Sarah übergab ihrer Begleitung den Fahrzeugschlüssel für das Elektromobil.
„Der Twizy steht auf dem großen Parkplatz direkt vor der Mahntafel. Den Schlüssel musst du bei der Vermietung am Anleger nur in den Briefkasten werfen“, sagte sie. Dann ließ sich Sarah die Rückfahrkarte des Ausflugsbusses aushändigen, mit dem sie vom Hotel Fossli zurück in den Ortskern fahren konnte und verabschiedete sich mit einer festen Umarmung. „Bis nachher Schatz, sei vorsichtig.“
Sarah Langer ließ es sich nicht nehmen, einen eiskalten Aperol-Spritz auf der Hotelterrasse zu genießen. Das grausame Ende der Begegnung mit Bernd Neubert störte sie dabei nicht. Hier hatte sie eine fantastische Aussicht über das Måbøtal, direkt auf den Vøringsfossen Wasserfall. Durch Bernds blöde Anmache hatte sie ihren Plan im letzten Hafen nicht durchführen können. Sarah war so nah an dem Profiler dran gewesen, um den Zettel zu platzieren, bis Bernd diese Kaffeenummer durchgezogen und damit alles durcheinandergebracht hatte. Selbst schuld, dachte sie zynisch, zog kräftig an dem Glasröhrchen und genoss ihr eisgekühltes Lieblingsgetränk.
Mit den Tagestouristen der „Norwave“ ließ sich Sarah Langer im Bus zurück in den kleinen Ort am Hafen fahren. Unter den Fahrgästen fiel sie nicht auf. Sie bummelte noch durch den beschaulichen Ortskern und entsorgte die Tüte mit den Stricksachen sicherheitshalber in einem Mülleimer an der Promenade. Eine zweite, mit dem Tatwerkzeug identische Nadel, wollte sie nicht mit zurück an Bord nehmen. Das war ihr zu riskant, und stricken konnte sie sowieso nicht.
In einer Traube mit unzähligen weiteren Landgängern passierte Sarah den Sicherheitscheck an Bord. Der Securitymitarbeiter verglich ihr Foto mit dem im System hinterlegten und ließ sie ungehindert passieren. Die Überprüfung der Passagiere anhand ihrer gespeicherten Fotos erfolgte lediglich beim Check-in, nicht jedoch beim Verlassen des Schiffes.
Eine Stunde vor dem Ablegen der „Norwave“ hatte sich Magnus Andersen mit den Kollegen der norwegischen Polizei und den deutschen Profilern im Quality Hotel Vøringfoss zu einem Abschlussgespräch verabredet. Auch der Kapitän und der erste Sicherheitsoffizier nahmen teil.
Das Hotel lag direkt gegenüber dem Anleger, sodass sie die „Norwave“ binnen weniger Minuten erreichen konnten.
Wider Erwarten hatten sie weder eine weitere Tat noch ein neues Opfer in Eidfjord und Umgebung zu beklagen. Das war immerhin beruhigend.
Die Umfeldermittlungen und Begutachtungen der Tatortspuren hatten bislang keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Auch die Überprüfungen der Passagierlisten an Bord sowie die Befragungen der Ausflügler waren ergebnislos verlaufen.
Es war Magnus, der das Gespräch begann. „Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir waren entlang der Route der ,Norwave‘ mit Tötungsdelikten an jungen, blonden Frauen konfrontiert, die augenscheinlich von einem Täter begangen worden sein dürften. Der Modus Operandi des Skalpierens ist derart speziell, dass wir nicht von Zufällen ausgehen können. Es haben sich Hinweise verdichtet, dass wir es vielleicht sogar mit zwei Tätern zu tun haben, von denen zumindest einer oder besser gesagt eher eine Täterin an Bord der ,Norwave‘ mitgefahren ist oder auch immer noch mitfährt. Auf dem Kreuzfahrtschiff befinden sich etwa 2000 Passagiere und 600 Besatzungsmitglieder. Wir haben sämtliche Möglichkeiten von polizeilichen Ermittlungen und auch Maßnahmen juristisch überprüfen lassen. Es ist richterlich entschieden worden, die ,Norwave‘ weder aufzuhalten noch gegen einzelne Passagiere zu ermitteln. Das gibt die Verdachts- und Beweislage nicht im Ansatz her. Der deutsche Reiseveranstalter und die Reederei haben uns sämtliche Unterstützung zugesagt, sobald ein richterlicher Beschluss vorliegt, den wir momentan jedoch nicht vorweisen können. Die ,Norwave‘ wird Hamburg direkt anlaufen, sodass ich leider nicht mehr mit an Bord gehen kann. Wir werden über ein Rechtshilfeersuchen auf die deutschen Behörden zugehen und hoffen, dadurch die Ermittlungen kooperativ weiterführen zu können“, führte er resigniert aus. „Nun zu eurem Team, Thorsten. Ich entschuldige mich für den chaotischen Start und das Misstrauen, das wir euch in Oslo und auch in Bergen anfangs entgegengebracht haben. Ich bedanke mich im Namen der norwegischen Polizei für euer beharrliches Engagement und die darauffolgende sympathische Zusammenarbeit. Ich bitte euch aber auch, am Ball zu bleiben und den letzten Seetag nach Hamburg zu nutzen, um an Bord alle Register zu ziehen, die diese grausamen Taten aufklären könnten. Falls wir weitere Erkenntnisse haben, die uns einer Klärung dieser Mordserie näherbringen, werde ich euch umgehend kontaktieren. Lasst uns einfach in Verbindung bleiben“, schlug Magnus vor und ergänzte freudestrahlend „Ach ja, ganz herzliche Grüße von Ingrid. Ihr geht es besser, und ich soll euch drücken.“
Als die Teilnehmer schon aufbrechen wollten, hob der Beamte der Mordkommission Oslo den Arm. „Entschuldigung, eine Bitte habe ich noch an das Team der ,Norwave‘. Herr Kapitän, auch Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank für Ihre Kooperation. Ich möchte Sie jedoch weiter ersuchen, die deutschen Kollegen an Bord bei den jetzt noch erforderlichen Recherchen zu unterstützen. Wenn in Hamburg alle Passagiere von Bord gehen, haben wir unser Pulver verschossen und können vermutlich eine der schlimmsten Mordserien Norwegens nicht mehr aufklären. Dafür wäre ich Ihnen, Kapitän Jacobsen, im Namen der gesamten norwegischen Polizei außerordentlich dankbar. Ihnen allen alles Gute.“
Die deutschen Profiler gingen auf Magnus zu, verabschiedeten sich herzlich und vereinbarten einen weiterhin stetigen und unkomplizierten Austausch, verbunden mit einer Einladung nach Niedersachsen.
Gemeinsam mit dem Kapitän und seinem Security Offizier gingen die deutschen Profiler zurück an Bord der „Norwave“.
„Herr Büthe, auch ich möchte mich für meine anfängliche Zurückhaltung und meinen manchmal barschen Ton entschuldigen. Ich schlage vor, dass wir uns nach dem Auslaufen mit meinen Offizieren und Ihrem Team zusammensetzen und uns abstimmen, wie wir Sie unterstützen können“, schlug Kapitän Jacobsen vor, was vom OFA-Leiter dankend begrüßt wurde.
Die Stimmung im Team stand dennoch auf dem Tiefpunkt. Es war zwar kein weiterer Mord geschehen, aber sie hatten auch keine neuen Ansätze zur Klärung der begangenen Taten finden können. Die Hoffnung, diese Serie noch während der Rückfahrt aufzuklären, schwand deutlich. Es blieb lediglich ein letzter Seetag, bevor sie am übernächsten Morgen in den Hamburger Hafen einlaufen und alle Passagiere den Heimweg antreten würden.
Niedergeschlagen saßen die Profiler im Lofoten-Restaurant und stocherten unmotiviert in den leckeren Pizza- und Pastagerichten. Niemand sprach, alle hingen ihren eigenen Gedanken nach. Selbst Thomas hielt das für ihn völlig untypische minutenlange Schweigen durch, bis Kristin die Stille unterbrach.
„Es ist schon Viertel nach sechs. Hätten wir nicht längst auslaufen müssen?“, überlegte sie laut.
„Wer weiß, ob jemand den Ablegetermin verpennt hat. Vielleicht warten sie noch auf Passagiere“, warf Maik ein.
„Wo willst du dich denn in Eidfjord verlaufen oder versacken? Die Ausflüge und Busfahrten sind alle organisiert, und das Schiffshorn ist bis zum Nordkap zu hören“, wandte Carlotta ein. „Nicht, dass im letzten Hafen doch noch ein blonder, junger Passagier fehlt“, malte sie schwarz.
Die Erklärung erfolgte unmittelbar. Über die Bordlautsprecher kam eine Ansage des Kapitäns: „Liebe Gäste, im Namen der Crew begrüße ich Sie wieder an Bord der ,Norwave‘. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Landausflug in Eidfjord mit vielen Eindrücken und konnten diese in digitaler Form festhalten. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, liegen wir noch vor Anker, weil wir auf einen unserer Fahrgäste warten. Wir versuchen momentan, den Kontakt herzustellen. Ich informiere Sie, sobald wir auslaufen können. Nichtsdestotrotz wünsche ich Ihnen jetzt schon einen schönen Abend an Bord. Genießen Sie das Showprogramm und die kulinarischen Highlights in unseren Restaurants.“
Als Thorsten sämtliche Blicke des Teams auf sich gerichtet fühlte, gab er sich geschlagen. „Erinnert ihr euch noch an eure Sprüche auf dem Fløyen und im Trollwald in Bergen? Seht IHR jetzt nicht ein paar Gespenster zu viel?“
Er bekam keine Antwort, sah sich aber den Dackelblicken seiner weiblichen Kollegen ausgesetzt. Selbst Maik und Thomas fixierten ihn erwartungsvoll wie kleine Jungs, die auf ein Überraschungsei warten. „Das glaube ich jetzt nicht“, echauffierte sich der Teamleader. „Da sind sich plötzlich alle einig. Und mittendrin meine Psychologin. Ihr habt gewonnen! Ich spreche mit dem Kapitän, welcher unserer jungen blonden und vollbusigen Passagiere fehlt. Bis gleich.“
Thorsten war es peinlich, mit seiner Frage direkt die Brücke aufzusuchen. Er ließ sich an der Rezeption mit dem Kapitän verbinden.
„Hallo, Herr Jacobsen, Büthe hier, müssen wir uns über den Passagier, der noch nicht zurückgekehrt ist, Sorgen machen? Passt die Frau in unser bisheriges Opferbild?“, fragte der Profiler direkt.
„Hallo, Herr Büthe, nein, da kann ich Entwarnung geben. Es ist ein alleinreisender Passagier, der auf eigene Faust an Land war. Seine Handynummer ist hier hinterlegt, wir können ihn allerdings nicht erreichen, obwohl der Anruf durchgestellt wird. Wir geben ihm noch dreißig Minuten, dann legen wir ab“, entschied der Kapitän.
„Es ist ein Mann?“, fragte Thorsten verdutzt.
Jacobsen brummte zustimmend.
Thorsten hatte mit einem weiblichen Fahrgast gerechnet und überlegte kurz. Es konnte dem Passagier trotzdem etwas zugestoßen sein, wenn er nicht an sein Smartphone ging. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen und über die norwegischen Kollegen eine Handyortung veranlassen“, bot Büthe an.
„Eine gute Idee. Bevor ich Ihnen die Daten durchs Telefon gebe, kommen Sie doch einfach auf die Brücke, dann können Sie auch unsere Technik nutzen und sind live dabei. Wir müssen erst mal mit einer Notsituation rechnen, wobei wir auch oft mit fingierten Ausreden konfrontiert werden. Bleiben wir aber zunächst optimistisch und hoffen, ihn gesund zu erreichen. Bis gleich, Herr Büthe.“
In der gläsernen Kommandozentrale der „Norwave“ ließ sich der deutsche Profiler die Personalien des vermissten Passagiers sowie seine Mobilfunknummer aushändigen und rief Magnus Andersen an.
„Hallo, Magnus, bist du noch in Eidfjord? Ich hätte da ein Anliegen“, bat der Profiler.
„Hej, Thorsten, wir verabschieden uns gerade von den Kollegen aus Ålesund. Was kann ich für dich tun?“
„Ein Passagier ist noch nicht vom Landgang zurückgekehrt. Keine Angst, er ist männlich, 45 Jahre alt und heißt Bernd Neubert. Er reist allein und hat das Schiff direkt nach dem Anlegen auf eigene Faust verlassen. Begleitpersonen oder sein Ziel sind nicht bekannt. Würdet ihr bitte überprüfen, ob sämtliche Mietfahrzeuge zurückgegeben worden sind und sein Handy orten? Es ist noch eingeschaltet und müsste auch klingeln. Wir erhalten zumindest ein Freizeichen. Mit der Mobilfunknummer schicke ich dir auch ein Foto seines Bordpasses. Wir warten auf euren Rückruf.“
„Veranlasse ich gerne und melde mich dann“, versprach Andersen.
„Vielen Dank und bis gleich“, verabschiedete sich Büthe von seinem norwegischen Kollegen.
Thorsten entschied sich, seinem Team keine Informationen über den verspäteten Passagier zukommen zu lassen. Sie sollten ruhig diskutieren, ob es sich bei demjenigen um ein Opfer handeln konnte. Das hielt sie mental fit und lenkte von der Ungewissheit ab, ob und wie es in der Serie weiterging.
Das Handy des Profilers klingelte. Es war Magnus Andersen.
„Hej, ihr Kollegen auf der ,Norwave‘. Wir haben das Handy in der Nähe des Vøringsfossen Wasserfalles zwischen dem Hauptparkplatz und dem Fossli Hotel geortet. Da es bereits dämmert, haben wir unseren Polizeihubschrauber zur Suche des Vermissten eingesetzt. Wir hatten den Heli für den Fall der Fälle auf Stand-by. Er hat sogar eine Wärmebildkamera an Bord. In ein paar Minuten müsste er vor Ort sein. Ich melde mich. Bis gleich“, verabschiedete sich der Ermittler.
Doch nur nach wenigen Sekunden war Magnus wieder dran. „Wir haben ihn! Er liegt in den Felsen, knapp 50 Meter unter dem Weg zum Hotel. Die Piloten kommen nicht näher ran und haben eine Drohne samt Kamera gestartet, die direkt an die Person heranfliegen kann. Ich bekomme das Video gleich“, kündigte er angespannt an. Dann wurde es still, obwohl er die Leitung hielt. „Thorsten, das schaut ihr euch lieber mal selbst an“, meldete er sich plötzlich wieder. „Ich habe dir das Video gerade geschickt.“ Die Stimme des norwegischen Ermittlers wurde leise. Sein deutscher Kollege ahnte nichts Gutes.
Thorsten rief das Video auf und startete es. Er konnte beobachten, wie sich die Drohne einem Körper in stark überstreckter Rückenlage näherte, dessen Gliedmaßen widernatürlich in verschiedene Richtungen zeigten und multiple Frakturen vermuten ließen. Der Kopf sowie das Gesicht des Mannes waren derart blutig deformiert, dass eine Identifizierung des Toten durch das Video oder mittels Screenshots nicht möglich erschien. Die Auffindesituation sprach auf den ersten Blick für ein Sturzgeschehen, wobei dieses entweder unfallbedingt oder durch Fremdeinwirkung erfolgt sein konnte. Nun flog die Drohne direkt an den Körper heran, um festzustellen, ob es noch Bewegungen oder sonstige Vitalfunktionen gab. Doch es sah nicht so aus. Einen solchen Sturz überlebte niemand. Thorsten wollte das Video gerade schließen, da fiel ihm plötzlich etwas ins Auge. Er erschrak. „Mein Gott! Seht ihr das? Magnus, kannst du uns abholen lassen?“
Den Kapitän blickte den deutschen Polizisten verständnislos an. „Auch wenn das pietätlos und unsensibel erscheint. Wenn dieser Leichnam wirklich Bernd Neubert ist, muss der Unfall sicher aufgeklärt werden. Auf diesen Passagier müssen wir aber nicht mehr warten. Wir laufen aus.“
„Herr Jacobsen, es tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen, aber ich gehe ganz stark davon aus, dass Sie in den nächsten Stunden nicht ablegen können. Sehen Sie das?“, fragte er. Thorsten stoppte das Video und wies mit der Spitze eines Kugelschreibers auf die Mitte des Monitors. „Das dürfte ein blondes, blutiges Haarteil sein. Ein Skalp oder eine blutige Perücke. Haben Sie sterile Behältnisse in der Krankenstation und OP-Schutzkleidung?“, fragte der Profiler direkt.
„Bestimmt, wieso fragen Sie?“, reagierte der Kapitän irritiert.
Thorsten wurde offiziell. „Lassen Sie bitte die Kabine von Herrn Neubert öffnen. Mein Team wird als Erstes Vergleichsmaterial zum DNA-Abgleich sichern. Die Kabine darf von niemandem betreten werden. Können Sie sicherstellen, dass diese Tür mit keiner weiteren Türkarte zu öffnen ist? Wir müssen genau wissen, ob der Leichnam Bernd Neubert ist. Vielleicht ist er auch einer der Täter. Die nächste Frage wird dann sein, wo wir das Opfer finden, das zu diesen Haaren passt.“
Kapitän Jacobsen wies sein Personal an, alles Notwendige zu veranlassen. „Okay, drei bis vier Stunden können wir auf der Strecke nach Hamburg rausholen. Sollte es länger dauern, muss ich auf einen offiziellen Beschluss der norwegischen Behörden bestehen und mir etwas einfallen lassen, wie wir das den Passagieren erklären.“
Thorsten musste sich bemühen, langsam ins Lofoten-Restaurant zurückzukehren, um die Aufmerksamkeit der Passagiere nicht auf sich zu ziehen. Dabei hatte er es eilig. Die neue Entwicklung war brisant und aufregend. Allein an seinem Blick erahnte sein Team, dass es mit der angekündigten Ruhe an Bord vorüber war.
So sachlich wie möglich informierte Thorsten die Profiler darüber, was geschehen war und legte die Vorgehensweise fest. „Thomas und Maik, ihr zieht euch Schutzkleidung von der Krankenstation an, geht in die Kabine von Bernd Neubert und schaut euch erst einmal grob um. Dokumentiert bitte den unveränderten Zustand und sichert seine Zahnbürste und seinen Rasierer für einen DNA-Abgleich. Sterile Verpackungen bekommt ihr ebenfalls vom Personal der Krankenstation. Sie wissen schon Bescheid, dass ihr kommt. Am Anleger wartet dann ein Kurier zum Labor. Nina und Carlotta, checkt ihr bitte Bernd Neubert? Was haben wir über ihn an Bord? Was hat er wo gegessen, getrunken und mit wem? Was sagen Facebook, Instagram und Twitter über ihn aus? Holt die deutschen Kollegen mit ins Boot. Kristin, wir beide gehen von Bord, treffen uns mit Magnus und fahren zum Fundort. Alles Weitere klären wir dann.“
Nachdem sie ihre Fotoausrüstung zusammengepackt hatten, verließen sie die „Norwave“ über die Ladeluke zum Frachtraum und wurden von einem zivilen Fahrzeug der Polizei erwartet. Thorsten hatte Magnus gebeten, sie nicht mit Blaulicht abzuholen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Der Wagen brachte sie über mittlerweile dunkle und enorm kurvige Straßen auf den Parkplatz des Vøringsfossen Wasserfalls. Hier standen neben Polizeifahrzeugen ein Notarzt- und Rettungswagen sowie unzählige Zivilfahrzeuge. Hoch im Himmel dröhnten die Turbinen eines Hubschraubers, der unter greller Beleuchtung über dem Felshang in der Luft stand. Ein Elitepolizist hing an einem Seil an der Winde und wurde mit einem schweren Bergungssack in den Helikopter gezogen. Dann verschwand er im Dröhnen der Rotoren blinkend in der Dunkelheit.
Auf dem schmalen Weg entlang der steilen Felswand trafen sie auf eine Vielzahl von Beamten in weißen Spurensicherungsanzügen. Unter ihnen erkannten sie einen großen Mann, den sie trotz der norwegischen Sprache allein an seinem Erscheinungsbild im grellen Licht der Tatortlampen und der Stimme identifizieren konnten. Sie hatten ihren Kollegen gefunden.
„Hallo, Magnus, wir sind hier. Können wir die Absperrung überqueren?“, rief ihm Kristin zu.
„Hej, ihr beiden. Das ging aber schnell. Klar, kommt rüber. Wir wissen ja nicht einmal, ob hier überhaupt ein Tatort ist“, stellte er infrage. „Die Leiche ist gerade geborgen worden und wird zur Obduktion ins nächstgelegene Krankenhaus in Odda geflogen. Das ist mit dem Auto in einer Stunde erreichbar. Die Drohne hat den Bereich hier oben, aber auch alles unterhalb der Felsen bis hin ins Tal hinunter abgeflogen. Eine weitere Leiche haben wir nicht finden können. Ach ja, hier ist der Skalp.“
Magnus hielt einen großen durchsichtigen DNA-Beutel hoch, in dem sich lange Haare mit blutigen Anhaftungen befanden. „Es wird euch nicht gerade beruhigen, aber das ist wieder nur eine blonde Perücke, vermutlich mit Blut, also kein Skalp. Mich zumindest erleichtert das ein wenig. Vielleicht ist der Täter abgestürzt und deshalb konnte das Opfer entkommen. Dann könnte es eventuell noch eine Aussage machen, die das bestätigt. Dann bräuchten wir nur noch die Mittäterin von eurem Schiff und Bingo!“
Euphorie entsprach grundsätzlich nicht dem Stil der OFA, so waren die beiden Profiler zurückhaltend.
„Warten wir es mal ab. Ich bin zumindest optimistisch, dass wir an der Innenseite der Perücke noch DNA-Spuren des Trägers oder der Trägerin finden und denjenigen darüber identifizieren können“, schränkte Kristin ein.
„Unsere Spurenexperten haben hier alles abgesucht. Wir können weder Kampf- noch Blutspuren finden. Selbst der eigentliche Absturzort ist unklar. Nicht einmal Zigarettenkippen oder Kaugummipapier liegen hier oben, und ein blöder Zettel mit der Aufschrift ,Vøringsfossen’ bringt uns hier auch nicht weiter“, erklärte Magnus resigniert.
„Hast du diesen Zettel gesehen?“, hakte Thorsten sofort ein.
„Nein, aber warte kurz. Eric! Kannst du uns die Spurenkiste eben rüberbringen“, bat der Ermittler aus Oslo einen Kriminaltechniker. „Zeig uns bitte mal diesen Zettel mit der Aufschrift.“
Der Spurensicherungsexperte holte einen kleinen transparenten Kunststoffbeutel aus einer Metallkiste und hielt ihn in den Lichtkegel der großen Taschenlampe. Zeitgleich wurde die Tatortbeleuchtung abgebaut und zum Aufbruch aufgerufen.
„Erkennst du diese Art von Zetteln, Magnus? Jetzt haben wir unseren Tatort“, stellte Thorsten fest.
Der norwegische Ermittler verstand. „Stopp, Leute! Alles wieder an. Wo genau lag dieser Zettel?“
Aus der Dunkelheit rief eine Stimme, die wegen des mangelnden Lichts nicht richtig zuzuordnen war: „Ungefähr zwanzig Meter von hier in Richtung des Hotels Fossli.“
„Tut mir leid, Leute, wir bauen dort alles wieder auf und suchen jeden Millimeter ab. Stellt euch auf einen langen Abend ein“, prophezeite Magnus und wandte sich zu Thorsten und Kristin um. „Das war haarscharf und wir ein bisschen unsensibel“, gab er zu.
Die Profiler lächelten. Thorsten schlug dem sympathischen Ermittler auf die Schulter. „Wir sind halt alle ein gutes Team. Hauptsache wir kommen jetzt gemeinsam weiter. Zur Perücke fällt mir wieder das Opfer aus Ålesund ein. Konnte die Frau schon befragt werden?“
„Wir hatten das Thema gerade noch in der Abschlussbesprechung. Das Opfer wird durchkommen, musste aber aufgrund der schweren Verletzung und des geschwächten Immunsystems während der Chemotherapie in ein künstliches Koma versetzt werden. Wann und ob die Frau überhaupt aussagen kann, steht in den Sternen“, erklärte Andersen.
Thomas und Maik hatten die Kabine in Schutzkleidung oberflächlich abgesucht. Zahnbürste sowie Rasierapparat waren für eine DNA-Vergleichsuntersuchung zur Identifizierung des Leichnams sichergestellt worden. Sie hatten den Ursprungszustand der Kabine im Vorfeld dieser Maßnahme videografiert, um erforderliche Veränderungen zu dokumentieren. Eine intensivere Durchsuchung blieb formal den norwegischen Beamten vorbehalten. Während des ersten Überblicks war den deutschen Profilern nicht viel aufgefallen. Thomas hatte es nicht lassen können, einen Spruch zu machen, als sie eine noch verschlossene Maxiverpackung mit 50 Kondomen fanden.
„Hey, Maik, schau mal, die ist noch gar nicht angebrochen. Meinst du, er hat die erste Packung schon verbraucht oder ist er noch gar nicht zum Schuss gekommen? Immerhin war heute der letzte Landgang.“
Maik schmunzelte nur und schwieg.
Carlotta und Nina waren bei ihren Recherchen fündig geworden. Bernd Neubert lebte in Lüneburg und war in letzter Zeit offen für alles, was er im Netz auch nicht verborgen hielt. Sie fanden sein ungesichertes Facebook- und Instagram-Profil. Allein in seinen aktuellen Storys war die Reise mit einer Vielzahl von Selfies an Bord abgebildet. Er fühlte sich wohl als absoluter Womaniser. Komisch war dabei nur, dass er immer nur sich selbst fotografiert hatte. Von den Damen, die er anscheinend begehrte, fand sich keine Spur.
Es wäre vielversprechend, dachten die Profilerinnen, wenn die Social-Media-Experten des LKA Niedersachsen schnellstmöglich in die Analyse einsteigen würden. Doch auch aus den vorliegenden Bildern und Informationen konnte man einiges schließen. Die bisherigen Landausflüge musste Neubert auf eigene Faust gestaltet haben. Unter den Gästen, die geführte Ausflüge gebucht hatten, war Neubert nicht zu finden. Selbst Reservierungen von Restaurants hatte er an Bord nicht vorgenommen, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre, wenn er eine Auserwählte hätte beeindrucken und sie zu einem Drei- oder Vier-Gänge-Menü außerhalb der Buffetrestaurants hätte einladen wollen. Das alles sprach nicht unbedingt für eine hohe Trefferquote von Dates an Bord. Von der unangebrochenen Kondomverpackung wussten die beiden Kolleginnen da noch gar nichts.
Parallel zum Helikopter samt Leichnam trafen die Rechtsmediziner Professor Boerne und seine junge Kollegin ein. Gemeinsam bereiteten sie die Obduktion vor.
Der Leichnam wurde komplett bekleidet in Rückenlage auf dem Sektionstisch abgelegt. Vor Beginn der Obduktion fanden die erforderlichen Spurensicherungsmaßnahmen am Leichnam statt, bevor der erste Obduzent, Professor Boerne, routiniert loslegte. Seine Feststellungen diktierte er in ein modernes digitales Aufzeichnungsgerät, sodass das gesprochene Wort direkt in ein vorläufiges Gutachten in Papierform ausgedruckt werden konnte. Nach einer kurzen Einleitung zu den ersten Informationen und der Fundsituation wurde zuerst die Vorderseite, dann die Rückseite des Verstorbenen in bekleidetem Zustand beschrieben. Anschließend musste der Leichnam gemeinsam mit den Kriminaltechnikern spurenschonend ausgezogen werden. Die Bekleidungsgegenstände sicherte und archivierte man einzeln. Sämtliche Phasen des gesamten Vorgangs mussten durch einen Polizeifotografen dokumentiert werden.
Bevor ein Skalpell zur Öffnung des toten Körpers überhaupt angesetzt werden konnte, begann Professor Boerne mit einer systematischen Beschreibung des unbekleideten Leichnams vom Kopf bis zu den Extremitäten. Hierbei musste der nackte Körper von Blut gereinigt werden, um Verletzungsmuster besser erkennen und diagnostizieren zu können.
Die Obduzenten stellten multiple Schädel- und Gesichtsfrakturen fest, die mit einem wie auch immer gestalteten Sturzgeschehen vereinbar waren. Schon beim aufmerksamen Zuhören war zu erkennen, dass die gutachterlich geprägte Sprache mancher Rechtsmediziner mit unserer alltäglichen und eher oberflächlichen Kommunikation wenig gemein hatte.
Sämtliche Extremitäten waren widernatürlich beweglich, erklärte Boerne, was nichts anderes bedeutete, als dass Arme und Beine an mehreren Stellen gebrochen waren und sogar offene Frakturen aufwiesen. Auch die Beschreibung eines instabilen Brustkorbes ließ auf multiple Rippen- und Wirbelsäulenfrakturen schließen.
Bei jeder kriminalpolizeilichen und auch rechtsmedizinischen Leichenschau sowie insbesondere einer Obduktion war es unerlässlich, einen Blick in die sogenannten natürlichen Körperöffnungen und -höhlen zu werfen. Neben dem Genital- und Analbereich durfte ein intensiver Blick in Ohren, Nase und Augen nicht fehlen.
Professor Boerne hätte zu diesem Zeitpunkt vermutlich eine Todesursache wie folgt formuliert: Herr Neubert ist sturzbedingt an mit dem Leben nicht mehr vereinbaren schweren Verletzungen mit einem Verbluten nach innen und außen verstorben.
Der Professor diktierte eine deutliche Nasen– und beidseitige Jochbeinfraktur und rief plötzlich seiner zweiten Obduzentin zu: „Ich brauche mehr Licht! Leuchten Sie mal in die Nasenlöcher!“
Boerne hatte einen Fremdkörper ertastet, setzte an der Spitze im rechten Nasenloch seine Pinzette an, zog vorsichtig einen dünnen länglichen blutverschmierten Gegenstand aus der Nasenöffnung und stoppte abrupt.
„Eine Stricknadel! Das hatten wir auch noch nicht“, staunte die junge Rechtsmedizinerin.
„Na, das wird ja doch noch spannend. Das schauen wir uns doch mal von innen an. Dann öffnen Sie mal die Schädeldecke“, wies der Professor seinen Präparator sichtlich fasziniert an. Der setzte den kleinen Seitenschneider mit dem fiesen Geräusch an, welches man nie wieder vergaß, wenn man es einmal gehört hatte.
Die Ermittler und die beiden Profiler hatten sich wieder in dem Besprechungsraum des Quality Hotels Vøringfoss eingefunden. Ständig klingelte irgendein Telefon und neue Informationen wurden in norwegischer Sprache ausgetauscht. Kristin und Thorsten konnten lediglich an der Stimmlage und Mimik der Kollegen die Relevanz des Gespräches vermuten.
„Was!?“, schrie Magnus in sein Telefon und sprang auf. „Danke für die Info.“ Er wendete sich den Profilern zu. „Jetzt ratet mal, woran euer Passagier gestorben ist?“
„Er ist ertrunken“, scherzte Kristin. „Nun komm schon, Magnus, keine Spielchen“, ergänzte Thorsten.
Der norwegische Ermittler zögerte, dann brach es förmlich aus ihm heraus. „Ihm ist eine 18 Zentimeter lange Stricknadel durch die Nase ins Stammhirn gerammt worden. Die Nadel steckte so tief, dass sie von außen erst gar nicht wahrgenommen worden ist. Er muss sofort tot gewesen sein. Erst dann kam es zum Sturz.“
Kristins und Thorstens Blicke trafen sich. Beide hatten dieselben Gedanken. Seine Kollegin war schneller. „Wir müssen ihn schnellstmöglich identifizieren. Sind die Vergleichsproben schon in Odda?“
„Ja, sie sind dabei. In der Kleidung des Toten sind seine Papiere, sein Handy und ein Mietvertrag für einen Twizy gefunden worden. Gerade sind Kollegen unterwegs, die den Vermieter aus dem Bett klingeln“, kündigte Magnus an.
„Gut, dann gehen wir erst mal davon aus, dass der Tote auch wirklich Bernd Neubert ist. Wo ist die Perücke? Wir sollten umgehend feststellen, ob das Blut an den Haaren von einer weiteren Person oder dem Toten ist. Ist es Fremdblut und im Idealfall noch mit der DNA auf der Innenseite des Haarteils identisch, haben wir wohl noch ein unbekanntes weiteres Opfer. Ist es sein Blut und eine bislang unbekannte weibliche DNA an der Perücke, haben wir vielleicht eine andere Kon-
stellation, die wir noch nicht in Betracht gezogen haben“, stellte Büthe fest.
Der Norweger legte ungläubig den Kopf zur Seite. „Und die wäre?“
Nun atmete Kristin tief ein und klärte auf: „Unser Toter ist kein Täter, sondern ein Opfer, was das Problem nicht gerade minimiert.“