Kapitel XIII

Eidfjord

Felsformationen spiegelten sich in der Wasseroberfläche des Meeresarms, bevor die „Norwave“ sie mit ihrem Kiel durchschnitt. Die Einfahrt in den 28 Kilometer langen Eidfjord zum Abschluss der Reise beeindruckte die Passagiere. Er ist der östliche Arm und nur ein kleiner Teil des Hardangerfjords, der mit rund 170 Kilometern Länge nach dem Sognefjord als der zweitlängste Fjord Norwegens gilt. Man konnte dessen ganze Dimension nur schwer begreifen. Es gab kaum einen Mitreisenden, der nicht an Deck war und Fotos schoss oder Videos drehte.

Als sie die Hardangerbrücke passierten, schien es kaum vorstellbar, dass hier zwei Schiffe kollidiert waren und dass die Fahrrinne dadurch für andere Kreuzfahrtschiffe blockiert werden konnte. Die Brücke hat immerhin eine Breite von fast 1400 Metern, und der Fjord ist an dieser Stelle etwa 500 Meter tief. Eine Durchsage des Kapitäns klärte die Situation auf. Er berichtete, dass die beiden Frachter vor ein paar Tagen nicht nur kollidiert und manövrierunfähig, sondern auch ineinander verkeilt gewesen waren. Durch die nicht unerheblichen Wasserbewegungen eines so großen Schiffes wie der „Norwave“ hätte es zu einem unkontrollierten Lösen der havarierten Frachtschiffe kommen können. Dieses Risiko hatte niemand eingehen wollen. Daher hatte sich der Kapitän in Abstimmung mit der Reederei für diese Routenänderung entschieden. Doch jetzt war es endlich so weit. Kurz nach der Brücke fuhr man in den Seitenarm des Hardangerfjords ein.

In dem beschaulichen Örtchen Eidfjord mit seinen kleinen Holzhäusern schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Malerisch lagen sie am Wasser. Ihre Fenster wirkten wie Augen, die seit unzähligen Jahren nach Besuchern Ausschau hielten. Im Kontrast dazu erschien der moderne Hafen mit dem Anleger für Kreuzfahrtschiffe erstaunlich modern. Wie auch in Geiranger konnten die Passagiere vom Pier aus den kleinen Ortskern zu Fuß erreichen.

An Deck musterte Bernd Neubert besonders die weiblichen Gäste. Der Alleinreisende war eigentlich ein Eigenbrötler, hübschen Damen gegenüber aber durchaus aufgeschlossen. Auf Beziehungen kam es ihm allerdings nicht an. Zu kompliziert, sagte er sich. Einen One-Night-Stand nahm er gerne mal mit, wobei sich die Dinge auf dieser Reise für ihn noch nicht zufriedenstellend entwickelt hatten. Es war nicht mehr viel Zeit. Nun blieb nur noch die Chance des letzten Hafens auf dieser Tour. Bernd musste sich bemühen, um wenigstens einmal seine Beute in die Kiste zu bekommen.

Er wirkte durchaus attraktiv, war mittelgroß, nicht zu schlank, nicht zu dick und hatte für seine 45 Jahre noch volles dunkelbraunes Haar. Er kleidete sich zwar recht konservativ, achtete aber auf eine stilvolle Kombination hochwertiger Kleidung. Bernd Neubert stellte sich gern mit seiner beruflichen Qualifikation als stellvertretender Abteilungsleiter vor, wobei er die korrekte Bezeichnung und den Zusatz „für Damenoberbekleidung eines Lüneburger Kaufhauses“ regelmäßig unterschlug. Er konnte also mit Frauen umgehen und Komplimente gezielt einsetzen. Ebenso war er in der Lage einzuschätzen, welches Outfit ihn aus der Masse seiner Konkurrenten hervorhob. Eine solche Investition war lohnenswert. Darüber hinaus bekam er als Führungskraft des Kaufhauses 25 Prozent Rabatt. Sein Auftreten war durchaus eloquent, die Inhalte der verkaufsfördernden Rhetoriklehrgänge ließen sich nicht nur in der Damenabteilung nutzen.

Darum war er sich seiner Sache sicher, als er sich einer attraktiven blonden Frau im Gedränge vor der Gangway näherte und sich von den drängelnden Passagieren mit seinem coffee to go an seine Beute quetschen ließ.

Die Auswahl der ermittlungstechnisch geeigneten Ausflüge in dem kleinen Örtchen Eidfjord war für das OFA-Team und auch Magnus Andersen begrenzt. In wenigen Minuten war der beschauliche Ort zu Fuß erkundet. Für die Busfahrten, die direkt an Bord gebucht worden waren, war die Besetzung nachvollziehbar. Allerdings konnte man auch in der Touristinformation am Hafen Busfahrkarten lösen, ohne seine Personalien zu hinterlassen.

Das OFA-Team hatte beschlossen, kleine Touren mit dem Trolltrain, einer rotblauen Bimmelbahn, die die Sehenswürdigkeiten in der Nähe verband, zu unternehmen. Kristin und Mike entschieden sich für die kleine Bahn, Carlotta und Thorsten nahmen sich einen ausgiebigen Stadtbummel vor. Das beliebteste Landausflugsziel in der Umgebung von Eidfjord war der bekannte Wasserfall des Landes, Vøringsfossen. Mit einer Fallhöhe von insgesamt 182 Metern und einem freien Fall von 145 Metern war er ein absolutes Highlight dieser Tour. Diesen Part hatten Nina und Thomas übernommen.

Magnus Andersen war schon vom Schiff aus in Kontakt mit der örtlichen Polizeistation getreten, in der er sich mit weiteren Ermittlern der Sonderkommission aus Ålesund traf. Sie hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, die Taten noch während der Reise der „Norwave“ zu klären.

Thorsten war froh, mit Magnus Andersen und den Ermittlern aus Ålesund Kollegen vor Ort zu haben, die wussten, wovon sie sprachen und die entsprechend engagiert agierten, wenn es zu einer weiteren Tat kommen sollte.

Das Team hatte sich beim Verlassen des Schiffes taktisch so verteilt, dass sie Thorsten und die Kontaktpersonen im Blick hatten, was sich in dem typischen Gedränge erneut als äußerst schwierig und beinahe unkontrollierbar erwies.

Direkt hinter dem OFA-Team ließ sich Sarah Langer aus Hannover von den anderen Passagieren treiben, als sie unsanft von der rechten Seite angerempelt wurde.

„Können Sie nicht aufpassen?“, sprach sie einen Passagier in ihrem Alter an.

Der jonglierte mit einem Pappbecher voll mit heiß dampfendem Kaffee, der geradewegs auf sie zuflog. Genau dieses Ziel erahnend, rief er: „Oh nein, Vorsicht!“, und warf sich reflexartig wie ein Bodyguard, der seinen Präsidenten vor einer Pistolenkugel schützen wollte, in die Flugbahn des heißen Kaffees. Das Heißgetränk ergoss sich über sein helles Sakko und hinterließ neben einem Verbrennungsschmerz nasse, dunkle Flecken auf der hochwertigen Kleidung.

„Sorry, ich bin geschubst worden. Das war aber knapp, fast hätten Sie meinen Kaffee abbekommen“, entschuldigte sich der attraktive Retter.

„Das war wirklich haarscharf. Danke für Ihre schnelle Reaktion. Tut es sehr weh? Der Kaffee war sicher heiß?“, erkundigte sich die Frau höflich und ergänzte: „Ihr Sakko hat auch etwas abbekommen. Das tut mir leid.“

„Immerhin besser, als hätten Sie oder Ihr Blazer das alles abbekommen. Mein Sakko lässt sich reinigen, und Hauttransplantationen sind heute in der Verbrennungsmedizin ja auch schon fortgeschritten. Nein ehrlich, ich bin froh, dass Sie der Kaffee nicht getroffen hat“, schmeichelte der Held. „Oh Entschuldigung, mein Name ist Bernd Neubert aus Lüneburg“, stellte er sich förmlich vor.

„Angenehm, trotz der Art der Begegnung, finde ich. Ich bin Sarah Langer aus Hannover. Man kann sich auch unspektakulärer kennenlernen“, entgegnete die sympathische Frau.

Die ganze Aktion hatte sich direkt hinter dem OFA-Team abgespielt. Thomas Schulte blickte zurück und flüsterte Nina zu. „Coole Anmache, da geht bestimmt noch was.“

Nina verdrehte die Augen. „Männer . . .“

Am Pier löste sich das Gedränge auf. Das OFA-Team teilte sich, und das Pärchen, das sich soeben kennengelernt hatte, blieb unschlüssig stehen.

„Oh, ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht von Ihrem Mann oder Ihrer Reisebegleitung getrennt“, wagte sich Bernd Neubert vor.

„Nein, ich reise allein und wollte mit dem Bus zum Wasserfall fahren. Und Sie?“, entgegnete Sarah Langer interessiert.

„Mir geht es ähnlich, der Wasserfall war eigentlich auch mein Ziel. Jetzt muss ich mich zumindest kurz reinigen. So kann ich ja nicht unter die Leute. Was sollen die Norweger von uns Deutschen denken?“, merkte der Lüneburger an.

„In der Touristeninformation sind bestimmt Toiletten. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie, dann können wir gemeinsam den nächsten Bus nehmen“, schlug die Hannoveranerin vor.

Bernd verschwand in den Herrentoiletten, was Sarah für eine kurze WhatsApp nutzte.

Als Bernd Neubert wieder herauskam, hatte er sich die Hände und sein Marco Polo-Shirt gereinigt. Sein durchfeuchtetes Sakko hatte er in der Hand und warf es theatralisch in den Papierkorb vor der Touristeninformation. „Das ist eh versaut. Man muss sich auch mal trennen können und Platz für Neues schaffen“, stellte er fest. Diese von Männern eher unbekannte Gabe, sich im Gegensatz zu den Jägern und Sammlern unter ihnen von Dingen trennen zu können, kam bei den meisten Frauen gut an. So setzte er es gezielt ein und hoffte zu punkten.

Erst jetzt wurde deutlich, was er wirklich gewonnen hatte: Zeit. Der letzte Bus fuhr vom Pier ab, und ihre Chance, Vøringsfossen aus der Nähe zu sehen schwand.

Sarah sah dem Bus nach. „Och nee! Das war der letzte. Und nun? Dann müssen wir hierbleiben.“

Aufzugeben war nicht der Stil von Bernd Neubert. Ein Mann von Welt hatte immer noch ein Ass im Ärmel. Vis-à-vis befand sich eine Vermietung von Twizys. Das waren kleine E-Mobile, die an den Seiten offen waren und in denen man hintereinandersitzen musste.

Bernd zeigte lässig mit dem Daumen über die Schulter und ermutigte Sarah euphorisch: „Mit dem fleckigen Hemd nimmt mich eh kein Busfahrer mit. Was halten Sie oder lieber du von einer abenteuerlichen Twizy-Tour?“

Die neue Begleitung war begeistert von seiner Spontanität und Lockerheit. „Okay, Sarah, gerne. Aber ist dir das nicht zu kalt ohne Jacke?“, sorgte sie sich.

Bernd fühlte sich bestätigt und wähnte sich kurz vor dem Ziel. „Wenn du mich fahren lässt, kannst du mich ja von hinten wärmen, dann ist es nicht ganz so schlimm.“

„Ich wäre sogar froh, wenn du dieses Ding fahren könntest. Ich traue mich da nicht ran. Zu deinem anderen Vorschlag: Schauen wir mal, auf welche Temperatur wir während der Fahrt kommen. Vielleicht kann ich mich ja für deine Rettung revanchieren“, flirtete Sarah ihren Begleiter an.

Voller Hoffnung auf einen krönenden erotischen Abschluss der Reise klärte Bernd die Formalien der Vermietung, während Sarah draußen vor den Schaufenstern der Souvenirläden flanierte. An einem Wollladen blieb sie interessiert stehen und ging hinein.

Als Bernd hinauskam, konnte er sie nirgends entdecken. „Sarah!“, rief er aus Angst, sie doch noch verloren zu haben und blickte traurig in alle Richtungen der kleinen Flaniermeile.

Als seine Angebetete aus dem Geschäft kam, strahlte er vor Glück.

„Ich stricke leidenschaftlich gern, und die norwegische Wolle ist wirklich einzigartig“, schwärmte Sarah ihm vor.

Mit Blick auf die Papiertüte mit Stricknadeln und Wollknäulen legte er seinen Dackelblick auf. „Ist es dir zu langweilig mit mir, dass du lieber was stricken möchtest?“, fragte er übertrieben desillusioniert.

„Quatsch, ich freue mich auf unsere erste gemeinsame Tour. Die Wolle ist für die Seetage an Bord. Wenn du lieb bleibst, sind vielleicht ein paar Socken drin“, bot sie an.

Bernd legte den Kopf zur Seite. „Ein Slip aus norwegischer Wolle wäre auch eine tolle Erinnerung an diesen Tag“, sagte er und grinste.

„Die paar Knäuel reichen höchstens für einen Stringtanga“, konterte sie frech.

Wie zwei ausgelassene Kinder liefen sie Hand in Hand zum Twizy und setzten sich hintereinander in den Zweisitzer. Bernd drückte den Startknopf. Nichts tat sich.

„Was ist los? Springt er nicht an? Hat er nicht genug Strom?“, fragte Sarah unsicher.

„Nein, es tut sich gar nichts“, stellte Bernd resigniert fest, blätterte auffällig in der beiliegenden Bedienungsanleitung und hatte den Fehler offensichtlich gefunden. „Aaach so! Hier steht, das Elektromobil kann nicht gestartet werden, wenn sich Beifahrerin und Fahrer beim Start und während der gesamten Fahrt nicht zärtlich berühren. Lässt die Beifahrerin los, wird der Stromfluss unterbrochen und das Fahrzeug stoppt sofort.“

Lachend legte Sarah ihre Arme um seine Schulter, und wie in der Anleitung beschrieben, ließ sich der Twizy starten. Die beiden Glücklichen brausten elektrisch zu einem der schönsten Naturschauspiele Norwegens.

Kristin und Maik ließen sich mit dem Trolltrain durch Eidfjord und das nähere Umland fahren. Drei dieser rotblauen Bimmelbahnen waren unterwegs, sodass sie aus einer aussteigen, die Sehenswürdigkeit besichtigen und in die nächste Bahn wieder einsteigen konnten. Verdächtige Personen oder hübsche blonde Frauen fielen ihnen dabei nicht auf.

Carlotta und Thorsten spazierten durch den beschaulichen Ort, um nach geeigneten Tatorten oder auch Opfern Ausschau zu halten. Eine intensive Nachschau an und in seiner Kleidung sowie unter den Schuhsohlen nach dubiosen Nachrichten oder einfach nur Hinweisen zum nächsten Tatort blieb erfolglos.

Sie waren zum Abwarten verdammt.

Nina und Thomas waren mit dem Bus am Vøringsfossen angekommen und völlig überwältigt. Um den mächtigen Wasserfall herum waren weitere kleinere in einer beeindruckenden Fjordlandschaft zu bewundern.

Hier oben nach einem Tatort zu suchen, der den Kriterien eines Serienmörders entsprach, fiel den beiden Profilern schwer. Die potenziellen blonden Opfer, die ihnen auffielen, waren in Begleitung und somit eher nicht in Gefahr.

Bernd steuerte den Twizy durch die überwältigende Landschaft und genoss die Fahrt sowie die Umarmung von Sarah, die er an sich heranzog, sobald sie den Griff lockerte.

„Denk dran, die Kiste geht sofort aus, und wenn wir hier mitten auf der Straße stehen bleiben, rollen wir rückwärts wieder runter“, flachste er.

Sarah war nun etwas ungehaltener. Er sollte es besser nicht übertreiben. Wenn er sie weiter so festhielt, konnte sie nicht auf die WhatsApps reagieren, die auf ihrem Handy eingegangen waren.

„Musstest du bei der Autovermietung einen Pfand hinterlegen, bis du die Kiste wieder abgibst?“, fragte Sarah.

Bernd wunderte sich, dass sie das interessierte. „Nein, das Büro ist nachher gar nicht mehr besetzt. Ich soll einfach nur den Schlüssel einwerfen. Warum fragst du?“

Sarah hatte eine ganz pragmatische Antwort: „Ich frage, weil ich schon mal bei einer Rückgabe so viele Formalitäten ausfüllen musste und dann zeitliche Probleme hatte, das Schiff vor dem Ablegen zu erreichen. Das brauche ich nicht noch einmal.“

Bernd ließ sich überzeugen. „Ach so. Nein, diese Rückgabe dauert nur drei Sekunden, und wir sind dann ja gleich am Pier. Das kann uns nicht passieren“, beruhigte er seine Begleitung.

Sie stellten das Fahrzeug auf einem Besucherparkplatz vor einem großen Schild ab und mussten feststellen, dass es sich um ein Mahnmal handelte. Hier war 2011 eine österreichische Touristin 170 Meter in den Tod gestürzt, als ihr Mann ein Foto von ihr schießen wollte. Sie hatte einen Schritt zu viel nach hinten gemacht.

„Das ist ja tragisch. Stell dir vor, du willst ein Foto machen und sagst, ich soll noch einen Schritt rückwärts gehen, und dann stürze ich in den Tod. Unvorstellbar, oder?“, philosophierte Sarah.

Wieder hatte Bernd eine ganz pragmatische Lösung. „Wir machen nur Selfies von uns beiden und gehen auch nur zusammen zurück. Bis dass der Tod uns scheidet“, flachste er.

Sarah war genervt. „So weit ist es noch lange nicht bis der Tod uns scheidet . . . Spinner!“, kommentierte sie.

Bernd musste aufpassen, dass er nicht zu forsch vorging. „Hey, war nur Spaß“, entschuldigte er sich und drückte Sarah vorsichtig einen ersten Kuss auf die Wange. Als sie rot wurde, war er sicher, wieder auf dem richtigen Weg zu sein.

Sarah war ein wenig enttäuscht. „So richtig viel sieht man hier vom Wasserfall nicht, oder? Außerdem ist es mir hier zu voll. Der Ausblick vom Hotel Fossli soll beeindruckender sein, und man kann von oben auf die Wasserfälle schauen. Ist zwar eine kleine Wanderung, aber du bist doch ein sportlicher Typ, oder?“, forderte sie Bernd heraus, der diesen Eindruck bestimmt bestätigen wollte. „Außerdem wird es auf den Wanderwegen etwas ruhiger.“

Ganz nach seinem Motto: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch“ wollte er euphorisch aufbrechen, als Sarah ihre Papiertüte mit den Stricksachen aus dem Elektromobil holte. „Das willst du doch nicht wirklich mitnehmen oder glaubst du, dass in Norwegen ein Norweger eine Tüte mit norwegischer Wolle aus einem Auto klaut?“, fragte Bernd fast genervt.

„Erstens ist das Auto offen und nicht zu verschließen, und zweitens ist es immer noch meine Entscheidung, was ich mitnehme und was nicht“, konterte Sarah sichtlich angefressen.

Bernd musste vorsichtig sein und sein Ziel mit mehr Charme verfolgen. Sie war schon recht speziell und anspruchsvoll. Aber egal, es war nur für heute und vielleicht noch für den Seetag nach Hamburg. Er wollte sie ja nicht heiraten, sondern nur ein- bis zweimal flachlegen.

„Okay, vielleicht kannst du auf einer Bank schon mal mit meinem String anfangen, dann kann ich ihn heute Abend anprobieren“, versuchte er zu scherzen.

„Ich gebe jetzt die Route zum Aussichtspunkt am Hotel ins Navi ein, nicht, dass wir uns verlaufen“, kündigte Sarah an und schrieb „Hotel Fossli, wir gehen jetzt vom Parkplatz los“, allerdings per WhatsApp.

Nach einigen Minuten stoppte Sarah und ließ ihren Blick über die Felsen und den Abgrund schweifen.

„Bernd, ist das nicht ein wahnsinnig toller Ausblick? Bist du Romantiker?“, säuselte die attraktive Frau.

Bernd blickte sich um, niemand zu sehen. Wollte Sarah es auch? Hier und jetzt? „Und wie romantisch ich sein kann“, sagte er. „Du hast eine Gabe, dir für die schönsten Dinge des Lebens die tollsten Orte auszusuchen, Sarah.“ Er nahm sie in den Arm, streichelte zärtlich ihr blondes Haar und setzte leidenschaftlich zum Kuss an, als er von links ein Knirschen wahrnahm, zum Wanderweg blickte und erstarrte.

Sarah rammte ihm eine der Stricknadeln unbarmherzig kräftig in das rechte Nasenloch und durchbohrte sein Stammhirn. Krampfartig riss er der attraktiven Frau die blonde Perücke vom Kopf und versuchte zu schreien, was ihm allerdings nicht mehr gelang. Seine weit aufgerissenen Augen starrten auf das Haarteil, welches Sarah ihm kräftig auf das Gesicht drückte, damit sich der pulsierende Blutschwall aus der Nase nicht auf ihrer Bekleidung ergoss. Sie zog ihren Verehrer nach vorn zum Abhang und ließ ihn ungebremst mehrere Meter auf den Felsen zum Wasserfall aufschlagen.

„Deine Worte, Bernd. Bis dass der Tod uns scheidet“, kommentierte sie völlig emotionslos.

Die ehemals blonde Frau strich sich mit den Fingern mehrfach durch ihre dunkle Kurzhaarfrisur und zog ihren hellblauen Blazer aus. Dann kehrte sie das blumenbemusterte Innenfutter ihrer Wendejacke nach außen und war kaum wiederzuerkennen.

Ihre neue Begleitung küsste sie leidenschaftlich und bemerkte: „Das war knapp. Wieder nichts nach Plan. Jetzt bloß weg hier.“

Den Zettel, der Sarah aus der Jacke fiel, bemerkten die beiden nicht. Hätte man ihn aufgehoben, wäre darauf nur ein Wort in großen Druckbuchstaben zu lesen gewesen. Es lautete „Vøringsfossen“.