Kapitel III

Oslo

Die Mädelsgruppe samt Thorsten Büthe wurde in der Innenstadt abgesetzt. Von dort aus schlenderten sie weiter zu Fuß durch den Botanischen Garten in den Szenestadtteil Grünerløkka und ließen sich durch die modernen Boutiquen und Kneipen treiben. Die Norweger waren total freundlich und aufgeschlossen. Hier konnte man sich wohlfühlen und durchaus ein paar Tage bleiben, wenn die „Norwave“ nicht heute Abend schon wieder hätte ablegen müssen.

Die Profilerinnen zogen begeistert von Boutique zu Boutique und erhaschten stets eine Kleinigkeit, die sie teuer bezahlen mussten. Thorsten blieb geduldig und mit schussbereiter Kamera vor den Läden stehen, um einfach nur die Menschen in ihrem Alltag zu beobachten und die ein oder andere Situation in einem Bild festzuhalten. Wie beabsichtigt pausierten sie im Café Liebling, welches gemütlich wie eine Berliner Szenekneipe eingerichtet war. Sie amüsierten sich über die Karte, in der sogar auch eine Berliner Weiße angeboten wurde. Wer kannte das spritzige obergärige Bier nicht, welches einen leicht säuerlichen Geschmack hat und darum gern mit einem Schuss Himbeer- oder Waldmeistersirup getrunken wird?

„Das müssen wir unbedingt bestellen!“, schlug Kristin vor und alle stimmten zu.

Als die Bedienung mit Berliner Akzent nachfragte „Rot oder Grün?“, und damit Himbeer- oder Waldmeistersirup meinte, sahen sie die Dame fragend an.

„Grün ist Kult! Viermal bitte“, rief Nina, aber Thorsten korrigierte die Bestellung: „Bitte einmal pur und dreimal Waldmeister.“

Als sie alle die breiten Gläser mit Strohhalmen bekamen und anstießen, wusste Thorsten, dass er sich falsch entschieden hatte. Das Zeug konnte man pur wirklich nicht trinken. Mit einem normalen Weizenbier hatte es aber auch gar nichts gemein. Die drei Kolleginnen hingegen sogen ausgelassen an ihren Strohhalmen, bis sie die Gläser geleert hatten und waren nun gestärkt für eine Fortsetzung ihrer Shoppingtour.

Großzügig bat Thorsten um die Rechnung der vier Getränke, zahlte per Kreditkarte und war erstaunt, dass die Bedienung einen Betrag von umgerechnet knapp 50 Euro ins Display drückte, sodass die fünf Euro Trinkgeld auch nicht mehr ins Gewicht fielen. Sie waren halt in Norwegen und wer dort vier Berliner Weiße bestellte, wovon die eine zumindest Thorsten nicht einmal geschmeckt hatte, war selber schuld.

Die Kolleginnen bedankten sich höflich und standen mit ihren neuen Tüten auf, um weiter auf Entdeckungsreise zu gehen.

Beim Straßenwechsel wurden sie beinahe von einem Notarztwagen gestreift, der mit hoher Geschwindigkeit in Richtung des Botanischen Gartens raste. Nach und nach fuhren weitere Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes und der Polizei in denselben Bereich.

„Schaut mal, sie spielen unser Lied sogar im Urlaub“, scherzte Thorsten, wobei er die vielen Martinshörner meinte, mit denen sie zu Hause stets konfrontiert waren.

„Hören wir einfach weg!“, schlug Nina vor. „Hier geht uns das zum Glück überhaupt nichts an.“

„Gute Einstellung“, freute sich Carlotta. „Einfach mal komplett abschalten!“

Sie setzten den Einkaufsbummel sowie die Fototour fort und entschlossen sich, am Nachmittag wieder zurück durch den Botanischen Garten zu gehen, um den Platz des Shuttlebusses zum Schiff zu erreichen.

Die Martinshörner der Polizei ließen nicht nach und bei Erreichen des Botanischen Gartens mussten sie feststellen, dass dieser vollständig abgesperrt war. Nun erreichten auch zivile Polizeifahrzeuge mit Blaulicht den Park, wobei gerade ein grauer VW Bus eintraf, offensichtlich ein Tatortfahrzeug der Spurensicherung, und in den Botanischen Garten einbog. Alle guten Vorsätze traten in den Hintergrund. Die Profilergruppe war augenblicklich in ihrem Element und mutmaßte, dass im Park wohl ein Mord passiert sein musste und sie gedanklich schon wieder fast mittendrin waren. Aber das OFA-Team war ja nun im Urlaub. Gott sei Dank.

Als Thorsten mit seiner Streetfoto-Kamera diese Szene einfangen wollte, wurde er von einem Ermittler in Zivil aufgefordert, das Fotografieren sofort zu beenden. Um die Lage nicht eskalieren zu lassen, ging Thorsten auf den Beamten zu, wies sich als deutscher Kollege aus und fragte, was geschehen sei. Der Zivilpolizist erwähnte, dass im Park eine tote Frau aufgefunden worden sei, er dazu aber noch nichts sagen könne. Sie wünschten dem norwegischen Beamten viel Erfolg bei den Ermittlungen und gingen zur Haltestelle des Shuttlebusses, der sie mit anderen Passagieren der „Norwave“ zurück zum Anleger brachte.

Sämtliche Passagiere mussten beim Betreten des Hafenbereiches einem norwegischen Polizisten ihre Bordkarte vorzeigen. Mit dem Profilerteam kehrten Hunderte Landausflügler zurück auf die „Norwave“. Alle mussten sich in der langen Schlange zum Sicherheitscheck anstellen.

Vor ihnen ging eine alte gebrechliche Dame mit Rollator und einem kleinen Rollkoffer mit ursprünglich zwei Rädern. Sie zog schwerfällig an dem Trolley, der mit einer Seite über den Asphalt schliff, denn ein Rad war offensichtlich abgebrochen. Der Dame wurde schon von einigen Mitreisenden Hilfe angeboten, die sie allerdings mit einer abwehrenden Handbewegung ablehnte. Als die OFA-Mädels und Thorsten die Dame mit dem Rollator passierten, atmete sie tief durch und musste eine Pause einlegen, wobei der instabile Trolley fast zur Seite kippte.

„Na, junge Frau, wollen Sie sich nicht doch lieber unterstützen lassen? Mit dem kaputten Teil kommen Sie keinesfalls die Gangway hoch. Ich helfe Ihnen wirklich gern“, bot sich Thorsten höflich an.

Die ältere Dame stand leicht nach vorn gebeugt und schaffte es kaum, zu Thorsten aufzuschauen.

„Na gut, ich dachte, ich schaffe es allein, aber dieses blöde Rad ist auf dem Kopfsteinpflaster abgebrochen. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, vielen Dank.“

Die Seniorin schien erleichtert zu sein und übergab dem freundlichen Herrn ihren Trolley.

„Reisen Sie allein?“, versuchte Thorsten mit ihr ins Gespräch zu kommen.

„Ja, ich wollte unbedingt noch einmal mit dem Schiff nach Norwegen. Mein verstorbener Mann war im Krieg bei der Marine, den hätte ich nie wieder auf ein Schiff gekriegt. Jetzt bin ich allein und habe beschlossen: Jetzt oder nie“, erklärte sie stolz.

Plötzlich stutzte sie und wirkte starr vor Schreck. „Oh Gott, ich habe was Wichtiges vergessen und muss noch mal zurück. Könnten Sie den Koffer mit an Bord nehmen? Ich habe Kabine 7698. Vielen Dank! Wir sehen uns. Tschüss.“

Bevor Thorsten und seine Kolleginnen auch nur den Ansatz eines Hilfsangebotes loswurden, um sie zu begleiten, war die ältere Dame aufgestützt auf ihren Rollator umgekehrt und sprintete für ihre Verhältnisse nahezu schnell an den Schlangen vorbei auf die Pier.

Kristin lachte schadenfroh und prognostizierte: „Die will dich bestimmt als Alkohol- oder Drogenschmuggler missbrauchen. Ich bin gespannt, ob du unbeschadet durch die Sicherheitskontrolle kommst oder nicht gleich verhaftest wirst.“

„Nicht so laut, die werden schon misstrauisch, Kristin“, mahnte Thorsten.

Je näher sie der Sicherheitsschleuse kamen, desto mehr neckten ihn seine netten Kolleginnen.

„Gleich bist du fällig. Sollen wir Vicci benachrichtigen und ihr etwas von dir ausrichten?“, stieg die Psychologin, Carlotta, mit ein.

Vor dem Röntgengerät mussten die Passagiere ihre Jacken sowie sämtliche Metallgegenstände, Kameras, iPads und Handys in Kunststoffboxen verstauen. Mitgeführte Taschen, Einkaufstüten und auch der Trolley wurden nun flach liegend über Transportrollen durch die Röntgenanlage geführt. Ein gemischtes Team aus Mitarbeitern einer norwegischen Security-Firma und dem Sicherheitspersonal der „Norwave“ überprüften das Gepäck und die Gäste selbst mittels eines Körperscanners, den alle Landausflügler durchschreiten mussten. Abseits standen zwei norwegische Polizisten, die das Szenario im Blick hielten.

Die Profilerinnen kamen unbehelligt durch die Kontrolle und drehten sich amüsiert zu Thorsten um. Sie mussten lachen, als die Dame am Röntgenmonitor einen Kollegen ansprach und sofort einen norwegischen Polizisten hinzugezogen hatte. Der Polizist fragte den OFA-Leiter in englischer Sprache, ob das sein Koffer sei und forderte ihn nach der Bestätigung bestimmt auf, zur Seite an einen extra Tisch zu treten. Die anstehenden Passagiere hinter ihm wurden gebeten, ein anderes Gate zu nutzen, da die Security diesen Bereich sofort schloss. Der zweite, recht bullige, blonde Polizist kam hinzu und sprach hektisch in sein Funkgerät. Jetzt wurden auch die Kolleginnen von Thorsten Büthe stutzig.

„Nur wegen Alkohol machen die hier nicht so einen Alarm.“

Als sie auf ihren Chef zugingen und ihn unterstützen wollten, stoppte sie der bullige Polizist und griff mit der rechten Hand an seine Waffe im Holster. Nicht nur von der Pier kamen weitere Polizisten herbeigeeilt, sondern auch von Bord der „Norwave“ liefen Sicherheitspersonal sowie mehrere Offiziere in ihren weißen Uniformen herbei.

Thorsten war völlig ruhig, aber überrascht von dieser Hektik, was sich schnell aufklärte, als er dem entsetzten Blick des Kapitäns folgte und wie alle anderen die Blutantragungen auf den Transportrollen des Röntgengerätes wahrnahm.

Ohne Androhung und Vorwarnung rissen die beiden Polizisten dem LKA-Profiler beide Arme auf den Rücken und legten ihm Handfesseln an. Der Security Chef ordnete an: „Aufmachen!“

Seine Mitarbeiter trugen sowieso schwarze Latexhandschuhe und legten den Trolley auf einen großen Tisch. Auch am seitlichen Reißverschluss hatte sich ein dünnes Blutrinnsal gebildet, das auf die helle Tischplatte tropfte. Verunsichert öffneten sie den Koffer und blickten auf langes blondes und lockiges Frauenhaar, das rötlich durchtränkt war. Der Security-Mitarbeiter blickte skeptisch zum Kapitän, der nur kurz nickte und wie alle anderen vor Schock erstarrte, als der blonde Haarschopf herausgezogen wurde und sich als blutiger Skalp samt Kopfhaut entpuppte.