Kapitel IXX

Die Speichelprobe

Der große Moment war gekommen. Was würden die Speichelproben ergeben? Was könnten sich die Täter überlegt haben, um den Test zu umgehen? Oder würden sie sich einfach weigern und hoffen, auf diese Weise Zeit zu gewinnen? Fragen über Fragen, es blieb spannend.

Bevor die Gangway freigegeben wurde, öffnete sich die Versorgungsluke und Kriminaloberrätin Höppner erschien. Alle begrüßten sich mit herzlichen Umarmungen. Die Stabschefin stellte den Profilern zwei Hamburger Kollegen vor, die die Kollegen der OFA mit den digitalen Funkgeräten samt Headsets ausstatten sollten. Thorsten, der die Teams im Vorfeld zusammengestellt hatte, ließ sie nun ihre Positionen besetzen. Erst als auch Thomas und Maik ihren Beobachtungsposten auf dem Dach des Cruise Centers mit den Feld-
stechern eingenommen hatten, erfolgte die Freigabe der Gangway. Der erste Strom der Passagiere von Deck vier verließ die „Norwave“ in ruhigem Tempo und wurde an Land von den freundlichen Betreuern der Reederei in Empfang genommen. Anschließend leitete man sie durch die Stationen der Registrierung und des DNA-Tests.

Den Urlaubern wurden nach Abgleich ihres Personalausweises oder Reisepasses sowie der Bordkarte die vorbereiteten Personalbögen vorgelegt. Hier erläuterten ihnen uniformierte Hamburger Polizisten die Gründe sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme an diesem Test. Sie warben aber auch für eine Kooperationsbereitschaft. Nun hatten die Gäste die Wahl, dem Test zuzustimmen oder lediglich mit einem Kreuz auf dem Schreiben abzulehnen. Eine Begründung für diese Ablehnung war nicht erforderlich. Nach ihrer Unterschrift wurden sie dann in die angelegten Teststationen oder bei Ablehnung direkt zur Gepäckausgabe geleitet.

Das alles geschah ohne Hektik mit ruhigen und empathischen Erläuterungen.

Iris Höppner führte Ingrid Larsen und Thorsten Büthe durch die verschiedenen Stationen und erläuterte ihnen den geplanten Ablauf. Dem Profiler fiel die große Anzahl an jungen und sportlichen Betreuern auf, die sich der Rückkehrer direkt beim Verlassen der Gangway sehr persönlich annahmen und sie in das Cruise Center führten. Sie waren alle mit den gleichen Poloshirts mit dem „Norwave“-Logo bekleidet, trugen dunkle Gürteltaschen und waren somit für jeden Gast als zugehörig zu erkennen. Ein Blick auf seine Chefin veranlasste Iris Höppner zu einer genaueren Erklärung. Ihr war bekannt, dass Thorsten einige Jahre in einer solchen Einheit gearbeitet hatte.

„Wir haben hier auf Kräfte des Mobilen Einsatzkommandos zurückgegriffen. Sie haben die Aufgabe, Passagiere, die alleine oder als Pärchen ohne Kinder reisen, persönlich zu zweit in die Halle zu begleiten. Sollte Thomas vom Dach entsprechende Ähnlichkeiten feststellen und dies über Funk mitteilen, gilt die gleiche Verfahrensweise. Falls die Täter an Land doch aus irgendeinem Grund in Panik geraten, können die MEK-Teams sofort einschreiten. Daher haben wir auf den umliegenden Dächern und Kränen zudem Scharfschützen des SEK postiert. Auf einem Parkplatz stehen außer Sichtweite Rettungswagen mit Notärzten bereit. Sicher ist sicher“, erklärte die niedersächsische Einsatzleiterin.

Zu dritt ging es weiter in das Cruise Center. Dort ließen sie sich die Teststationen erklären. Ingrid und Thorsten waren beeindruckt.

„Das habt ihr alles innerhalb von 16 Stunden aufgebaut? Chapeau!“, lobte Ingrid Larsen.

Iris bedankte sich, erwähnte aber auch, dass die hamburgischen und niedersächsischen Einsatzkräfte an einem Strang gezogen hätten. Es sei eine absolute Teamleistung aller gewesen und nicht nur ihr Verdienst.

Kristin und Magnus beobachteten währenddessen die geordneten Abläufe an Bord. Deck für Deck wurden die Passagiere zur Gangway geleitet, von Hektik oder gar Panik war nicht das Geringste zu spüren.

Pro Deck hatte der Security Offizier ein Team abgestellt, das die Kabinen nach dem Ausschiffen der Gäste überprüfte und sie anschließend verriegelte.

In der Kabine 9112 wurden Sarah Langer und ihre Begleitung ungeduldig und nervös. Ausgerechnet sie waren mit den anderen Passagieren des obersten Decks 9 die letzten Gäste beim Ausschiffen. Von ihrem Balkon auf der Steuerbordseite aus hatten die beiden einen Logenplatz und konnten die Abläufe am Pier genau beobachten. Aufgrund ihrer erhöhten Position blickten sie zudem direkt auf das Dach des Cruise Centers. Dort machten sie, während sie jeden Passagier auf der Gangway mit einem Fernglas musterten, den bärtigen und einen kleineren blonden Beamten der Profilergruppe aus. Sarah war schon so paranoid, dass sie fast zurücksprang, als der blonde Profiler seinen Feldstecher nach oben über die Zuschauer zu den Balkonen der Außenkabinen schwenkte.

„Sarah, reiß dich zusammen! Dich wird niemand erkennen, wenn du nicht durch dieses sprunghafte Verhalten auffällst. Wir haben alles besprochen. Uns wird hier nichts passieren. Kann ich mich auf dich verlassen, Sarah?“, fragte die zweite Person ärgerlich.

Sarah schmiegte sich an die Schulter ihrer Begleitung an. „Ja, du hast ja recht. Ich reiße mich jetzt zusammen. Mach dir keine Sorgen!“

Gemeinsam lauschten sie der Ansage, die aus den Lautsprechern zu hören war.

„Sehr geehrte Gäste des gesamten Decks 9, ich bitte Sie nun, sich direkt zur Gangway zu begeben. Auch bei Ihnen bedanke ich mich ausdrücklich für Ihr Verständnis und Ihre Kooperationsbereitschaft. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Heimreise und freue mich auf ein Wiedersehen. Bis zum nächsten Mal, Ihr Kapitän.“

Auf dem obersten Deck befanden sich nur insgesamt 67 Kabinen, sodass alle Passagiere der Backbord- sowie der Steuerbordseite gemeinsam aufgerufen wurden. Mit einem weiteren Pärchen fuhren die Gäste der Kabine 9112 im Fahrstuhl nach unten. Es folgte der typische Smalltalk, wie oft sie denn schon mit der „Norwave“-Flotte gefahren seien und dass sie solche Umstände noch nie erlebt hätten. Zu allem Überfluss musste dieses Pärchen dann auch noch betonen, dass sie als Nutzer einer Suite und der „Norwave“-Lounge über Insiderinformationen zu den Taten und den Ermittlungen an Bord hatten. Die Frau wollte sogar den abgestürzten Passagier gekannt haben. Er hatte wohl mit ihr anbändeln wollen, vermutete sie.

„Wer weiß, in welche Romanzen der noch so verstrickt war“, sagte sie abschätzig.

Da konnte Sarah nicht mehr an sich halten. Sie kommentierte den Satz treffend. „Im wahrsten Sinne des Wortes“, entfuhr es ihr.

Die redselige Frau stutzte kurz und konnte die Reaktion nicht einordnen, wurde aber noch verwunderter, als sie sah, dass die Begleitung ihres Gegenübers unmittelbar den Ellenbogen in Sarahs Seite stieß und diese daraufhin innehielt. Das Ehepaar wechselte lieber das Thema und stellte sich förmlich als Eugenia und Justus von Mühlenberg vor. Mit unverfänglichen Gesprächs-
inhalten beschäftigten sie das Pärchen aus der Kabine 9112 bis hinunter zur Gangway, sodass Sarah abgelenkt war und nicht einmal mehr einen Blick auf das Dach des Cruise Centers warf.

Zu viert wurden sie nun in die große Halle geführt und von sympathischen Polizisten über die geplanten Maßnahmen aufgeklärt. Beim Unterschreiben des Kontaktbogens mussten sie sich dem echauffierten Ehepaar von Mühlenberg, die den freiwilligen Test per se ablehnten, nur anschließen und wurden direkt zum Gepäckempfang geführt.

Als auch die letzten Gäste von Deck 9 ausgeschifft waren, meldete der Security Offizier über Funk an den Kapitän: „Alle Kabinen verlassen, geprüft und verschlossen.“

Dem Kapitän sowie Magnus und Kristin fiel ein Stein vom Herzen, als eine weitere Meldung des Security Offiziers alles wieder relativierte.

„Herr Kapitän, die Crew vom Check-out informierte mich soeben, dass eine Bordkarte noch nicht abgemeldet worden ist. Es handelt sich um Maja von Mühlenberg aus der Suite 9202. Auch diese Kabine ist überprüft und verschlossen worden.“

In Windeseile ließ der Kapitän auf der Brücke den Datensatz über die Besetzung der genannnten Kabine aufrufen.

Es handelte sich um eine Premium-Suite mit privatem Sonnendeck im Bug auf der Ecke der Backbordseite. Als Passagiere der Suite waren das Ehepaar Eugenia und Justus von Mühlenberg sowie ihre 16-jährige Tochter Maja eingetragen.

„Haben Sie Zugriff auf das Foto auf der Bordkarte?“, fragte Kristin sofort und war mit einem Blick auf das Bild schlagartig im Einsatzmodus. Maja hatte lange blonde Haare.

„Was ist mit den Eltern?“, hakte Magnus nach.

Der Kapitän tippte in dem Datensatz. „Check-out um 9:21 Uhr.“

Kristin rief ins Funkgerät: „Iris, Thorsten, es wird die 16-jährige Maja von Mühlenberg vermisst. Die Suite ist leer, ihre Eltern haben bereits ausgecheckt. Von ihr gibt es keine Spur. Sie hat das Schiff bislang nicht verlassen. Ach, eine Info als Ergänzung: Sie hat lange blonde Haare. Könnt ihr die Eltern unten noch einfangen?“

„Schickt uns ein Foto der Eltern und der Vermissten. Wir versuchen sie zu finden, ohne sie ausrufen zu müssen. Außerdem machen wir das Cruise Center erst mal dicht. Nina, Carlotta, ihr überprüft, bei welcher Station sie gerade sind. Ich hoffe, sie haben nicht verweigert und sind schon draußen. Maik, Thomas, ihr sprintet zum Shuttleparkplatz. Schnappt euch ein Einsatzkommando und versucht sie zu finden. Wir stoppen sämtliche Busse. Und los!“, ordnete Thorsten Büthe an. „Iris steht neben mir und veranlasst die erforderlichen Maßnahmen mit der Polizei Hamburg.“

Eugenia von Mühlenberg hörte nicht auf, auf das Pärchen aus 9112 einzureden. „Wir müssen zum Flughafen und fliegen weiter nach München. Wir haben ein Seegrundstück am Ammersee und wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?“

Sarah kam nur dazu, „in Hannover“, zu sagen, dann setzte sich das Stakkato wie ein Maschinengewehrfeuer fort.

„Wissen Sie, in München kann man ja nicht mehr leben. Diese ganzen Touristen . . .“

Ihr Mann Justus wagte es, sie zu unterbrechen. „Du Schatz, sag mal, wo ist eigentlich Maja?“

Eugenia holte tief Luft. „Sie wird auf eigene Faust zum Flughafen gefahren sein“, erwiderte sie und beugte sich erneut Sarah zu. „Wissen Sie, unsere Maja ist 16. Sie hat alles, bekommt alles, und was ist der Dank? Wir sind ihr peinlich. Sie hat sich an Bord komplett abgekapselt, wollte nicht mit uns essen gehen und war selbst abends allein unterwegs. Aber das konnte uns egal sein, denn wo soll sie auf einem Schiff schon hin?“, lachte Eugenia von Mühlenberg. „Haben Sie Kinder?“, fragte sie nur rhetorisch und wandte sich dann zu ihrem Mann um. „Justus, die ganze Zeit hast du keinen Ton gesagt, und jetzt plötzlich machst du dir Sorgen? Sie wird uns am Flughafen treffen. Da hat sie sich dann wahrscheinlich schon einen Burger reingezogen und will nicht mal mit uns gemeinsam das Flugzeug besteigen. Ich bin gespannt, wann du sie in ihre Schranken weist, Justus“, platzte es aus ihr heraus.

„Taxi!“, rief Justus, und ein Mercedes Vito fuhr vor. Sarah wünschte dem Ehepaar von Mühlenberg einen guten Heimflug und wollte sich gerade mit ihrer genervten Begleitung zum Busshuttle begeben.

„Wo müssen Sie denn hin? Auch zum Flughafen?“, fragte Eugenia.

„Nein, wir sind mit dem Auto hier und müssen nur zum Parkplatz. Das ist mit dem Shuttlebus nur fünf Minuten von hier“, erklärte Sarah.

„Na, da können wir Sie doch mitnehmen. Das Taxi ist groß genug und wir unterhalten uns doch gerade so angeregt. Was sagst du, Justus?“, buhlte Eugenia um seine Bestätigung, die er natürlich mit einem knappen „Gern“ gab.

Der Taxifahrer nahm ihnen die Trolleys ab und ließ die Fahrgäste einsteigen.

Zur selben Zeit gab Nina über Funk durch, dass die von Mühlenbergs den Test verweigert und schon ihr Gepäck in Empfang genommen hatten. Sie konnten daher bereits in einem der Shuttlebusse oder in einem Taxi sitzen. Iris Höppner gab die Information sofort an die Hamburger Einsatzleitung weiter, die nach wenigen Minuten über Funk bestätigte: „Die Ausfahrt ist für jeglichen Fahrzeug- und auch Fußgängerverkehr auf der Buchheisterstraße vor dem Reiherdamm abgesperrt.“

Im Taxi musste sich Sarah auf die Monologe von Eugenia von Mühlenberg konzentrieren. Daher bemerkte sie durch die abgedunkelten Scheiben des Vitos gar nicht, welches Treiben plötzlich am Anleger herrschte. Ihre Begleitung buffte sie mit dem Ellenbogen mehrfach in die Seite, bis Sarah endlich aufmerksam wurde. Streifenwagen preschten mit Blaulicht an ihnen vorbei. Uniformierte Polizisten rannten zum Anleger. Mulmig wurde ihr, als sie sah, wie schwer bewaffnete Elitepolizisten vom Cruise Center in Richtung Ausfallstraße liefen.

Das Taxi setzte sich dennoch in Bewegung und musste an einer der Vollsperrungen stark abbremsen. Schwer bewaffnete Einheiten kontrollierten die Insassen der Shuttlebusse und des Taxis vor ihnen. Sarah und ihrer Begleitung stand vor Aufregung der Schweiß auf der Stirn, während Eugenia von Mühlenberg nur die Sorge hatte, ihren Flug nicht mehr pünktlich erreichen zu können.

„Justus, wenn wir es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen schaffen, schalten wir aber unseren Anwalt ein und verklagen die Reederei. Das reicht mir jetzt nämlich. So etwas ist doch kein Urlaub mehr. Nicht wahr, Justus?“

Plötzlich flogen die Türen auf. Sarah und ihre Begleitung waren sich sicher, dass ihre Reise hier zu Ende war. Sie hielten sich fest an den Händen. Ihre Begleitung riet ihr leise: „Sarah, keinen Widerstand, bleib einfach ruhig. Das hat keinen Zweck mehr.“

Die vermummten Polizisten blickten allerdings zwischen einem Tablet und dem adeligen Ehepaar hin und her.

„Eugenia und Justus von Mühlenberg?“, fragte einer der Beamten des SEK. Eugenia reagierte nun vollkommen perplex mit einer ihr gänzlich untypischen zittrigen Stimme: „Jaaaa?“

„Steigen Sie bitte ganz ruhig aus und begleiten Sie uns“, forderte der Elitepolizist so eindringlich, dass selbst das Ehepaar von Mühlenberg keine Widerworte hatte und meldete in sein Funkgerät: „Wir haben sie gefunden!“

Ein zweiter Polizist sprach die beiden anderen Fahrgäste an, die völlig verunsichert auf der Rückbank saßen. „Und wer sind Sie?“, erkundigte er sich.

„Wir wollten uns doch nur das Taxi teilen“, antwortete Sarah stotternd und hoffte inständig, dass die Einsatzkräfte es dabei belassen würden.

Mit einer Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten wünschte der SEK-Beamte den beiden Fahrgästen eine angenehme und störungsfreie Heimreise und ließ das Taxi passieren.

Das Ehepaar von Mühlenberg wurde direkt zurück zum Cruise Center gefahren und mit der Mitteilung konfrontiert, dass ihre Tochter Maja die „Norwave“ offensichtlich nicht verlassen hatte.

„Waaaas?“, fragte Eugenia von Mühlenberg nun doch besorgt. „Wir dachten, sie sei schon vorgefahren und haben uns gar keine Sorgen gemacht. Wo kann sie denn nur sein?“

„Können Sie Maja auf dem Handy anrufen?“, hakte Iris nach.

„Natürlich“, bestätigte ihre Mutter und wählte die Nummer der Tochter. Ein Freizeichen ertönte, dann sprang die Mailbox an.

Thorsten beugte sich zu Iris Höppner vor und flüsterte ihr ins Ohr. „Okay, ich fürchte, wir müssen das Schiff auf den Kopf stellen. Hoffentlich ist sie nicht über Bord gegangen.“

Erst jetzt konnte Justus den Grund der hektischen Polizeiaktion richtig einordnen und wurde unruhig.

„Sie glauben, unserer Tochter könnte an Bord etwas zugestoßen sein, oder?“, wollte der beunruhigte Vater wissen.

Seine Frau schrie fast hysterisch, während sie sprach. „Erst der nette Mann aus Lüneburg und jetzt soll auch noch Maja verschwunden sein? Was ist hier bloß los?“

Kristin stutzte. „Sie kannten den Passagier, der in Eidfjord verunglückt ist, Frau von Mühlenberg?“

„Wüsste ich es nicht besser, dann könnte meine Frau ihn auf dem Gewissen haben. Sie hat nämlich versucht, ihn totzuquatschen“, kommentierte der Ehemann genervt.

„Justus!“, rief sie echauffiert. „Die beiden von Deck 9 haben darauf schon so komisch reagiert. Nein, im Ernst, er hat mich angeflirtet und dachte wohl, ich reise allein. Er war sehr höflich und hat sich als Bernd vorgestellt. Wir haben uns angeregt unterhalten. Mehr lief da nicht“, rechtfertigte sich die Diva.

„Jetzt sollten wir uns erst mal darum kümmern, dass wir Ihre Tochter wiederfinden. Dann können wir ja noch mal über diesen Vorfall sprechen. Okay?“, schlug Kristin fort.

Das OFA-Team samt der Einsatzleitung begab sich wieder an Bord der „Norwave“, um die Durchsuchungsmaßnahmen abzustimmen. Der Security Offizier bildete Durchsuchungsteams, denen jeweils zwei Hamburger Polizisten zugeordnet wurden. Thorsten bat den Kapitän um eine Karte für die Suite 9202, um nach Hinweisen auf Maja suchen zu können.

„Kristin, kommst du mit, vielleicht fällt uns ja was auf.“

Als sie die große Premium-Suite öffneten, schlug ihnen ein kräftiger Durchzug von der leicht geöffneten Balkontür zu dem privaten Sonnendeck entgegen, der die Vorhänge in den Raum fliegen ließ. Sowohl Kristin als auch Thorsten griffen sich instinktiv an die rechte Hüftseite, an der sich normalerweise das Gürtelholster ihrer Dienstwaffe befand, die sie als Urlauber natürlich nicht mit dabeihatten. Durch Zeichensprache näherten sie sich dem Sonnendeck. Sie mussten sich weit aus der Balkontür lehnen, um die Sonnenliege ganz hinten in der linken Ecke oder besser gesagt, in Richtung Backbord, zu entdecken. Auf ihr lag ein blondes Mädchen, das mit seinem Kopf im Rhythmus fetziger Musik hin und her wippte. Während der Beschallung aus ihren iPods surfte sie auf Instagram. Maja erschrak, als Kristin ihre Schulter leicht berührte.

„Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier rein?“, fragte sie verdattert.

Obwohl ihr die beiden Profiler erklärten, welche Aktion sie hier gerade durch ihren Verbleib an Deck ausgelöst hatte, ging sie überhaupt nicht darauf ein, sondern stellte lediglich fest: „Ach, wir können endlich von Bord? Na, das wird auch Zeit.“

Maja hatte sich die ganze Zeit in der hintersten Ecke des Sonnendecks aufgehalten und war weder von ihren Eltern noch der Security Crew während der Überprüfung entdeckt worden. Sie hatte das Auschecken verpennt, denn sie lebte in ihrer eigenen Welt, in der sie die „Alten“, wie sie sie heimlich oft nannte, meist überhaupt nicht erreichen konnten. Selbst die freudige Umarmung ihrer Eltern im Hafen war ihr einfach nur peinlich.

Als Kristin und Thorsten die frohe Botschaft über Funk mitteilten, wurden die Durchsuchungs- und Absperrmaßnahmen umgehend abgebrochen und der Einsatz als relativ erfolgreich abgeschlossen.

Familie von Mühlenberg zog ihre Trolleys über den Parkplatz, um sich ein neues Taxi zu bestellen. Dabei diskutierten sie lautstark.

Maja blieb lieber auf Distanz.

„Ach, Frau von Mühlenberg, einen Moment noch“, bat Kristin. „Sie beschrieben doch vorhin eine komische Reaktion bei der Begegnung mit anderen Passagieren von Deck 9. Wie meinten Sie das?“, erkundigte sie sich.

Eugenia stoppte. „Na ja, da war eigentlich nichts. Im Gespräch erwähnte ich, dass mich der Verstorbene an Bord angesprochen hatte. Er wollte wohl mehr und hatte mich angebaggert. Ich äußerte den beiden gegenüber, dass er wohl noch in andere Affären verstrickt war. Darauf reagierte die eine Frau, die sich als Sarah vorgestellt hatte, mit dem Spruch ‚Im wahrsten Sinne des Wortes‘. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hatte, aber die andere hat sie dann unsanft in die Seite geknufft. Dann war diese Sarah still, und wir haben das Thema gewechselt. Mehr war da eigentlich nicht.“

Bei Kristin schrillten sofort die Alarmglocken. „Wissen Sie, wo die beiden jetzt sind?“

„Wir haben sie noch im Taxi mitgenommen, aber als wir von der Polizei aus dem Wagen geholt worden sind, sind sie weitergefahren. Sie kämen aus Hannover, hatten sie erzählt und seien mit ihrem Auto hier. Mehr können wir Ihnen nicht sagen“, bedauerte Eugenia von Mühlenberg.

„Eine Frage hätte ich noch. Können Sie uns die beiden vielleicht beschreiben?“, blieb Kristin interessiert am Ball.

„Sarah ist Mitte 40, etwa 170 Zentimeter groß, schlank und recht attraktiv. Sie trug eine dunkelbraune Kurzhaarfrisur mit einem rosa Basecap. Blaue Löcher-Jeans, helle Chucks und einen hellbraunen Hoodie. Die andere Frau ist etwas größer und kräftiger, aber nicht dick und trug ein buntes Sommerkleid mit flachen Ballerinas. Sie hatte sich nicht vorgestellt und auch kaum gesprochen“, erinnerte sich Eugenia von Mühlenberg.

„Herzlichen Dank, das hilft uns sicher weiter. Hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt. Einen guten Heimweg und alles Gute für Sie“, verabschiedete sich die Profilerin und grübelte.

War sie jetzt übertrieben sensibel oder war das eine Spur? Aber zwei Frauen? Kristin schilderte der OFA-Gruppe den Eindruck von Eugenia von Mühlenberg und war sich unsicher. „Meine Gedanken schwenken von reinem Zufall und einem dummen Spruch bis hin zu Täterwissen. Was meint ihr?“

„Wir können uns die beiden Passagiere ja noch mal anschauen und dann entscheiden, was wir daraus machen“, schlug Thorsten Büthe vor.

Gesagt, getan. Sie ließen die bekannten Daten über die Passagierliste auf Deck 9 laufen und wurden bei Kabine 9112 fündig. Es handelte sich um Sarah Langer, 45 Jahre, und Henrike Noltemeyer, 41 Jahre. Beide stammten aus Hannover. In der Datei war eine Historie vermerkt. Dort stand, dass sie mit ihren Ehemännern im letzten Jahr schon dieselbe Tour auf der „Norwave“ gefahren waren. Sie fragten Magnus, ob seinerzeit auch Tötungsdelikte in Norwegen bekannt geworden waren. Das verneinte der Ermittler aus Oslo.

„Ich glaube nicht, dass das, was wir haben, reicht, um den beiden zu folgen und sie auf der A 7 auszubremsen, nur um sie dann zu fragen, wie sie das im Gespräch mit Frau von Mühlenberg gemeint haben. Darum schlage ich vor, wir schicken ein KT-Team in die Kabine 9112, sichern noch mögliche DNA-Spuren und gleichen sie auf eine Relevanz mit der Tat ab. Einverstanden?“, schlug Iris Höppner vor.

Das Team stimmte zu.

Sie ließen den Einsatz, wie vom Kapitän vorgeschlagen, mit den betroffenen Crew-Mitgliedern und den beteiligten Polizisten aus Norwegen, Hamburg und Niedersachsen bei alkoholfreien Getränken ausklingen. Danach verabschiedeten sie sich herzlich und begaben sich erschöpft, aber einigermaßen zufrieden auf den Heimweg.

Ein Spurensicherungsteam der Polizei Hamburg machte sich unterdessen auf die Suche nach entsprechendem DNA-Material und stellte auch die benutzte Bettwäsche in der Kabine 9112 sicher.

Sarah und Henrike waren ohne weitere Komplikationen durch Hamburg gekommen und fuhren nun auf der Bundesautobahn 7. Sie kämpften sich durch den dichten Rückreiseverkehr. Am nächsten Tag endeten die Schulferien in einigen Bundesländern. Die Urlauber kehrten in Massen von der Nord- und Ostsee sowie aus den skandinavischen Ländern zurück.

Zuerst sprachen sie kein Wort. „Hast du dir die Woche in Norwegen und alles andere so vorgestellt, Henrike?“, fragte Sarah unsicher.

„Du weißt doch, dass sich Fantasie und die brutale Realität stark unterscheiden. Im Traum und in den Gesprächen ist es total einfach. Stehst du vor einer Entscheidung, musst du zeigen, ob du stark bist oder schwach bleibst. Wir haben es bis hierhin geschafft und werden es weiter hinkriegen. Die Kerle haben uns verarscht und alles kaputt gemacht. Wir sind so was von ausgenutzt worden und erhalten heute die Quittung, weil wir zu blöd waren. Wir waren Schafe und sind mit den geilen Böcken auch noch verheiratet. Erinnere dich, dass du dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen bist. Aber anstatt dir in der schlimmen Zeit beiseitezustehen und dich zu unterstützen, muss dein Schatz seinen Schwanz in was Junges und Gesundes stecken, während du in der Chemo hängst. Hast du das verdient?“, schimpfte Henrike.

„Nach der OP nahm er mich in den Arm und tröstete mich“, schluchzte Sarah. „Er sagte, er würde mich auch ohne Brüste lieben.“

Henrike wurde noch wütender. „Ja, und als er aus dem Krankenhaus kam, wartete seine junge Blondine auf ihn, der er im Auto gleich an die Titten gegangen ist. Ich könnte heute noch kotzen.“

„Immerhin bist du gesund, Henrike, alles andere schaffen wir schon gemeinsam“, versuchte Sarah ihre Freundin aufzumuntern.

„Prima, gesund und pleite. Das ist ein beschissenes Gefühl, wenn du in deinem schönen Haus mit Garten sitzt, es klingelt und anstatt des Zalandomannes ein Gerichtsvollzieher vor dem Haus steht, der dir verkündet, dass alles, aber auch alles gepfändet ist. Er nimmt sich die Fernbedienung der Garage und lässt daraus den X5 von Lars und mein Mini Cabrio abschleppen, weil schon ein halbes Jahr weder die Leasingraten noch der Abtrag für das Haus gezahlt worden sind. Das Einzige, was er mir gelassen hat, war das alte Klapprad meiner Mutter, um damit mit der Straßenbahn und dann in seine Firma fahren zu können. Das dachte ich zumindest, dass es noch sein Betrieb war. Ich wurde vom Insolvenz-
verwalter nur unter Aufsicht hereingelassen, um meine privaten Sachen rauszuholen. Das war’s. Ich wusste von nichts, war komplett ahnungslos, aber unsere beiden Lieblinge haben sich im Suff auf Malle durchgevögelt und sind durch die Casinos getingelt. Der Arsch hat fast eine halbe Million Euro verspielt“, resümierte Henrike unter Tränen.

Jede der beiden Frauen war so erregt, dass sie auf der Fahrt nach Hannover wieder über ihre beiden Schicksale sprachen und sich die Motivation für die Mordserie und alles, was noch kommen sollte, schönredeten.

Im letzten Jahr, vor Sarahs Diagnose auf fortgeschrittenen Brustkrebs und der Insolvenz von Henrikes Mann Lars, wollten sie unbefangen zu viert die gleiche Nordtour wie jetzt mit der „Norwave“ genießen. Die Jungs hatten ihren Frauen die Reise aus Liebe und Dankbarkeit geschenkt oder eher so verkauft. Um sich nicht zu sehr auf die Nerven zu gehen, war vereinbart worden, dass die Pärchen jeweils etwas auf eigene Faust unternehmen wollten. Das galt sowohl an Bord als auch bei den Landausflügen. Doch offenbar hatten Sarah und Henrike diese Idee vollkommen missverstanden, denn Henry und Lars meinten die Paare der Männer und der Frauen. Sie wollten eine ungestörte Sause auf dem Kreuzfahrtschiff genießen. Die Damen sollten lediglich beschäftigt sein.

Sarah und Henrike waren verstört und ernüchtert gewesen. Sie hatten dann auf der Fahrt recht früh ihre Konsequenzen gezogen und, eigentlich aus Trotz, eine gemeinsame Doppelkabine genutzt. Die Männer sollten sehen, wie sie klarkamen. Durch das Trösten untereinander waren bei den Frauen gegenseitige Gefühle gewachsen, die sie auch sexuell ausgelebt hatten. Dadurch waren Dinge zutage getreten, die das Misstrauen in ihre Ehemänner gesteigert hatten. Infolgedessen hatte Sarah einen Privatdetektiv engagiert, der Lars und Henry über Monate observiert und sich sogar in ihre Handys gehackt hatte, sodass er Zugriff auf den gegenseitigen WhatsApp-Chat gewinnen konnte. Damit hatte das Drama begonnen. In diesen Chats konnte der Detektiv Screenshots vorweisen, die offenlegten, dass Henry und Lars auf der Norwegentour jeden Landausflug genutzt hatten, um langhaarige, blonde, vollbusige junge Frauen flachzulegen. Sie hatten nie klären können, wie ihnen das wohl immer wieder gelungen war. Vermutlich mit Geld und Großzügig- oder eher -kotzigkeit. Wie im Tierreich war zwischen den Männern eine Art Konkurrenz entstanden, in der sie sich hochgeschaukelt hatten. Wer stellte das stattlichere Männchen dar? Wer kaperte die geileren Frauen? Längere blonde Haare, längere Beine, größere Brüste. Das waren die Inhalte ihrer Chats gewesen. Auf Nachfrage, ob ihre Männer in Norwegen einmal die Namen ihrer Ehefrauen erwähnt hätten, hatte der Detektiv beschämt zugeben müssen: „Leider nein.“

Ein Schock für beide.

Nachdem Sarah durch die Chemotherapie sämtliche Haare ausgegangen waren, hatte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Henry konnte das seinerzeit nicht nachvollziehen und brachte ihr eine blonde Langhaarperücke mit. Als der Detektiv Henrike die Fotos zeigte, auf denen Sahras Mann nach dem Krankenhausbesuch mit seiner jungen Geliebten eine Nummer auf dem Parkdeck des Krankenhauses schob, war ein Entschluss gereift, der die enttäuschten Frauen noch tiefer zusammenschweißte.

Auf diese Weise entwickelte sich ein perfider Plan, der mit sogenannten „Stellvertretermorden“ an jungen, blonden Frauen entlang der Strecke der „Norwave“ begonnen hatte und noch nicht zu Ende war.

Sarah setzte Henrike vor ihrem Mehrfamilienhaus in Hannover-Herrenhausen ab. Dort hatten Lars und sie eine Zweizimmerwohnung von einer Wohnungsbaugenossenschaft gemietet, die sie sich von der verbleibenden Grundsicherung noch knapp leisten konnten. Sarah lebte mit Henry, einem Versicherungsmakler, in einer schicken Altbauwohnung in der Nordstadt, nahe dem Georgengarten. Zu Hause angekommen wurde sie von Henry überschwänglich begrüßt, er erwähnte aber, dass er heute noch los müsse, um in der Firma ein Meeting vorzubereiten.

„Dann kannst du in aller Ruhe ankommen und nach der langen Autofahrt erst mal relaxen“, versuchte er ihr seine Abwesenheit schmackhaft zu machen. „Hast du Hunger? Ich kann dir rasch noch was bestellen“, bot er aufopfernd an, bevor er zu seiner Freundin nach Linden fuhr.

„Ach, Henry, ich habe für Mittwochabend Henrike und Lars eingeladen. Dann wollen wir euch von der Reise berichten und Fotos zeigen. Passt dir das?“, fragte sie freundlich.

„Gern, mein Schatz, ich freue mich. Dann muss ich heute schon mal vorarbeiten, dass ich mir morgen Abend Zeit für dich nehmen kann. Es wird spät, Schatz“, säuselte Lars und schlug die Tür zu.

„Fick dich, Arschloch!“, murmelte Sarah vor sich hin und widmete sich nach dem Auspacken dem morgigen Tag.