umgerechnet 20 Euro ein Shooting samt fünf Fotos an, die sie bearbeitet an Thorstens E-Mail-Adresse schicken würde. Das war fair, empfand der nebenberufliche Hochzeitsfotograf. Als die Fotografin vorschlug, dass sich Carlotta und Thorsten umarmen und er sie hochheben und küssen sollte, hätte James Bond für das englische Königreich sicher zugesagt und alles umgesetzt, was die Fotografin gefordert hätte. Thorsten allerdings klärte auf, dass sie nur Kollegen auf der „Norwave“ seien und das Posing nicht so intim ablaufen sollte, was sie aber sofort berücksichtigte. Auch Carlotta fiel ein Stein vom Herzen. Sie ließ sich ohnehin nur darauf ein, um das Leben der Fotografin zu retten. Thorsten hinterließ eine private Visitenkarte mit seiner E-Mail-Adresse und zahlte samt Trinkgeld 25 Euro.

Thorstens Handy vibrierte. Magnus rief an.

„Hallo, Thorsten, ich habe den Sous Chef gerade überprüft. Er ist Deutscher, heißt Heiner Waldhoff und ist 34 Jahre alt. Er hat weltweit in Hotels gearbeitet und ist seit zwei Jahren auf der ,Norwave‘ als Sous Chef. Vorstrafen sind keine bekannt. Er hat gerade das Schiff verlassen und fährt mit einem E-Bike in den Ort. Ich schicke dir gleich ein Foto“, kündigte der Politbetjent 2 an.

„Kannst du an ihm dranbleiben, Magnus?“, fragte Thorsten interessiert.

„Leider nein, ich organisiere gerade die Abholung von Ingrid und bin noch an Bord“, entschuldigte sich der norwegische Ermittler.

Thorsten Büthe berichtete Carlotta, was Magnus ihm erzählt hatte. „Lass uns die Fotografin mal im Auge behalten. Der Sous Chef, der von Ingrids blonder Mähne so angetan war, ist mit einem E-Bike in Hellysylt unterwegs. Ich werde die Teams informieren.“

Thorsten führte kurze Telefongespräche mit den anderen Profilern und hoffte, diesmal einen neuen Mord verhindern zu können. Dann nahm er seine Fujikamera aus dem Rucksack und fotografierte die junge Fotografin unauffällig.

„Die ist aber niedlich“, lobte Carlotta und wies auf den Anhänger mit der kleinen Kamera an Thorstens Fototasche.

„Scheiße, der ist nicht von mir!“, entfuhr es ihm. Sofort informierte er die beiden Teams über die vermutete Botschaft. „Achtet auf Fotografen und alles was mit Fotos zu tun haben könnte!“, forderte er die anderen Profiler auf. Danach rief er auch den norwegischen Kollegen an. „Magnus, kannst du Kräfte der örtlichen Polizei mobilisieren? Wir müssen handeln und zwar schnell.“

Magnus wurde hektisch. „Okay, ich will versuchen, was ich tun kann. Ich melde mich!“, versprach der Politbetjent 2.

Dann wandte sich Thorsten an die Psychologin.

„Carlotta, wir lassen die Fotografin nicht aus den Augen“, sagte er und verschaffte sich einen Überblick über das gesamte Umfeld. Da war er. Der Sous Chef hatte einen Sportrucksack geschultert und schritt direkt auf die Brücke an den Wasserfällen zu. Er verharrte, blickte sich um, fixierte die junge Fotografin und ging zielstrebig auf sie zu.

„Los, Carlotta, du musst jetzt posen, ob du willst oder nicht. Wir müssen unbedingt näher ran. Stell dich neben die Fotografin und versuch, ob du rauskriegen kannst, über was sich die beiden unterhalten.“

Die Psychologin begriff augenblicklich und posierte fast direkt neben der blonden Norwegerin. Sie riss die Arme hoch, legte eine Hand in die Hüfte und bewegte sich wie ein Topmodel. Thorsten hatte seinen Zoom unauffällig so eingestellt, dass er sein Modell zwar fokussierte, aber auf jedem Foto den Sous Chef und die Frau mit den Zöpfen mitablichtete. Plötzlich wandten sich beide ab und gingen eine Treppe zum Fluss hinunter.

„Carlotta, hast du was verstanden?“, fragte Thorsten seine Psychologin.

„Er hat sie beim Namen ,Nikki‘ genannt und ein Shooting unten am Fluss vereinbart, hier oben ist es ihm zu touristisch. Es klang alles sehr vertraut. Misstrauisch war die Fotografin nicht“, informierte Carlotta Bayer-Westholdt ihn.

Thorsten griff zum Handy und forderte seine Teams und auch Magnus auf: „Ich brauche euch hier, kommt schnellstmöglich zu den Wasserfällen.“

Doch ihm lief die Zeit davon. Bis seine Teams vor Ort waren, konnte es längst zu spät sein. „Carlotta, schnell. Wir müssen da runter!“, forderte der OFA-Leiter.

„Thorsten, ich bin keine Polizistin, was soll ich dort tun?“, fragte die Psychologin.

Thorsten stutzte. Sie hatte recht. „Okay. Bleib hier oben und erzähl den anderen alles, sobald sie hier sind. Ich gehe runter“, kündigte Büthe an.

„Bist du wahnsinnig? Du bist keine zwanzig mehr. Warte auf Verstärkung!“, forderte Carlotta vergebens.

Zu spät, der Chef-Profiler sprintete schon zur Treppe und lief sie hinunter. Er zog ein Einbeinstativ aus Carbon aus seinem Rucksack, welches er als Schlaginstrument nutzen konnte, falls es zu einem Kampf kommen sollte.

Er sah, wie Heiner Waldhoff seinen Rucksack von der Schulter nahm, hineingriff und auf die Fotografin zuging. Thorsten würde nicht mehr rechtzeitig zur Steille sein, das war nicht zu schaffen. „Hey!“, rief er. „Das ist ja eine coole Fotolocation. Darf ich mitmachen?“

Der Sous Chef und auch die Fotografin waren überrascht, wobei sich Heiner Waldhoff am schnellsten wieder fing. „Hallo, Sie sind doch auch von der ,Norwave‘. Prima, wir wollten gerade ein Selfie vor dieser wahnsinnigen Kulisse schießen. Wären Sie so freundlich und würden das für uns übernehmen?“

Thorsten hatte ein Messer in der Hand des Angreifers erwartet, es war aber sein Handy.

„Gern“, erklärte er sich bereit, übernahm das Handy des Sous Chefs und fotografierte so viel er konnte, um Zeit zu gewinnen. Plötzlich kamen Nina und Thomas die Treppe heruntergelaufen. Carlotta folgte ihnen atemlos. Unmittelbar später rannten auch Magnus und ein uniformierter Polizist zum Fluss hinunter auf die Gruppe zu.

„Was soll das denn jetzt?“, fragte Heiner Waldhoff verwundert. Magnus stellte sich auf Deutsch als norwegischer Polizist vor und forderte den Sous Chef der „Norwave“ auf, dem uniformierten Beamten auf die Polizeistation zu folgen. Alles Weitere würde man ihm dort erklären. Thomas begleitete die beiden zur Sicherheit. Magnus nahm den Rucksack an sich und durchsuchte ihn. Ein Messer fanden sie nicht.

Auch die Fotografin wurde von den örtlichen Polizisten als Zeugin befragt. Sie konnte erklären, dass sie Heiner Waldhoff seit Langem kannte und er sich auf seinen Touren in Hellesylt und auch in Geiranger immer von ihr fotografieren ließ. Die blonde, junge Frau erwartete dort ebenfalls die Kreuzfahrer, um sie an der berühmten Kapelle und dem Dalsnibba Skywalk fotografieren zu können. In letzter Zeit hatten sie als Erinnerung stets ein Selfie mit Heiner geschossen. Sie konnte den Beamten diese Fotos der letzten Touren vorweisen, die den Sous Chef und die junge Fotografin an den Wasserfällen in Hellesylt und den Sehenswürdigkeiten in Geiranger zeigten.

Bei der Befragung des Sous Chefs konnte dieser die Angaben bestätigen. Als sich zudem herausstellte, dass er zur Tatzeit in Bergen die gesamte Zeit an Bord gewesen war, um neue Lebensmittelvorräte einzulagern, mussten sich die Beamten bei ihm für die Unannehmlichkeiten und die falschen Verdächtigungen entschuldigen.

Sie hatten sich geirrt und standen wieder am Anfang.

Immerhin war in Hellesylt kein neues Opfer zu beklagen. Es stand ihnen nach Rückkehr auf die „Norwave“ aber ein nicht gerade angenehmes Gespräch mit dem Kapitän bevor, der über die falsche Verdächtigung seines Sous Chefs wenig amüsiert war.

Von wem aber war der Anhänger mit der Kamera angebracht worden?