Kapitel XVII

Heimlichkeiten

Wie alle anderen gingen auch Nina und Kristin später in ihre Kabine. An der Tür hatten sie sich noch von den Jungs verabschiedet, die fast genau gegenüber schliefen. Weder Kristin noch Thomas war aufgefallen, dass sich die beiden anderen Kollegen in Erinnerung an die gemeinsame scharfe Nacht zugezwinkert hatten.

„Puh“, sagte Kristin erschöpft und ließ sich auf ihr Bett plumpsen. „So richtig viel von Erholung hat dieser Trip hier ja nicht. Das hatte ich mir deutlich anders vorgestellt.“

„Wir können vielleicht noch ein bisschen gemeinsam vor der Glotze chillen, um auf andere Gedanken zu kommen“, schlug Nina vor und grinste. „Sagte ich eigentlich schon, dass ich noch einen Rotwein im Koffer habe? Für alle Fälle!“

„Du schleppst Wein mit an Bord?“, fragte Kristin verwundert und schüttelte den Kopf.

„Klar“, erwiderte Nina, „in meinem Drei-Liter-Schlauch zu Hause war noch was drin, und ich dachte, das wäre mal ganz schön, den Abend zu zweit auf dem Balkon mit dir zu verbringen. Den Karton habe ich natürlich zu Hause gelassen. Auf diese Weise ließ sich der flexible Plastikschlauch gut zwischen die Klamotten quetschen.“

„Du bist schon eine Nudel“, kam es schmunzelnd von Kristin. Sie schaltete den Fernseher an und wollte gerade ein Programm auswählen, da lief ein witziger Werbespot. Er zeigte ein Faultier, das gähnend in einer Hängematte an Deck des Schiffs hing und sprach:

„Schlafen wird eindeutig überbewertet. Darum schwinge ich mich heute Abend zum Late-Night-Shopping in die Verkaufsmeile der ,Norwave‘, falls ich rechtzeitig genug ankomme. Wenn nicht, wünsche ich viel Spaß!“

Dann wurden die Zeiten angesagt.

„Mann, das wär’s doch“, sprudelte es aus Nina nur so heraus.

„Ach, ich weiß nicht. Morgen wird ein harter Tag“, wandte Kristin ein. „Außerdem hatten wir alle verabredet, dass wir uns jetzt Ruhe gönnen wollen.“

„Ja, und? Merkt doch keiner“, antwortete Nina. „Ehrlich gesagt sind wir hier aufs Schiff gekommen, um uns eine Auszeit zu nehmen. Und was ist daraus geworden? Nichts! Gar nichts! Es ist doch so, dass wir ganz genauso ackern wie zu Hause. Ich finde, wir haben uns ein bisschen Erholung verdient. Also, was ist? Kommst du mit oder soll ich alleine shoppen gehen?“

„Hast ja recht“, gab Kristin zu. „Ein bisschen Stöbern und Anprobieren tut uns mit Sicherheit gut. Vielleicht ist sogar was dabei, was uns gefällt.“

„Eben“, stimmte Nina zu, „und hinterher schlafen wir viel besser, denn so ein neues Teil macht auch glücklich.“

„Ich will aber nicht, dass die da gegenüber was mitkriegen“, bat Kristin. „Das bleibt unser kleines Geheimnis, einverstanden?“

„Von mir aus“, sagte Nina und kicherte. „Schleichen wir uns eben durch den Gang davon wie Verbrecher. Den Wein können wir später immer noch trinken und dann bestenfalls auf unsere Beute anstoßen.“

Die Profilerinnen steckten ihre Bordkarten ein und öffneten leise die Tür. Niemand zu sehen! Auf leisen Sohlen schlichen sie bis zur nächsten Ecke und gingen dann ganz normal weiter.

„Eigentlich ganz schön blöd von uns“, bemerkte Kristin stirnrunzelnd, „wir benehmen uns wie Kleinkinder, als ob wir uns rechtfertigen müssten.“

„Müssten wir im Prinzip nicht, aber es ist ja so, dass wir im Team vereinbart hatten, uns alle zur Ruhe zu begeben, damit wir am nächsten Tag fit sind. Insofern tanzen wir also aus der Reihe“, stellte Nina fest.

„Egal, das sind wir trotzdem“, erwiderte Kristin.

„Sag ich doch!“

Das Einkaufszentrum auf einem der unteren Decks war größer als sie erwartet hatten. Neben Boutiquen für Bekleidung und Schuhe befanden sich hier auch eine Parfümerie, ein Schmuckgeschäft und ein Friseur samt Nagelstudio. Bis Mitternacht hatte man heute geöffnet. Genug Zeit also, um sämtliche Auslagen zu durchstöbern.

„Boah“, sagte Nina, „das ist völlig an mir vorbeigegangen, dass hier so viele Geschäfte sind.“

„Wir hatten bisher auch echt keine Zeit für die schönen Dinge des Lebens“, gab Kristin zu. „Wo fangen wir an?“

„Also ich möchte mir gerne ein paar Schuhe angucken. Ist das für dich okay?“, fragte Nina.

„Schuhe sind immer gut“, freute sich Kristin, die zwar bekleidungstechnisch einen vollkommen anderen Stil bevorzugte, aber bei Schuhen ebenfalls auf Bequemlichkeit setzte.

Gemeinsam durchkämmten sie akribisch die Regale und suchten sich die Modelle aus, die sie probieren wollten.

„Guck mal, sehen die nicht irre aus?“, fragte Nina und hielt ein paar Stiefeletten hoch, die Zacken hatten wie ein Drache. Grün waren sie außerdem.

„Nicht dein Ernst!“, wunderte sich Kristin.

„Wieso?“, fragte Nina belustigt. „Die sind doch der Hammer.“ Sie setzte sich und probierte das Paar an.

„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“, fragte die rothaarige Verkäuferin, deren Gesicht mit Sommersprossen übersät war. Sie sprach mit demselben niedlichen Akzent wie Ingrid.

„Guten Tag, ja, gerne“, erwiderte Nina. „Haben Sie diese Schuhe auch eine Nummer größer? Sie fallen klein aus, glaube ich.“

„Moment, ich schaue sofort nach“, versprach die junge Frau.

Kristin verschwand mit ihren Füßen gerade in einem Paar wollener Hausschuhe. Sie waren viel zu groß.

„Hier, bitte sehr“, sagte die Rothaarige, „versuchen Sie es mal.“

„Kommen Sie aus Norwegen?“, erkundigte sich Nina interessiert.

„Nein, die Schuhe sind aus Island“, erklärte sie, „darum auch die Drachenform. Es gibt auch welche in Trollform.“

„Ach, interessant, aber ich meinte eigentlich Sie. Wir haben eine norwegische Kollegin, die spricht mit genau demselben Akzent.“

„Ja, das stimmt. Ich bin Marit und komme von Skarsvåg. Das ist ganz in dem Norden. In der Nachbarschaft von Nordkap.“

„Interessant“, staunte Nina und schlüpfte in die Drachenstiefel, „so weit oben waren wir nicht. Ist es da nicht im Winter ziemlich dunkel?“

„Schon, aber wir kennen es nicht anders. Das ist normal, auch die Temperatur ist kleiner“, berichtete Marit. „Passen die Schuhe jetzt besser?“

„Ich glaube schon“, antwortete Nina und stand auf, um ein paar Schritte zu gehen.

„Es gibt diese auch in Rot, wenn Sie das lieber ist“, sagte Marit.

Ninas Augen strahlten. „Das wäre fantastisch.“

„Warte, ich hole“, versprach die Verkäuferin.

„Moment“, warf Kristin ein. „Ich möchte gerne diese Hausschuhe in kleiner probieren.“

„In was für einer Größe, bitte?“, erkundigte sie sich.

„Gibt es auch halbe Nummern?“, wollte Kristin wissen.

„Halb haben wir leider in Wolle nicht. Dafür aber ist die aus echtem Islandschaf. Sehr warm. Sehr lange haltbar.“

„Gut, versuchen wir es mit 38“, schlug Kristin vor. „Vielleicht haben wir Glück.“

„Sonst geht es auch mit die schön dick gestrickte hier.“ Marit hielt ein paar bunte Socken hoch. „Willen Sie die Zuhauseschuhe in Rot oder dunkles Blau?“

„Blau, bitte.“

„Wartet, ich gucke beides gerne.“

Marit verschwand hinter einem Vorhang. Man hörte es kramen.

„Du willst dir nicht im Ernst diese Stiefel kaufen?“, insistierte Kristin. „Die kannst du vielleicht im Trollland anziehen, aber in Hannover? Da lachen sie dich aus.“

„Wieso, ich bin Vorreiter und bringe eine echte modische Innovation mit nach Deutschland. Bald wollen alle solche feuerspeienden Treter haben, glaube mir“, sagte Nina grinsend.

„Also, ich auf keinen Fall“, verneinte Kristin.

Marit kehrte mit drei Kartons zurück.

„So, wir haben fast mit allen Glück“, freute sich die Rothaarige. „Den aus Wolle gibt es nicht nur mit Blau, auch in stürmisches Grau, und hier ist das mit Drache in Rot. Aber ich finde, ist mehr wie Feuer.“ Marit packte die Stiefel aus. Sie waren eher orange als rot.

„Wahnsinn“, freute sich Nina, „da kann ich mich ja kaum entscheiden. Was denkst du, Kristin? Grün oder orange?“

Die Kollegin verdrehte die Augen. „Keinen von beiden“, sagte sie und wandte sich an die Verkäuferin. „Grau wäre mir noch lieber. Ich probiere sie mal an.“

Wider Erwarten fielen auch die Wollpuschen ziemlich klein aus. Sie passten Kristin wie angegossen.

„Nehme ich“, sagte die Profilerin, „und die Socken brauche ich zwar nicht hierfür, aber ich möchte sie trotzdem. So dicke habe ich noch nicht, und beim Stricken habe ich zwei linke Hände.“

„Oder keine Lust“, mischte sich Nina ein.

„Vielleicht auch das“, gab Kristin zu.

„Sehr gerne packe ich noch Socken mit ein“, erwiderte Marit. „Lieber bunt oder mit schwarz-weiße Muster? Ist beide 100 Prozent Islandschaf.“

Kristin überlegte kurz. Sie wusste nicht, wann sie mal wieder an reine Wollsocken kommen würde. Im Winter hatte sie nachts immer so kalte Füße. „Wie viel Euro kostet ein Paar?“

„14 Euro nur noch. Ist ein Angebot.“

„Zwei von jedem“, entschied sich Kristin, „und wie gesagt die grauen Hausschuhe. Das wär’s.“

„Hole ich gleich“, sagte Marit. „Und konnten Sie sich überlegen, was für eine Farbe?“, hakte sie bei Nina nach.

„Nein“, antwortete sie. Links hatte sie Grün an und rechts Rot-Orange. „Kann ich nicht. Ich muss beide nehmen.“

„Zum Tragen von beiden Farben zu gleicher Zeit?“, wollte Marit wissen.

„Nein, so verrückt bin ich nun auch wieder nicht“, erwiderte Nina mit einem Augenzwinkern.

„Na, ich weiß ja nicht so recht“, widersprach Kristin. „Zuzutrauen wär’s dir!“

„Ich denke, das könnte sehr lustig sein“, sagte Marit und packte beide Kartons für Nina ein. „Wir haben auch noch sehr schöne Mützen aus Merino von Norwegen, mit Trick. Hängen da drüben an der Kasse. Gucken wir mal?“

Die Profilerinnen folgten ihr.

„Wo ist der Trick?“, wollte Nina wissen.

Marit schmunzelte. „Wir Norwegischen sind praktisch. Die Mütze ist eins für alles.“

Fragende Blicke lagen auf ihr.

„Ja, das ist ganz einfach“, erklärte die Verkäuferin und nahm ein rundgestricktes Teil mit Kordelzug vom Ständer.

„Das ist doch keine Mütze“, bemerkte Kristin.

„Doch, ist ein Schal, ein Band für die Stirn und Mütze. Guck mal!“ Marit legte sich das Wollstück zunächst wie einen Schlauchschal um den Hals. Dann nahm sie es wieder ab, faltete es in der Mitte und setzte es sich als Stirnband auf. Anschließend nahm sie es auseinander, zog die Kordel zu und hatte eine Mütze.

„Genial“, fand Nina, und auch ihre Kollegin war begeistert.

„Irgendetwas Norwegisches müssen wir schließlich auch haben“, sagte Kristin. „Was für Farben gibt es denn?“

„Da ist die Rosa, Grau, Blau und Schwarz, immer mit Weiß in Muster von Norwegen. Passenden Handschuhen gibt es auch mit Trick. Ist mit Kombination aus Stulpen und Fingerling“, erklärte Marit.

„Wie wäre es mit einem coolen Partnerlook?“, erkundigte sich Nina.

„Für uns beide?“, hakte Kristin nach.

„Nee, für das gesamte Team zu Weihnachten als Überraschung und Erinnerung an Norwegen“, erklärte Nina.

„Ups, das wird teuer“, fürchtete Kristin.

Marit war eine gute Verkäuferin. „Ist jetzt schon SALE wegen Sommer“, warf sie ein, „aber bei viele könnte ich noch was machen mit Preisen.“ Sie rechnete kurz um. „Sagen wir mal 20 Euros pro Set für Hand und Kopf.“

„Es wären sechs“, sagte Nina.

„Ja, okay, das ist in Ordnung für mich“, erwiderte Marit. „Welche Farben denn?“

„Rosa für unsere softe Cornwall-Roman-Leserin Carlotta“, schlug Kristin vor. „Du brauchst Rot zu deinen neuen Stiefeln. Das ist ja wohl klar. Für die Jungs kommen nur Blau, Grau und Schwarz infrage. Ach, und Letzteres nehme ich auch. Einverstanden, Nina?“

Sie nickte.

„Dann haben wir alle Farben und zweimal Schwarz, ja?“, wollte Marit wissen.

Die Frauen nickten.

„Soll ich es einpacken wie ein Gift?“, erkundigte die Rothaarige sich.

Kristin und Nina stutzten.

„Was meinen Sie mit Gift?“, fragte Kristin verwundert.

„Oh, Verzeihung, ich meinte Gabe oder Geschenk. Ich habe aus Versehen auf Norwegisch gesagt“, klärte Marit auf.

„Nein danke“, antwortete Nina mit einem Grinsen. „Wir packen das später in Weihnachtstüten. Das geht schneller.“ Sie sah auf die Uhr. Gleich Mitternacht. „Ich glaube, Sie schließen gleich.“

„Würde kein Problem sein“, beteuerte Marit.

„Nee, nee, wir sind schon spät dran“, erklärte Kristin mit Blick auf Nina. „Wir sollten jetzt wirklich!“

Der Zahlvorgang mit den Bordkarten tat den Profilerinnen nicht wirklich weh. Im Moment war es einfach nur Plastikgeld. Sie würden den Betrag für die Präsente später aufteilen, beschlossen die beiden Frauen und verabschiedeten sich von der rothaarigen Marit, die sich herzlich bei ihnen bedankte.

„Du willst doch jetzt in den letzten zehn Minuten nirgendwo mehr hin, oder?“, erkundigte sich Kristin, aber es war mehr eine Feststellung.

„Keine Bange, ich bin jetzt pleite“, seufzte Nina, „aber diese irren Stiefel musste ich einfach haben. Es würde jetzt nur noch für einen Schlenderschluck an irgendeiner Bar reichen.“

„Von mir aus. Wir gucken mal, ob wir auf unseren Kaufrausch noch irgendwo im Vorbeigehen einen Schnaps trinken können“, erklärte sich Kristin einverstanden.

Mit ihren Tüten schlenderten sie auf zwei freie Plätze an einem Tresen zu, hinter dem ein Kellner Cocktails mixte. Dabei warf er den Shaker in hohem Bogen in die Luft. Dort drehte sich der Edelstahlbecher mehrfach um sich selbst, bevor er wieder aufgefangen wurde. Nina blieb stehen, staunte und peilte dann die Barhocker an. Im letzten Moment zog Kristin sie zur Seite. Als Nina gerade protestieren wollte, erkannte sie, wer da mit dem Rücken zu ihnen saß: Thomas und Maik!

Schnell traten die beiden Kolleginnen den Rückzug an. Draußen auf dem Gang atmeten sie auf.

„So, so“, sagte Nina entrüstet, „die sind ja auch nicht in ihrem Bett!“

„Dann lass uns schnell in unsere Kabine gehen, bevor wir noch Thorsten und Carlotta über den Weg laufen“, schlug Kristin amüsiert vor. „Vielleicht sind die ebenfalls unterwegs.“

Auf direktem Weg erreichten Nina und ihre Kollegin die gemeinsame Kabine. Anstatt mit Schnaps begossen sie ihre Beute mit einem Glas Rotwein und dösten danach zufrieden ein.

In der Nacht träumte Nina vom Fliegen. Sie zog als Drache ihre Kreise über norwegische Schären, stieg über den Fjorden auf und landete auf einem Gletscher, den sie mit ihrem Feueratem zum Wasserfall schmolz. Kristin schlief tief und traumlos bis zum Weckerklingeln.