S ophia konnte sich nicht erklären, warum sich vor der Höhle, in der sie standen, ein riesiger Schrottplatz erstreckte.
Offenbar verwirrte es auch Hiker. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, seine Augen weiteten sich. »Was soll das auf Mamas grüner Erde?«
»Das ist ein Schrottplatz«, flüsterte Sophia. Sie ließ ihren Blick über einen alten, verrosteten Lastwagen schweifen, dessen Motorhaube von Unkraut überwuchert war und dem sämtliche Reifen fehlten. Daneben stand eine verbeulte Waschmaschine, die anscheinend von einem Haufen Eichhörnchen und Vögeln in Beschlag genommen wurde, die sich gerade um die Frühjahrsernte stritten, während sie durch den benachbarten Schrott huschten.
Auf einer Fläche von ein paar hundert Quadratmetern war der Boden mit großen und kleinen elektronischen Geräten, Apparaten, Möbeln, Rasenmähern und Fahrzeugen aller Art zugestellt. Um die Szene noch dubioser zu machen, befand sich in der Ferne hinter der Fundgrube von Schrott das unwirklichste Schloss, das Sophia je gesehen hatte.
Das Gebäude war gewaltig und stellte die Burg Gullington bei Weitem in den Schatten und ließ sie im Vergleich wie ein bescheidenes Reihenhaus aussehen. Es erhob sich in den wolkenverhangenen, blauen Himmel, obwohl es in New York City unter ihnen Nacht und stürmisch war.
Das Schloss, das der Burg Gullington sehr ähnlich war, wirkte äußerst alt und hatte steinerne Türme, die in den weißen Wattewolken verschwanden. Es hatte leicht hunderte Zimmer und erinnerte Sophia eher an ein riesiges Einkaufszentrum als an ein altes Gebäude, das für Könige und Königinnen bestimmt war. Das Seltsamste an dem großen Schloss war die Eingangstür. Sie hatte riesige Ausmaße und reichte bis in den zweiten Stock eines gewöhnlichen Hauses für Sterbliche. Sie war mindestens so breit wie ein Garagentor und Sophia fragte sich, ob die Person, die dort wohnte, nachts die kaputten Traktoren und Muldenkipper, die auf dem Schrottplatz herumstanden, in das Schloss brachte.
Ihre Spekulationen ließen eine neue Erkenntnis in Sophias Kopf entstehen. Sie mussten sehr wahrscheinlich auf das Wesen treffen, zu dessen Schrottplatz das große Schloss gehörte.
Sie blickte Hiker an, ihre Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Was glaubst du, wer hier wohnt?«
Er schüttelte den Kopf. »Wie ich Mama kenne, ist das für niemanden gut. Ich vermute, wir wurden unwissentlich dazu auserkoren, uns mit diesem Umweltverschmutzer auseinanderzusetzen.«
Sophia nickte langsam. Sie blickte über ihre Schulter auf die Höhle. »Wir sind durch eine Art Portal gekommen, nicht wahr?«
Hiker folgte ihrem Blick. »Es scheint so.«
Sophia versuchte, ihren eigenen Portalzauber einzusetzen, während sie sich bereits Gedanken über ihre Fluchtstrategie machte. Nichts geschah, wie sie vermutet hatte. »Sieht so aus, als wäre der einzige Weg hinaus derselbe, wie der, den wir gekommen sind.«
Ein nüchterner Ausdruck machte sich auf Hikers Gesicht breit. »Ich hätte nichts anderes erwartet.«
Während sie sich bemühte zu verstehen, warum Mama Jamba sie auf diese seltsame Bohnenranke geschickt hatte, hörte Sophia ein Flattern. Sie drehte den Kopf und sah die Elster, die die Goldmünze gestohlen hatte, mit ihr im Schnabel auf dem ramponierten, alten Lastwagen landen.
Sie wollte sich gerade auf den Weg machen, als Hiker sie an der Schulter packte und zurückzog.
»Warte«, drängte er leise.
Sie wollte mit ihm diskutieren und ihm erklären, dass dies ihre Chance war, den Token zu bekommen, als die Elster verschwand. Einen Moment später war sie dankbar, dass sie ihr Versteck am Rande der Höhle nicht verlassen hatte.
Neben dem alten Lastwagen bewegte sich ein Haufen von etwas Klobigem, was Sophias Herz schneller schlagen ließ. Ihr Adrenalinspiegel stieg noch mehr, als sich ein großer Mann vom Boden erhob, der von all dem Gerümpel um ihn herum verdeckt war. Nein, nicht nur ein Mann – ein Riese.
Dieser war ein gutes Stück größer als Rory Laurens, der einzige männliche Riese, den Sophia je gesehen hatte. Dieser hier musste fast drei Meter groß sein und hatte breite Schultern, ein flaches Gesicht und schmutziges Haar.
»Jack, was hast du mir heute mitgebracht?«, fragte der Riese die Elster.
Stolz hob der Vogel seinen Schnabel und zeigte den Schatz, den er von Hiker und Sophia gestohlen hatte.
Der Riese verengte seine Augen, bevor er grinste, was sein Gesicht irgendwie noch hässlicher aussehen ließ. »Sehr schön. Was ist das? Geld?«
Der Vogel legte die Münze vor sich hin und krächzte.
»Kein Geld, sagst du«, übersetzte der Riese. Er erhob sich und sah sich den Token genauer an. »Das ist Magie, nicht wahr, Jack?«
Wieder krächzte der Vogel als Antwort.
»Nun, er wird gut zu der Harfe passen, die wir dem Engel gestohlen haben«, bemerkte der Riese und zog eine kleine, goldene Harfe aus seiner Tasche. Sie wirkte albern in seinen Händen, wie ein Spielzeug. »Was hat der Engel gesagt, bevor wir sie ihm abgenommen haben? Sie ist das, was die Emotionen eines wütenden Mannes beruhigt und seine Macht ausgleicht?« Der Riese lachte laut auf. »So ein Blödsinn. Die verkaufe ich, um reich zu werden.«
Stolz blickte er auf den großen Schrottplatz und seine Brust schwoll an, bevor er einen Blick auf die Elster warf. »Erzähl Mutti nichts von der magischen Münze. Du weißt doch, dass sie es nicht mag, wenn wir stehlen, was uns eigentlich nicht rechtmäßig gehört.« Der Riese schüttelte den Kopf. »Diese Frau kapiert es nie, oder?«
Die Elster antwortete mit einem lauten Krächzen.
Der Riese öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wurde aber unterbrochen, als die Tür des Schlosses aufsprang. Eine Riesin, nicht ganz so groß wie er, trat auf die Eingangstreppe hinaus. Sie trug eine Schürze und ihr Haar war auf Lockenwickler aufgedreht. Sie hatte einen missbilligenden Gesichtsausdruck, während sie sich den Mund zuhielt.
»Berlin!«, rief die Frau und ihre Stimme tönte laut über den breiten Schrottplatz.
Berlin, der Riese, steckte die goldene Harfe zurück in seine Tasche und ein nervöser Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ja, Mutti?«
Daraufhin winkte die Riesin ihren Sohn in Richtung des Schlosses.
Er seufzte und nickte. »Ich bin gleich da.«
Die Schlosstür wurde einen Moment später zugemacht und Berlin konzentrierte sich wieder auf die Elster. »Wer weiß, was die Frau diesmal will? Du bringst die Münze zu deinem Stammbaum zu den anderen Sachen.«
Der Vogel hob pflichtbewusst das Goldstück auf, sprang vom Lastwagen und flog zu einem Baum in der Ferne, auf dem verschiedene Gegenstände glitzerten, die er zweifellos für den Riesen geklaut hatte.
Ohne ein weiteres Wort stapfte der Riese zum Schloss.
Als er sich in sicherer Entfernung befand, wandte Sophia ihre Aufmerksamkeit Hiker zu. »Du musst die goldene Harfe holen.«
Er nickte irritiert. »Ja, ich weiß. So will Mama, dass ich die Dinge ausgleiche. Mit einer verdammten Harfe.«
Sophia wollte lachen bei dem Gedanken, dass Hiker eine kleine, zierliche Harfe mit sich herumtrug, um seine Gefühle und seine Macht zu kontrollieren. »Sie gehörte einem Engel, also ergibt es Sinn.«
»Ich denke schon«, brummte er und war offensichtlich nicht begeistert von der Aussicht, die Harfe benutzen zu müssen. »Ich werde zum Schloss gehen und die Harfe von dem Riesen holen.«
So groß Hiker Wallace auch war, im Vergleich zu dem massiven Riesen war er ein Winzling.
»Meinst du, du kannst dich da reinschleichen?« Sophia ahnte, dass Berlin Unbefugte weder auf seinem Schrottplatz noch in seinem Schloss willkommen heißen würde.
»Ich glaube, ich muss es tun, also muss ich es einfach herausfinden«, antwortete Hiker. Er zeigte auf die Elster, die im Baum saß. »Du musst dem Vogel folgen und das Goldstück zurückholen.«
Sophia nickte. »Ja und irgendetwas sagt mir, dass der diebische Vogel es nicht so einfach herausgeben wird.«
»Darauf kannst du dich verlassen«, stimmte Hiker zu und trat aus dem Schutz der Höhle ins Sonnenlicht. »Sei einfach vorsichtig und triff mich in einer Stunde wieder hier. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, kletterst du die Bohnenranke wieder hinunter und fällst sie.«
»Sir …«
»Das ist ein Befehl, Sophia«, unterbrach er sie mit einem strengen Blick, dem sie nicht zu widersprechen wagte.
Sophia nickte und schluckte. »Okay, Sir.«