Am Freitagabend
Sarah und Henrike hatten sich mit dem Ensemble 90 Minuten vor der Vorstellung im Kellertheater einge-
funden. In der Maske schminkten sie sich gegenseitig und halfen sich in ihre Kostüme. Die Bühnentechniker überprüften die Effekte, während die Theken-
kräfte Getränke, Knabbersachen und bunte Tüten vorbereiteten.
Für die Gäste wurde das Theater eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung geöffnet, sodass auch der Soundcheck der Headsets um kurz vor 19 Uhr abgeschlossen werden konnte.
Die Spannung stieg und alle waren aufgeregt, was vollkommen verständlich war, wenn es nur einmal im Jahr eine Premiere gab.
Im Analyseraum in der Marienstraße herrschte Stille. Das OFA-Team war geschockt und betroffen. Sie hatten in den letzten Jahren derart viele abartige Tötungsdelikte sehen müssen, aber eine solche Inszenierung war die absolute Ausnahme. Magnus drückte Ingrid fest an sich, die ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergrub. Sie konnte es nicht mit ansehen. Carlotta nahm sie mit sich. „Ingrid, komm, lass uns einen starken Kaffee trinken gehen.“
Unterdessen klingelte Kristins Handy. Es war Jana.
„Ich habe hier was“, erklärte sie. „In der Kellerbühne am Marstall beginnt gerade die Premiere eines neuen Stückes“, begann sie.
Doch Kristin wurde ungeduldig. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit, komm bitte auf den Punkt, Jana!“
„Na, dann rate mal, wer hier unter anderem als Schauspieler des Ensembles eingetragen ist? Eine Sarah Langer und eine Henrike Noltemeyer“, verkündete die neue Kollegin nicht ohne Stolz.
„Super, Jana! Toller Einstieg, dann düsen wir da mal ein“, kündigte die Profilerin an.
„Das wird nicht klappen, Kristin“, erwiderte Jana.
„Warum nicht?“, erkundigte sich die Profilerin.
„Ist ausverkauft!“, konterte Jana.
Schlagkräftig ist sie auch noch, dachte Kristin. Die müssen wir uns warmhalten.
Punkt halb acht wurden die Gäste durch den Moderator begrüßt:
„Sehr geehrtes Publikum!
Herzlichen Dank für Ihr Interesse an unserem Kellertheater und willkommen zur Weltpremiere der Krimikomödie ‚Männer sind Schweine‘!
Vorhang auf!“
Nicht nur auf der Bühne war man jetzt aufgeregt. Das OFA-Team setzte die Alarmierungskette erneut in Gang. Diesmal trafen sich die Einsatzkräfte auf dem Parkplatz an der Marktkirche, um ein sensibles Vorgehen abzustimmen. Im Einsatzleitfahrzeug kamen Kriminaldirektor Doktor Urs Weber, als Gesamteinsatzleiter der PD Hannover, Kriminaloberrätin Iris Höppner vom LKA, der neue Leiter der Mordkommission und Nachfolger von Udo Strahl, der Erste Kriminalhauptkommissar Jan Redeker, die Leiterin des SEK, Kriminaloberrätin Niki Sander, der Leiter Einsatz der örtlich zuständigen Polizeiinspektion Mitte, Kriminaloberrat Arne Storch, und das OFA-Team mit Kristin Bäumer, Thorsten Büthe und der Psychologin Carlotta Bayer-Westholdt zusammen.
Dieses Team entschied über die Vorgehensweise bei der Festnahme von zwei mutmaßlichen Mörderinnen als Hauptdarstellerinnen in einem ausverkauften Kellertheater ohne Fenster mit nur einem Haupt- und einem Notausgang.
In dem Führungsteam wurden drei Varianten besprochen:
1. Abzuwarten, bis die Vorstellung beendet war, die Gäste kontrolliert ausziehen zu lassen und warten, bis das Ensemble nach draußen trat, um dann die Täterinnen festzunehmen.
Aber auf diese Weise war nicht kalkulierbar, ob sich die Täterinnen heimlich unter das Publikum mischten. Bei einer erkennbaren Polizeiaktion wäre das Risiko für die anderen Gäste nicht einschätzbar.
Somit war diese Variante keine Option.
2. Ein Stürmen der Vorstellung mit dem SEK würde sofort panikartige Reaktionen unter dem Publikum, dem Ensemble und auch bei den Täterinnen verursachen. Ein hohes, unkalkulierbares Risiko – keine Option.
3. Der Vorschlag der OFA und der Psychologin bezog sich nach ihren bestätigten Erfahrungen auf der „Norwave“ auf eine offene Kontaktaufnahme. Die Psychologin und der OFA-Leiter sollten allein in das Theater gehen und signalisieren, dass es vorbei sei. Die Täterinnen hatten bislang keine unbeteiligte Person verletzt. Sie waren Herzblutschauspieler und liebten ihr Ensemble und sicher auch ihr Publikum. Die bisherigen Opfer hatten den Tod – zumindest aus der Sicht der Täterinnen – verdient, was für keinen der Gäste und des Ensembles zutraf.
Nach einer kontroversen Diskussion der Führungskräfte entschieden sie sich für die Variante drei, nahmen den OFA-Leiter und die Einsatzpsychologin aber auch in die Pflicht, falls etwas schiefgehen würde.
„Dieser Verantwortung kann sich keiner am Tisch entziehen. Ich glaube, hier gibt jeder sein Bestes. Wir sind immer schlauer, wenn wir hinterher von außen auf die Situation schauen. Aber wir müssen dringend handeln und zwar jetzt“, versuchte Büthe zu überzeugen. Eine bessere Idee stand nicht zur Disposition.