Kapitel 16

W ilde Pferde galoppierten über die Weiden vor dem Happily-Ever-After-College. Eine Gruppe von Studentinnen stand in der Nähe, die meisten sahen ängstlich aus bei der Aussicht, von den Pferden zertrampelt zu werden, deren verfilzte Mähnen wie Fahnen im Wind wehten.

Das donnernde Geräusch, das ihre Hufe auslösten, als sie die Mädchen in ihren Schuluniformen umkreisten, übertönte fast Mae Lings Stimme.

»Sie können eure Angst spüren«, meinte die gute Fee/Professorin in lautem Tonfall und schüttelte den Kopf wegen ihrer Schüler. »Wenn ihr ein wildes Tier zähmen wollt, müsst ihr den wilden Teil von euch selbst erst akzeptieren.«

Sie trat einem schwarzen Hengst in den Weg, der mit gesenktem Kopf und schwarzen Augen bedrohlich auf sie zutrabte.

Ohne sich um ihre eigene Sicherheit zu scheren, richtete Mae Ling ihren Blick auf die Schülerinnen und hielt dem Wildpferd eine Hand hin.

Sophia hielt den Atem an und beobachtete das Geschehen aus der Ferne. Die Studentinnen keuchten laut auf. Eine schrie sogar.

Die kleine, unscheinbare Frau zuckte nicht zurück, als die Tiere in ihre Richtung schnaubten. Es war offensichtlich, dass Mae Ling überrannt werden konnte. Soweit Sophia feststellte, gab es keine Möglichkeit, sie zu retten.

Die gute Fee streckte ihren Arm aus, ihr Gesichtsausdruck war wie versteinert.

Der schwarze Hengst wieherte laut, aber Mae Ling reagierte nicht darauf.

Nur wenige Zentimeter von der ausgestreckten Hand der Frau entfernt, kam das Pferd abrupt zum Stehen, während Erde und Gras auf Mae Lings Schuhen landete. Sofort kniete das Wildpferd nieder und verneigte sich vor der guten Fee.

Ein zufriedener Ausdruck huschte über ihr Gesicht und sie nickte dem Tier zu.

»Steig«, befahl sie und das Pferd folgte ihrem Befehl, bäumte sich auf und überragte sie.

Um die Klasse und die Lehrerin herum flitzten die anderen Tiere weiter über die Wiese, nicht unbemerkt von vielen der Schüler, die sich aneinander klammerten.

Mae Ling streichelte liebevoll den Kopf des Pferdes, bevor sie sich wieder dem Unterricht zuwandte. »Ihr seht, dass die Natur immer sich selbst spiegelt. Wenn ihr die Wildheit zähmen wollt, müsst ihr zuerst euch selbst zähmen. Wenn ihr das getan habt, werden sie euch gehorchen.«

Sie ließ ihre Hand kreisen und der schwarze Hengst verwandelte sich in eine riesige Stretch-Limousine.

Aus den Mündern der Mädchen kamen Oohs und Aahs . Sophia eiferte ihnen nach, als sie sich näherte, wobei sie einen großen Bogen um die herumtollenden Pferde machte.

»Um Kreaturen zu verwandeln, muss man sie zuerst zähmen«, belehrte Mae Ling weiter. »Ihr könnt und solltet in der Lage sein, jedes Tier so zu zähmen, dass es eure Wünsche erfüllt, aber nur, wenn ihr übt.«

Mae Ling schnippte mit den Fingern und die schwarze Limousine verwandelte sich wieder in ein Pferd. Es schüttelte den Kopf, seine Mähne flog herum, bevor es auf den Boden stampfte.

Sie deutete auf die Pferde, die immer noch kreisten. »Jeder von euch nimmt sich eines dieser Wildpferde. Zähmt sie, indem ihr eure Angst besiegt. Ich erwarte, dass dieses Gelände in einer Stunde voller Luxuswagen steht. Für diejenigen, die versagen, stehen Heiler bereit.« Sie deutete auf den Eingang des Happily-Ever-After-College, wo drei Magier die Klasse mit vorsichtigen Blicken betrachteten.

Sophia schluckte und war dankbar, dass sie den Großteil ihrer Ausbildung nicht wie eine Mutprobe absolvieren musste. Wilder hatte sie einmal von einer Klippe geworfen, um zu sehen, wie sie ihr Training nutzen würde. Später hatte sie ihm dafür einen Schlag auf den Arm versetzt, aber er hatte nur gelächelt und zugegeben, dass er das verdient hatte … und noch viel mehr.

Die meisten der Schüler schienen Sophias Gedanken über diese Trainingsübung zu teilen, die dazu führen könnte, dass sie Knochen und noch viel mehr von den Heilern richten lassen müssten. Sie nahm jedoch an, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich mehr Angst vor Mae Lings Zorn hatten als von den wilden Hengsten zertrampelt zu werden, denn sie lösten sich voneinander, als die Professorin in die Hände klatschte und rief: »Na dann los. Fangt an, sie zu zähmen.«

Als sich die Schüler verteilten und mit der Auswahl der Pferde begannen, ging Mae Ling mit einem Lächeln auf dem Gesicht, das ihre braunen Augen erstrahlen ließ, zu Sophia hinüber.

»Du hast Hunger«, stellte sie eher fest, als dass sie fragte, nachdem sie Sophia einen flüchtigen Blick zugeworfen hatte.

»Nun, ich hatte vorhin einen Schokoriegel, aber ja«, antwortete Sophia.

Mae Ling schüttelte den Kopf. »Nachdem du bei Amazon so viel Magie verbraucht hast, reicht das nicht aus, um deine Reserven wieder aufzufüllen.« Sie schnippte mit den Fingern und ein Picknickkorb erschien auf dem unberührten Gras neben dem schwarzen Hengst, der nun ruhig wie ein zahmes Pferd graste und sie nicht beachtete.

Sie warf dem Tier einen zögerlichen Blick zu, bevor Mae Ling abwinkte.

»Er wird dir nicht wehtun«, bestätigte ihr die gute Fee. »Wenn du einen Platz zum Sitzen brauchst, wäre er ein toller langer Tisch mit Stühlen.«

Sophia schüttelte den Kopf und konnte sich nur schwer vorstellen, an einem Tisch zu sitzen, der eigentlich ein Pferd war. Offenbar war das bei guten Feen üblich und da sie anscheinend nichts Falsches taten, sollte sie sich wohl mit der Idee anfreunden, dachte sie sich.

Sie kniete im Gras und öffnete den Picknickkorb, aus dem der Duft der feinsten Schokolade drang.

Sie schaute auf, ihre Augen weiteten sich vor Aufregung. »Frisch gebackene Brownies?«

Mae Ling nickte stolz. »Die hast du doch bestellt, oder?«

»Nun, ich hatte ein vorübergehendes Verlangen«, erwiderte Sophia. »Ich würde es nicht als Bestellung bezeichnen.«

Mae Ling zuckte mit den Schultern. »Was mich betrifft, ist es dasselbe.«

Sophia saß im Schneidersitz im Gras neben dem Korb und sah zu ihrer guten Fee auf. »Woher weißt du so viel? Ich meine, ich verstehe ja, dass Magie im Spiel ist, aber bei dir ist es mehr als das.«

Die andere Frau nickte verständnisvoll. »Das ist eine Verbindung, die eine gute Fee mit ihrem Schützling eingeht. Wir können vielleicht nicht immer herausfinden, wo wir unser Auto geparkt haben oder kennen unsere eigene Schuhgröße nicht, aber ich bin mit dir sehr verbunden und kenne deine flüchtigen und stabilen Gefühle. Ich fühle sie, als wären es meine eigenen.« Sie deutete auf die Mädchen in der Ferne, von denen einige erfolgreich ihre wilden Pferde zähmten, während andere flüchteten und die Tiere ihnen hinterhergaloppierten. »Wenn ich sie richtig trainiere, werden sie das auch bei ihren Aschenputteln haben, aber …« Als sie innehielt, war ihr Gesicht plötzlich niedergeschlagen. »Ich fürchte, die nächste Generation von guten Feen wird neue Probleme bekommen.« Sie seufzte und wies den Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Das ist nicht der Grund, warum du hergekommen bist. Bitte frage mich, was du wissen möchtest.«

Sophia nahm einen Bissen von einem der warmen Brownies und genoss den knusprigen Rand, der den warmen, zähflüssigen Kern umgab. »Oh, ihr Engel, ist das köstlich.«

Mae Ling nickte. »Natürlich.«

»Wie auch immer, ich hatte gehofft, du hättest etwas darüber erfahren, wie man Ainsley helfen kann«, begann Sophia und bemerkte den klebrigen Karamell an ihren Fingerspitzen. Sie wollte ihn gerade ablecken, als eine Serviette in ihrem Schoß auftauchte. »Danke.«

Mae Ling begann sich zu setzen, doch als Sophia dachte, sie würde auf ihrem Steißbein landen, ließ sich die gute Fee in einen großen, weichen, rosa Samtsessel sinken. Sie seufzte, als wäre es völlig überfällig, sich zu entspannen.

»Wann hast du vor, mit Hiker auf die Bohnenranke zu gehen?«, wollte sie wissen und faltete ruhig die Hände in ihrem Schoß.

Sophia schluckte und wischte sich den Mund ab. »Nun, ich hatte ein Meeting und dann einen spontanen Fall und …«

Mae Ling winkte ab. »Diese Dinge mussten Vorrang haben. Außerdem musste sich Hiker um die Situation mit der Stadt New York Gedanken machen. Es wäre gut für ihn, seine diplomatischen Muskeln spielen zu lassen. Um Ainsley zu helfen, müssen wir zuerst Hiker in Ordnung bringen und das wird leider nicht einfach.«

Sophia hatte ihren Durst erst bemerkt, als eiskalte Milch in einem gefrosteten Glas vor ihr stand. Sie nickte anerkennend. »Ich danke dir. Die Bohnenranken-Mission wird Hiker in Ordnung bringen?«

Mae Ling schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Sie könnte ihm helfen, ein Gleichgewicht für seine Kräfte zu finden, was der Schlüssel zur Lösung ist, aber nein. Es wird nicht einfach werden, die Dinge für die beiden wieder in Ordnung zu bringen und es wird viele verschiedene Strategien erfordern.« Sie seufzte schwer. »Ich kann nicht garantieren, dass sie funktionieren werden. Das ist die Sache …« Die gute Fee schaute sich auf dem Schulgelände um. »Was wir hier im Happily-Ever-After machen, ist keine exakte Wissenschaft. Herzensangelegenheiten sind nie schwarz oder weiß und die Lösungen sind relativ, je nach Person. Es ist lustig, dass diese Schule Happily-Ever-After heißt, denn es gibt selten ein Happy End. Meistens handelt es sich um eine Reihe von glücklichen Ereignissen, von Neuanfängen unterbrochen, die durch etwas verursacht werden, das nicht so glücklich läuft. Denn niemand fängt jemals neu an, weil alles in Ordnung ist. Ohne Anfänge gibt es keine neuen Kapitel im Märchenbuch.«

Sophia nahm die komplexen Dinge auf, die ihre gute Fee ihr mitgeteilt hatte. Es ergab Sinn und doch hatte sie Kopfschmerzen.

»Also, Hiker und ich müssen auf die Bohnenranke«, überlegte Sophia und betrachtete ihren Brownie, als wäre er eine Karte, die den Schlüssel zu ihrer nächsten Frage enthielt. »Irgendwelche Hinweise darauf, was wir dort oben finden werden?«

»Eine Erfahrung«, erwiderte Mae Ling einfach.

Sophia nickte und wusste, dass sie diese Antwort hätte erwarten müssen.

»Weißt du«, begann Mae Ling mit einem spekulativen Funkeln in ihren weisen Augen. »Der Anführer der Drachenelite hat viele unerfüllte Jahre gelebt, seit die Ereignisse eingetreten sind, die alles für ihn, Ainsley, die Drachenreiter und die Welt verändert haben. In dieser Zeit hat er viel bereut und eine Menge Frustration erlebt. Diese Emotionen färben die Art und Weise, wie man die Vergangenheit betrachtet. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass sie einen vergessen lassen, was passiert ist oder dass man es in seinem Kopf anders erzählt.«

»Das ergibt Sinn«, bestätigte Sophia. »Es ist schon sehr lange her.«

»Wenn es einen Weg gibt, Hiker aufzuzeigen, was er vergessen hat oder wer er einmal war, dann könnte das weitreichende Auswirkungen haben«, deutete Mae Ling an.

Sophia dachte einen Moment lang nach. Der spitze Blick, den ihre gute Fee ihr zuwarf, kam daher, dass sie darauf wartete, dass sie die Antwort selbst herausfand. Sie befürchtete, dass sie das nicht konnte und es zu einem Rätsel führen würde – was sie verabscheute. Dann kam ihr eine Idee in den Kopf.

»Der goldene Token!«, rief sie aus. »Ich habe Zugang zum Speicherpunkt und der bringt jeden zu den Ereignissen zurück, die kurz vor dem Großen Krieg stattfanden.«

Mae Ling grinste sie stolz an. »Das ist richtig, mein Kind. Ich würde dir empfehlen, ihn zuerst für eine andere Aufgabe zu benutzen, für die du ihn brauchst.«

»Oh«, kommentierte Sophia und dachte daran, dass sie den Token für den Besuch des Süßwarenladens brauchte. »Warum denn das?«

Mae Ling wippte mit dem Kopf hin und her. »Nimm mich einfach beim Wort.«

Da war das Rätsel. Sophia nickte nur, froh über die vielen Informationen, die sie erhalten hatte.

Die gute Fee wandte ihre Aufmerksamkeit den Schülerinnen zu, die in der Ferne versuchten, wilde Pferde zu zähmen. Einigen war es gelungen, ihre Pferde in Luxusfahrzeuge zu verwandeln, aber andere hatten ihre Pferde in Schrottautos oder alte Mopeds verzaubert.

Mae Ling stand auf und der Sessel hinter ihr verschwand. »Nun, es scheint, als wäre die Arbeit eines Lehrers nie getan. Ich überlasse dich deinen Aufgaben.«