Kapitel XVI

Die Rückfahrt

Plötzlich flog die Tür zur Offiziersmesse auf. Die beiden Ermittler aus Oslo stürmten herein, und Magnus schnaubte außer Atem: „Schaut euch das mal an! Jetzt haben wir ein echtes Problem!“

Er hielt ihnen sein Smartphone hin. Darauf waren die aktuellen Google-News aktiviert. Die Headline lautete:

Grausame Mordserie in Norwegen entlang der Kreuzfahrt-
route! Ist der Mörder ein Passagier auf der „Norwave“?

Thorsten überlegte gerade, den Kapitän zu informieren, als Eric Jacobsen samt Gefolge mit ernster Miene die Messe betrat.

„Die Medien berichten bereits von den Serienmorden. Es hat sich an Bord wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass sich unter unseren Passagieren ein Mörder befinden könnte. An der Rezeption stehen beunruhigte Gäste Schlange. Wir müssen sofort mit ihnen sprechen und sie beruhigen. Herr Büthe, wie weit ist Ihr Team? Können Sie mit mir in 30 Minuten im Theatrium zu den Gästen sprechen?“

Der OFA-Leiter war sich der Brisanz der Lage bewusst. „Haben wir eine Wahl? Ich glaube nicht. Dann nutzen wir die verbleibende Zeit und legen los. Wer soll außer uns mit auf die Bühne?“

„Eine kurze Begrüßung und Einstimmung wird der Entertainment Manager vornehmen und dann sind wir beide dran“, erklärte der Kapitän. „Mehr nicht.“

Jacobsen gab seinem Technik-Team den Auftrag, alles was eigentlich während der nächsten vier Stunden vorbereitet werden sollte, nun in den verbleibenden 20 Minuten zu schaffen, um die Möglichkeit zum Aufnehmen zu gewährleisten. Jeder spürte, das war keine Zeit für Widerworte.

Der Entertainment Manager sprach mit sonorer und ruhiger Stimme in sämtliche Bordmedien: „Sehr geehrte Gäste, aufgrund einer Nachrichtenmeldung über mehrere Verbrechen in Norwegen und Vermutungen im Zusammenhang mit unserem Kreuzfahrtschiff laden wir Sie um 14 Uhr in das Theatrium ein. Hier wird Sie Kapitän Jacobsen aus erster Hand über die Relevanz dieser Nachrichten unterrichten. Diese Information wird zudem sowohl in den Kabinen als auch auf sämtlichen Monitoren des Schiffes live übertragen. Wir bitten die Kurzfristigkeit dieser persönlichen Information zu entschuldigen. Ich bedanke mich im Namen der gesamten Crew für Ihr Verständnis. Vielen Dank.“

Der Medienexperte der OFA, Maik Holzner, und die Einsatzpsychologin Carlotta Bayer-Westholdt hatten mit dem Kapitän und Thorsten Büthe nur noch 15 Minuten, um die wichtigsten Aspekte dieser sensiblen Information vorzubereiten. Sie wollten eigentlich keinerlei Begriffe wie Mordserie oder gar Mörder an Bord in der ersten Ankündigung erwähnen. Maik Holzner riet allerdings, genau diese Schlagzeilen aus den Medien zu zitieren und sie dann ehrlich zu erklären.

„Herr Jacobsen, Sie können das Vertrauen der Passagiere nur gewinnen, wenn Sie die Fakten klar auf den Tisch legen und authentisch bleiben. Wir wollen die Gäste zudem ja sogar noch bitten, sich in Hamburg freiwillig einem DNA-Test zu unterziehen. Das erreichen wir nur, wenn die Passagiere dafür Verständnis aufbringen und sicherlich auch nur dann, wenn sie uns allen vertrauen“, riet der Medienexperte.

„Mein Part wird es sein, die Gefährlichkeit des Täters einzuschätzen und genau dabei sollten wir es auch belassen“, riet Büthe. „Wir sollten den Passagieren genaue Verhaltensregeln für die Rückfahrt an die Hand geben und darlegen, dass stets ein Securitymitarbeiter ansprechbar ist. Noch eine Bitte an Ihre Offiziere. Die Info über zwei Täter und auch das Tötungsdelikt an Bernd Neubert darf diesen Raum nicht verlassen. Noch ist es für uns ein Unglücksfall“, mahnte der OFA-Chef.

Der Kapitän erhob sich. „Okay, so machen wir das. Ich bin ein Mensch klarer Worte und Entscheidungen. Hier herumzueiern wäre nie mein Stil gewesen und wird es auch nicht werden. Nun bleibt mir nur, uns allen viel Erfolg zu wünschen.“

Der Entertainment Manager, Kapitän Jacobsen und Thorsten Büthe wurden am Künstlereingang hinter der Bühne des Theatriums verkabelt. Der Profiler hatte nicht einmal mehr Zeit sich umzuziehen. Er war in Jeans, mit einem dunkelblauen Poloshirt und hellbraunen Sneakers bekleidet. Neben dem hochgewachsenen Kapitän in seiner beeindruckenden weißen Uniform sah Büthe, der fast einen Kopf kleiner war, recht unscheinbar aus.

Auf der Bühne waren zwei Stehpulte aufgestellt worden, hinter denen sich die beiden Redner positionieren konnten. Sämtliche Sitzplätze des Theatriums waren belegt. Die stehenden Gäste drängten sich vor den Bars und in den Gängen, um einen Blick auf die Bühne werfen zu können.

Hinter der Bühne war deutlich ein aufgeregtes Gemurmel der Gäste wahrnehmbar, was abrupt verstummte, als die Redner das Theatrium betraten. Sie blickten auf etwa 1200 Gäste, und vermutlich sahen ihnen die restlichen 800 Passagiere sowie die gesamte Crew auf den weiteren Kanälen zu.

Wenn auch der Kapitän diesen Blickwinkel zu angenehmeren Anlässen durchaus gewohnt war, stieg bei Büthe das Lampenfieber enorm. Dass es sich um eine absolute Ausnahmeveranstaltung handelte, wurde dadurch unterstrichen, dass niemand klatschte, als die beiden Redner die Bühne betraten. Der Begriff der Totenstille war in diesem Zusammenhang durchaus zutreffend.

Nach einer kurzen Einleitung des Entertainment Managers übergab dieser das Wort direkt an Kapitän Jacobsen.

„Sehr geehrte Gäste, normalerweise steht dieses Theatrium für Unterhaltung und Freude. Ich selbst habe es noch nie erleben müssen, dass Akteure auf dieser Bühne ohne Applaus von Ihnen, liebe Gäste, empfangen wurden. Das zeigt Ihre Anspannung infolge der Nachrichten, die sich heute rasant im Netz verbreitet haben und die ich hiermit im genauen Wortlaut zitiere: Grausame Mordserie in Norwegen entlang der Kreuzfahrtroute! Ist der Mörder ein Passagier auf der „Norwave“? Leider muss ich Ihnen bestätigen, dass sich eine solche Serie tatsächlich auf der Route unseres Schiffes ereignet hat. Dabei sind drei einheimische Frauen getötet und eine verletzt worden. In Eidfjord habe ich Sie darüber informieren müssen, dass wir nicht auslaufen konnten, weil ein Passagier noch nicht auf das Schiff zurückgekehrt war. Nach der Ortung seines Handys konnte ihn die Polizei nur noch tot aus einem Felsabhang bergen. Er muss abgestürzt sein. Hierbei geht die Polizei von einem Unglücksfall aus. Nach den bisherigen Ermittlungen der norwegischen Behörden ist nicht auszuschließen, dass sich der Täter dieser Serie an Bord dieses Schiffes aufhält. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen Thorsten Büthe vorstellen. Herr Büthe ist als ganz normaler Passagier Gast auf der ,Norwave‘, aber beruflich Kriminalhauptkommissar und Leiter der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen. Ich bin sehr froh, ihn hier an meiner Seite zu haben und bitte Sie, Herr Büthe, den Passagieren die Situation aus Ihrer Sicht darzustellen. Vielen Dank.“

Thorsten räusperte sich und nippte an dem Glas Wasser auf seinem Pult. Er hätte wohl einen Liter trinken können, sein Hals blieb dennoch knochentrocken.

„Herr Kapitän, sehr geehrte Damen und Herren, es ist wahr. Zu Beginn unserer Urlaubsreise saß ich dort wie Sie alle und genoss die Show im Theatrium. Dass ich heute von der Bühne zu Ihnen spreche, war nicht ansatzweise geplant, sondern ist den aktuellen Geschehnissen und meiner beziehungsweise unserer hauptberuflichen Konstellation geschuldet. Ich leite im LKA Niedersachsen den Bereich der Operativen Fall-
analyse und unterstütze mit meinem Team Kollegen und Kolleginnen, die sich mit Tötungs- und sexuellen Gewaltdelikten beschäftigen müssen. Und genau mit diesem Team sind wir an Bord der ,Norwave‘ gekommen, um hier unbelastet von solchen Fällen einfach einmal abzuschalten. Wir wollten so wie Sie alle eine Auszeit vom Alltag genießen, aber es kam anders. Das erste Tötungsdelikt hatte sich während unseres Landausfluges in Oslo ereignet, das zweite in Bergen. So kamen wir mit den norwegischen Kollegen in Kontakt. Wir haben ihnen unsere Kooperation angeboten, als die Beamten aus Oslo an Bord der ,Norwave‘ gekommen sind. Wie der Kapitän bereits angekündigt hatte, kann nach den aktuellen Ermittlungen der norwegischen Polizei nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Täter auf der ,Norwave‘ befindet. In Abstimmung mit den norwegischen Kollegen gehen wir derzeit nicht von einer Gefährdung der Passagiere an Bord aus. Ich möchte Sie daher alle bitten, Ruhe zu bewahren und sich auf der Rückfahrt ganz normal zu verhalten. Sollten Ihnen Personen oder Begebenheiten auffallen oder haben Sie bereits bei Ihren Landausflügen Beobachtungen gemacht, die uns weiterhelfen könnten, stehen Ihnen das Sicherheitspersonal der ,Norwave‘ und natürlich auch wir mit den norwegischen Beamten zur Verfügung. Ich bitte Sie ausdrücklich, an Bord keine Maßnahmen auf eigene Faust zu unternehmen, die Sie selbst oder auch andere Passagiere gefährden könnten. Durch die akri-
bische Arbeit der jeweiligen Polizei sind an den Tatorten Spuren gesichert worden. Wir gehen davon aus, dass sie zum möglichen Täter führen können. Daher ist es für uns erforderlich, Sie, verehrte Gäste, im Hamburger Hafen um eine Speichelprobe zu bitten, um Sie von einem Tatverdacht auszuschließen. Diese Probe wird nur mit den Spuren aus Norwegen verglichen und sofort vernichtet, sobald es keine Übereinstimmung gibt. Wir sind mit den deutschen Behörden in Kontakt, sodass eine entsprechende richterliche Anordnung für diesen Speicheltest vorliegt. Die Abgabe dieser Probe ist jedoch freiwillig. Unsere Maßnahme wird so koordiniert, dass keine große zeitliche Verzögerung eintreten dürfte. Im Anschluss können Sie Ihre Heimfahrt ungehindert antreten. Noch ist unklar, welcher Terminal im Hamburger Hafen dafür geeignet ist. Wir werden Sie morgen früh vor dem Ausschiffen entsprechend informieren. Die Reederei hat einen anschließenden Shut-
tleservice, der Sie zum Flughafen, Hauptbahnhof oder Ihren Fahrzeugen bringen wird, kostenfrei eingerichtet. Ich hoffe auf Ihre Mithilfe und bedanke mich für Ihr Verständnis.“

Leises Wispern ging durch die Reihen. Der Entertainment Manager bedankte sich bei den Rednern für die transparente Information der Gäste und bot dem Publikum an, Fragen zu beantworten.

Eine junge blonde Frau traute sich als Erste. „Wie sind die Frauen getötet worden?“

Der Moderator blickte auf den Profiler, der zurückhaltend reagierte.

„Es tut mir leid, dazu kann ich aus ermittlungstaktischen Gründen keine Aussage machen.“

Die Fragende zog enttäuscht die Schultern hoch.

Doch eine männliche Stimme schrie „Sie sind skalpiert worden!“ in das große Theatrium.

Durch die Passagiere ging ein erschrecktes Raunen, wobei auch Schreie zu hören waren. Der Menge blieb auch nicht verborgen, dass sich der Profiler und der Kapitän irritiert anstarrten.

Da meldete sich dieselbe Stimme erneut zu Wort. „Sorry, das ist die aktuelle Meldung in den Google News.“

Sarah Langer verfolgte mit ihrer Begleitung die Ansprachen des Kapitäns und des Profilers aus der Kabine. „Na, was sagst du? Glaubst du wirklich, dass sie mehr wissen, als sie sagen?“

„Ich kann das schlecht einschätzen, Sarah“, antwortete die zweite Person in der Doppelkabine. „Lass uns doch selbst Profiler spielen. Ich bin jetzt mal Thorsten Büthe. Sie müssten ja nicht nur die Passagiere, sondern auch die Besatzungsmitglieder untersuchen. Dann wären das etwa 2500 Personen. Er hat auch betont, dass die Teilnahme freiwillig ist. Was glaubst du, wie viele machen mit? Und vor allem, was passiert, wenn wir uns weigern“, fragte der zweite Gast.

Sarah wirkte nachdenklich. „Spielen wir auch das mal durch. Optimistisch im Sinne der Polizei gerechnet, machen vielleicht 80 Prozent der Passagiere mit. 20 Prozent lehnen wie wir ab. Dann müssten sie im Anschluss bei 400 Gästen, die in alle Richtungen verteilt sind, richterliche Beschlüsse für einzelne Anordnungen erwirken. Das wird wohl eher nicht passieren. Wir werden irgendwann aufgesucht, überprüft, um dann zu entscheiden, ob wir so verdächtig sind, dass ein Gericht anordnet, eine Speichelprobe abzugeben. Selbst wenn es so wäre, wann soll das denn sein? In einem Monat, in zwei oder in noch weiterer Ferne? Wir verweigern einfach und gewinnen die Zeit, die wir brauchen, um alles so abzuschließen, wie wir es besprochen haben“, resümierte Sarah.

„Du hast wie immer so recht. Uns kann niemand aufhalten. Niemand“, stimmte die zweite Stimme mit ein.

In der Messe bereiteten die Offiziere der „Norwave“ und das OFA-Team samt der norwegischen Kollegen die Informationsveranstaltung im Theatrium nach.

„Trotz des Einwurfes mit dem Skalpieren ist es ganz gut verlaufen oder wie haben Sie es empfunden, Herr Büthe“, sprach der Kapitän seinen Mitredner an.

„Es war so transparent wie nötig. Mit solch internen Informationen müssen wir aber weiter rechnen und umgehend reagieren. Ihre Security sollte jetzt Präsenz zeigen und ansprechbar sein. Wir haben uns im OFA-Team anhand unserer fallanalytischen Methodik mit den Fällen und den Tätern beschäftigt. Frau Bayer-Westholdt hatte sich zudem unseren Vortrag aus der Perspektive der Täter angeschaut. Wie war dein Eindruck? Wie werden sie sich deiner Meinung nach jetzt verhalten, Carlotta?“

Die Einsatzpsychologin der OFA lehnte sich zurück und nutzte ihre handschriftlichen Notizen für ihre fachliche Einschätzung.

„Bei den beiden Tätern haben wir einen großen Vorteil. Sie sind zu zweit und es ist eine Frau dabei“, erstaunte sie die Zuhörer und erklärte weiter, „sie können sich noch in Ruhe abstimmen und abwägen, wie sie sich verhalten sollten. Eine Frau neigt eher nicht zu Kurzschlussreaktionen. Ich glaube, sie werden besonnen und möglichst unauffällig reagieren. Es sind genug Polizeibeamte an Bord, die beide Täter sofort festnehmen würden, wenn wir etwas in der Hand hätten. Es ist aber noch nichts passiert. Ich glaube, sie wägen sich in Sicherheit und diese Einschätzung ist ja auch realistisch. Was könnten sie denn auf dem Schiff machen, um ihre Position zu optimieren? Jede weitere Tat würde die Lage an Bord und auch den Kontrolldruck verschärfen. Sie haben Thorsten Büthe ständig bewusst an den Taten beteiligt. Durch unsere Begleitung sind wir ihnen bekannt. Die Täter werden sich mit unserem Team, der Arbeit an sich und auch unseren Kompetenzen durchaus auseinandergesetzt haben. Sie sind in der Lage, für sie vertretbare Risiken einzugehen und neigen sicherlich nicht zu Schnellschüssen. In Ålesund haben sie ein verletztes Opfer zurückgelassen und nicht spontan eine weitere Frau – nur um des Tötens willen – erstochen. Bernd Neubert hingegen hatte vermutlich die falsche Frau angebaggert und offensichtlich die Pläne des Duos durchkreuzt. Denn wir alle gehen ja davon aus, dass der Zettel mit dem Namen des Wasserfalles ursprünglich wieder für Herrn Büthe gedacht war. Auch hier haben sie reagieren müssen und kein zweites Opfer getötet. Wir sprechen dabei von einer gewissen Stressresistenz dieser Täter. Sie bleiben umsichtig und verfallen nicht in eine chaotische Panik. Denken wir zudem noch an die Oma mit dem Rollator in Oslo. Erinnern wir uns außerdem an den Umstand, dass unser Thomas, der eigentlich hübsche Frauen im Dunkeln wiedererkennt, diese blonde Frau auf dem Schiff nie wieder gesehen hat. Deswegen glaube ich an besonders kreative Täter mit Schauspieltalenten. Ich will es nicht schönreden, aber an deren Stelle würde ich mich an Bord friedlich unter die Gäste mischen, mich über den DNA-Test echauffieren und einfach eine Einwilligung verweigern. Sie werden als solche registriert, können unbehelligt das Schiff und den Kontrollbereich verlassen und müssen erst dann agieren, wie sie aus der Nummer rauskommen. Denn irgendwann werden wir bei ihnen klingeln“, stellte Carlotta die Situation der Täter aus ihrer psychologischen Sichtweise dar und gab dann ein Resümee ab. „Mein und auch unser Fazit: Es besteht keine Gefahr für die Passagiere, wenn die Täter nicht anderweitig in die Enge getrieben werden und dadurch keine Perspektive mehr sehen.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, sagte der Kapitän.

Das Handy von Magnus vibrierte wieder. Er nahm das Gespräch in norwegischer Sprache an, bedankte sich für die Info und gab das Gespräch an die Runde wieder.

„Das Opfer aus Ålesund ist aus dem Koma erwacht und konnte kurz befragt werden. Die Frau erzählte, sie habe den Täter auf dem Weg an der Aussichtsplattform getroffen. Dabei hätten sich beide mit „Hey“ gegrüßt. Dann sei sie weitergegangen und kurz darauf von hinten angegriffen und in das Gebüsch neben dem Weg gezerrt worden. Sie habe die Halsstiche als solche überhaupt nicht wahrgenommen und gedacht, er würde nur auf sie einschlagen. Anschließend hätte der Angreifer ihren Kopf nach hinten gerissen und ihr in die Stirn geschnitten. Als sich dabei ihre blonde Perücke plötzlich löste, ließ er abrupt von ihr ab und rannte zur Straße oberhalb des Aksla-Aussichtspunktes. Das Opfer beschreibt den Täter als Anfang/Mitte vierzig, etwa 175 Zentimeter groß und sportlich schlank. Er hatte schulterlange dunkelbraune Haare und trug einen Vollbart. Bekleidet war er mit einer dunklen Windjacke und einem Baseballcap. Bis auf ein „Hey“ hat er nicht gesprochen.“

„Na, das ist doch endlich mal was“, rief der Chief Purser euphorisch. Thorsten musste schmunzeln. „Wenn wir uns auf solche Beschreibungen verlassen, haben wir jetzt mindestens drei Täter. Eine Oma mit Rollator, eine hübsche blonde Frau mit Perücke und einen sportlichen Mittvierziger im Outdooroutfit, die wir an Bord allerdings alle nicht wiedererkennen würden.“

Jetzt wurde auch Kapitän Jacobsen lockerer. „Na, Chief Purser, das ist wohl heute nicht Ihr Tag.“ Busenfreunde waren die beiden anscheinend nicht.

„Okay, dann wollen wir alle wieder unseren Job machen“, schlug Eric Jacobsen vor, „ich sehe zu, dass wir weiter Vollgas geben und Hamburg vielleicht schon vor acht Uhr erreichen.“

Im Polizeipräsidium Hamburg hatte man in Kooperation mit dem LKA Niedersachsen eine Sonderkommission eingerichtet, die den Schiffsnamen „Norwave“ trug. Eine Delegation aus Hannover unter Leitung von Kriminaloberrätin Höppner war bereits am Samstagnachmittag in Hamburg eingetroffen, um alles vorzubereiten. So konnten sich Thorsten und seine Stabschefin über den aktuellen Stand an Bord und über die Fortschritte im Hafen austauschen.

„Hallo, Thorsten, wir haben uns mit den Behördenvertretern und der Reederei auf den Anleger am Cruise Center Steinwerder geeinigt. Die Halle ist groß genug, um die Passagiere geordnet durch die Untersuchungsstraße zu leiten. Wir werden sicher die ganze Nacht benötigen, um entsprechende Materialien zu beschaffen und die erforderlichen Qualitätsstandards dieser Maßnahme einzuhalten. Außerdem sind die Medienanfragen so enorm, dass wir eigene abgesperrte Pressebereiche einrichten müssen. Dafür ist der Anleger außerhalb der City ganz gut geeignet, und wir schaffen nicht auch noch eine Touristenattraktion. Die Passagiere werden nach dem Test mit Bussen zum Flughafen oder Bahnhof und den Parkplätzen ihrer Fahrzeuge gebracht. Die Reederei unterstützt uns hier vorbildlich und hat ebenso ein großes Betreuerteam im Einsatz. Wir haben zudem schon eine komplette Passagierliste bekommen. Die Hamburger Kollegen bereiten die Personalbögen schon vor“, kündigte Iris Höppner an.

„So hast du dir dein Wochenende sicherlich auch nicht vorgestellt, oder? Ich bin beeindruckt, dass ihr das so schnell auf die Beine stellt. Werdet ihr denn pünktlich fertig? Ich habe das Gefühl, dass der Kapitän mit voller Kraft vorausfährt, um möglichst früh anlegen zu können“, warnte Thorsten vor.

„Hier ist zwar ein stetiges Treiben wie auf der Hannover Messe kurz vor der Eröffnung, aber wir werden mindestens die gesamte Nacht benötigen, um die sterilen Teströhrchen zu beschaffen und die Technik zu installieren. Der soll jetzt keinen Stress machen. Er kann eh erst mit dem Ausschiffen beginnen, wenn wir grünes Licht geben“, gab Iris Höppner zu bedenken.

„Okay, ich gebe mein Bestes. Wie verfahrt ihr mit den Verweigerern? Wir vermuten, dass unsere Täter damit durchrutschen. Bislang sehen wir keine Chance, sie an Bord noch zu identifizieren“, befürchtete Thorsten.

„Wir haben die Meldebögen für jeden Passagier vorbereitet. Verweigert jemand die Probenentnahme, kreuzt er das auf dem Bogen an und unterschreibt ihn. Wir müssen dann sehen, wie viele eine Entnahme abgelehnt haben und wie wir damit umgehen. Da stimmen wir uns dann gemeinsam ab. Wir haben uns zudem darauf verständigt, auch die Crew im Anschluss an die Passagiere noch zu speicheln, um sicherzugehen, dass die Täter nicht aus diesem Kreis stammen. Die Reederei und auch der Kapitän wissen Bescheid, es ist aber unter der Besatzung bewusst noch nicht kommuniziert worden“, klärte die hohe LKA-Beamtin auf.

„Okay, dann gönnt euch nachher noch ein wenig Schlaf. Es wäre gut, wenn wir alle nicht zu spät ins Bett gingen, damit wir morgen fit sind.“ Das Team nickte ihm zu. „Viel Erfolg und bis morgen früh“, verabschiedete sich Büthe von seiner Chefin.

Zurück in der Offiziersmesse bat Thorsten, mit seinem Team im Crew-Restaurant essen zu dürfen. Die Passagiere würden sicher kein Verständnis haben, wenn sich das OFA-Team und die norwegischen Ermittler in dieser Phase ein Abendessen gönnen. Nur was sollten sie momentan tun, außer abwarten?

Einer aus seinem Team fehlte allerdings. „Maik, wo ist denn Thomas?“

Die ganze Gruppe schmunzelte. „Rate mal“, entgegnete Maik Holzner, „der läuft wieder einen Marathon von Deck zu Deck.“

Möglichst unauffällig wagte sich Sarah Langer samt ihrer Begleitung aus der Kabine. Nun waren sie von allen Informationen abgeschnitten. Sie pendelten bewusst zwischen Deck 9 und 10 und versuchten, die Stimmen der Gäste über die aktuelle Situation einzufangen. Von hier aus konnten sie das Treiben im Theatrium und in der Shopping Meile sowie das ein oder andere Gespräch belauschen. Sie entschlossen sich zudem, das Marktres-
taurant zu besuchen, um sich für alles, was noch kam, zu stärken.

Sarahs Begleitung stutzte. „Schau mal, ist das da nicht einer der Profiler?“, fragte er leise in ihr Ohr. Der Zeigefinger wies auf einen großen bärtigen Mann, dem sie den Rücken zukehrten. Thomas Schulte ging schnellen Schrittes durch das Buffetrestaurant und musterte die anwesenden Gäste.

„Mist, das ist der, der sich in Eidfjord zu mir umgedreht hat, als der Typ mir den Kaffeebecher fast über den Körper gekippt hätte. Lass uns bitte gehen, das ist mir hier zu heiß“, entschied die ehemals blonde Mörderin.

Das Pärchen verharrte kurz, bis Thomas das Markt-
restaurant verlassen hatte, ließ den leckeren Hauptgang liegen und kehrte zurück in die Kabine.