Kapitel II

An Bord

Nach den Erfahrungen ihrer bisherigen Touren hatte das Team vereinbart, jedem Einzelnen entsprechenden Freiraum einzuräumen. Selbst während der Landgänge waren sie sich einig, ihre Ausflüge nicht zwangsläufig gemeinsam zu verbringen, sondern jedem den nötigen Gestaltungsspielraum nach seinen eigenen Interessen zu lassen. Sie wollten die Teambildungs- oder besser -erhaltungsmaßnahmen ja nicht übertreiben und genau das Gegenteil erreichen, dass man sich selbst im Urlaub nicht einmal zurückziehen konnte.

Zum gemeinsamen Essen kam das OFA-Team abends wieder zusammen und tauschte sich über die ersten Eindrücke an Bord aus. Vor dem Abendprogramm im Theatrium fand die obligatorische Sicherheitsübung statt, bei der sich nach einer Alarmierung sämtliche Passagiere mit angelegten Schwimmwesten an fest zugewiesenen Sammelpunkten einfinden mussten. Die Securityscouts scannten die Bordkarten jedes Gastes ein, um die Vollzähligkeit feststellen zu können. Anschließend wiesen sie die Kreuzfahrer in die Sicherheitsmaßnahmen eines echten Evakuierungsfalles ein. Alles wirkte professionell und straff organisiert, was in einem Ernstfall entscheidend war. Nach 30 Minuten war die Übung beendet. Die Passagiere fanden sich in den Restaurants, Bars und im Theatrium ein. Hier wurden der nächste Hafen samt vielen Informationen über Land und Leute und das vielseitige Ausflugsprogramm an jedem Abend vorgestellt.

Heute musste der Kapitän schon die erste Routenänderung bekanntgeben. Der erste Zielhafen im Eidfjord konnte nicht angefahren werden, da zwei Schiffe direkt in der Fahrrinne unter der Hardanger Brücke kollidiert waren. Ein Passieren dieses Bereiches war für ein Kreuzfahrtschiff dieser Größe momentan nicht möglich.

Nach Rücksprache mit den Hafenbehörden hatte man der „Norwave“ einen Liegeplatz in Oslo zugesagt, sodass die norwegische Hauptstadt von Hamburg nach einem Seetag direkt angefahren werden würde. Es sprach für die Professionalität der Crew, nun im Theatrium umgehend Ausflüge für die quirlige Stadt vorzustellen.

Das Profilerteam hatte sich im Vorfeld gemeinsam abgestimmt, das Angebot der organisierten Ausflüge anzunehmen.

Die Dimensionen in Norwegen waren so enorm, dass die Entfernungen und die Weitläufigkeit des Landes gerade von unerfahrenen Touristen wie dem OFA-Team kaum einzuschätzen waren. Wer hier nach seinem Ausflug zu spät zum Schiff zurückkam, war verloren. Für Oslo hatten sie sich aber auf einen Stadtbummel geeinigt, der in Eigenregie erfolgen sollte.

Während des ersten Seetages ließen sie es sich gut gehen, wobei sich Maik und Thomas im Fitnessbereich austobten. Nina und Kristin zogen es vor, im Spa-Bereich zu relaxen. Carlotta suchte sich vermutlich den einsamsten Platz auf dem Schiff und tauchte in der Bibliothek in ihre Urlaubslektüre ein, die sie mit Herz und Schmerz nach Südengland führte. Sie genoss die Ruhe und den Abstand zu allem Beruflichen. Im Gegensatz zu den jungen Partygängern im Team ließ sie sich früh am Abend durch die Wellen in den Schlaf wiegen und träumte die Liebesgeschichte aus Cornwall einfach weiter.

Thorsten war am Seetag fast rastlos mit seiner großen Nikon-Kamera auf Motivsuche. Er entwickelte einen Plan, wann das beste Licht zu erwarten war und welche Brennweite er für das jeweilige Motiv einsetzen konnte. Thorsten war in seinem Element als Fotograf und fernab der Dinge, die ihn in seinem Berufsalltag und oft auch darüber hinaus beschäftigten. Das Team hatte extra eine Reisezeit direkt nach den Sommerferien im August gewählt. So hatten sie die Hoffnung, die Reise bei recht gutem Wetter und angenehmen Temperaturen nutzen zu können. Thorsten versprach sich zu dieser Jahreszeit hervorragendes Fotolicht.

Die meisten Passagiere zückten ihre Handykameras und schossen Selfies und Fotos vom Schiff. Insbesondere an Deck war Thorsten mit der recht großen und schweren Nikon schon ein Exot. Einige Gäste hielten ihn für einen der agilen Bordfotografen, die technisch ähnlich ausgestattet waren. Ein Pärchen, welches diesem Irrtum wohl unterlegen war, sprach Thorsten auf ein spontanes Shooting an Deck an. Der erfahrene Hochzeitsfotograf machte sich einen Spaß daraus, stimmte zu, schlug ihnen ein paar passende Posen vor und schoss eine vielseitige Portraitserie. Auf die Frage der beiden, was sie ihm denn schuldig wären und wann sie die Fotos im Bordshop bewundern und abholen konnten, klärte Thorsten das Pärchen lachend auf.

„Sorry, ich bin auch nur ein ganz normaler Passagier. Es hat mir viel Spaß gemacht und wenn ihr mir eure Handynummer gebt, schicke ich euch die Fotos heute Abend per WhatsApp. Okay?“

Das Liebespaar war völlig überrascht, gab dem Fotografen bereitwillig seine Nummer und bedankte sich herzlich.

Auch anderen Passagieren war dieses Shooting nicht verborgen geblieben. Sie hatten davon teilweise Fotos und Videos angefertigt, was Thorsten überhaupt nicht aufgefallen war. Ein lückenloses Video über seine Aktion wurde abends in einer Kabine auf dem großen Flat- Screen-Monitor mehrfach angeschaut. Erst einmal, dann zweimal, dreimal und dann immer und immer wieder.

Der erste Seetag führte sie durch den 120 Kilometer langen Oslofjord in den Hafen der grünen Hauptstadt Norwegens. Sie war im Jahr 2019 zur Umwelthauptstadt Europas gewählt worden.

Sie passierten die Schären des Fjordes bei strahlendem Sonnenschein und milden 22 Grad. Neben der Landschaft faszinierten Thorsten Büthe die oft einsamen, aber kunterbunten Holzhäuser der Schärenlandschaft. Er war begeistert von diesen Motiven, gönnte sich aber auch fotofreie Minuten, um diese beruhigende Atmosphäre inhalieren und genießen zu können.

Beim Frühstück schmiedeten die Profiler ihre getrennten Pläne für den Stadtbummel in Oslo. Die Jungs hatten sich ein straffes Programm vorgenommen. Sie wollten sich unbedingt das Wikinger- und das „Fram Polarschiffsmuseum“ ansehen. Schließlich waren hier die am besten bewahrten Wikingerschiffe aus dem neunten Jahrhundert ausgestellt. Die „Fram“ war seinerzeit das stärkste Schiff der Welt und bei drei berühmten Polarexpeditionen eingesetzt worden. Weiter standen das Skimuseum und die Sprungschanze auf dem Programm, wobei Thomas unbedingt einen virtuellen Sprung vom Simulator erleben wollte. Maik hatte sich als Musiker das neue Opernhaus vorgenommen, welches direkt am Wasser lag und vom Glasdach herunter einen beeindruckenden Blick auf die Stadt und den Fjord bot.

Die drei Damen des OFA-Teams waren sich einig, in das junge Szeneviertel Grünerløkka einzutauchen. Hier fanden sie die traditionellen bunten Wohnhäuser, in denen sich in Deutschland selten gewordene inhabergeführte Boutiquen, Vintage- und Secondhand-Geschäfte sowie Szenepubs angesiedelt hatten. Als Geheimtipp hatten sie vom gemütlichen „Café Liebling“ in der Straße Øvrefoss 4 erfahren, welches von einer Berliner Aussteigerin geführt wurde. Neben dem Café-Betrieb fand man hier einen St. Pauli-Biergarten und eine kleine Boutique, in der es sogar deutschen Senf neben Designerlampen zu kaufen gab.

Beim Aufbruch sah Thomas Schulte zu Thorsten hinüber und sprach ihn laut an:

„Na, Chef, was ist los? Du bist ja völlig nackt. Hast du nicht etwas vergessen?“

Auf den fragenden Blick des OFA-Leiters hin ergänzte er:

„Was ist mit deiner Nikon? Ohne dieses Riesending gehst du doch nicht einen Meter weit von Bord“, frotzelte Thomas.

„Für solche Ausflüge habe ich doch stets meine Fuji dabei. Klein, leicht und unauffällig. Für einen Stadtbummel ist sie einfach ideal“, klärte Thorsten Büthe auf.

„War schon klar, eine Kameraausrüstung reicht ja nicht. Der Trend geht halt zur Zweitkamera“, erwiderte der bärtige Kollege nicht ohne Ironie.

„Lieber Thomas, es ist die Viertkamera auf dieser Tour. Jede hat ihre speziellen Stärken. Eine für das Schiff und die Architektur, die zweite für Landschaften, die dritte für Portraits und die kleine Fuji als vierte für die Streetfotografie. Du hast doch auch 20 Tennisschläger zur Auswahl, oder?“, schoss Thorsten den Ball zurück.

„Na gut, verstanden. Aber bei dem, was wir heute vorhaben, wäre doch die Architekturkamera prädestiniert, oder?“, fragte Thomas wieder ernst.

„Wenn ich mit euch mitkommen würde, hättest du recht. Ich schließe mich aber den Mädels an, sofern sie mich mitnehmen“, schränkte Thorsten ein.

„Nein!“, schrie Thomas auf, „Maik, hast du das gehört? Der Chef geht mit den Mädchen shoppen. Ich fasse es nicht.“

Die Kolleginnen kicherten wirklich wie kleine Mädchen im Hintergrund und bestärkten ihn in seiner Entscheidung.

„Bleibst du bei uns, Paps? Das ist aber lieb. Dann kannst du uns beraten und zur Belohnung ein Eis ausgeben, wenn wir lieb waren.“

„Das mache ich gern, schließlich ist es ja ein Gefühl wie in der Heimat, wenn ich mit meinen drei Mädchen losziehe“, freute sich Thorsten. Seine Töchter waren mittlerweile erwachsen, aber er war in dem Damenhaushalt nun mal so sozialisiert worden, was er offen und stolz genoss.

Thomas war ungehalten. „Das ist die erste Tour mit meinem neuen Chef, und ich hatte die Hoffnung, dass er uns Männern das erste Bier ausgibt und nicht den Mädels ein Eis. Ich bin echt enttäuscht. Sag doch auch mal was, Maik!“

Maik Holzner schmunzelte nur und forderte seinen bärtigen Kollegen auf: „Quatsch nicht, wir hätten längst ein kühles Pils gezischt, wenn du nicht alle aufgehalten hättest. Viel Spaß mit Papi, Mädels. Bis heute Abend.“

Sie verließen das Schiff und nutzten den bordeigenen Shuttlebus mit mindestens 50 weiteren Passagieren der „Norwave“ in die Innenstadt und zu den Museen.