Der Familie ausgeliefert

 

Erwachsene können sich wirklich überall rausreden. Deshalb kriegen sie auch fast immer ihren Willen. Jedenfalls, wenn ihr Diskussionspartner minderjährig ist. Wenn du unter achtzehn bist, hältst du lieber gleich die Klappe. Du kannst heulen und schreien, fluchen und die Türen knallen, aber die Alten sacken doch immer den letzten Stich ein.

Ich saß in meinem Zimmer im zweiten Stock, Bentsebrugata 12, Torshov, Oslo, Norwegen, und glotzte aus dem Fenster. Fünfzehn Jahre und kurz vorm Ziel geschlagen. Draußen hatten die großen Birken ihre Sommerklamotten angelegt, oder um es mal so zu sagen: Ein lindgrüner Schleier wehte sanft im Winde.

Ich find diese Birken toll. Hab ich immer schon getan. Hab irgendwie das Gefühl, sie zu kennen. Aber in diesem Moment sah ich durch Zweige und grüne Blätter einfach durch. Ich war nicht mehr so sauer gewesen, seit meine Schwester, die kleine My, auf die Briefe einer gewissen jungen Dame gepinkelt hatte. Fühlte mich von meiner Mutter im Stich gelassen. Von meinem Vater verraten. My konnte ich diesmal auslassen, sie war nicht alt genug, um die ganze Kiste zu kapieren. Sie hatte einfach bloß alle Sirenen voll aufgedreht, als ich mich am wüstesten mit den Alten herumnervte.

Es ging um Pfingsten. Ich hatte noch gar keine Pläne für die Feiertage gemacht. Und deshalb fand ich es logisch, dass die anderen das auch nicht taten. Für mich Pläne machen, meine ich.

Mutter, die in einem Theater unten in der Stadt Eintrittskarten verkauft, hatte ein paar Tage frei und nun hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass die ganze Familie nach Südnorwegen fahren und irgendwelche alten Freunde von ihr und Vater besuchen sollte. Vater hatte nämlich fast das ganze Jahr über frei, also nickte er nur und war mit allem einverstanden.

Aber ich stellte mich ordentlich auf die Hinterbeine.

»Freiheitsberaubung!«, sagte ich mit vollem Mund. »Du bist ja genauso schlimm wie der amerikanische Geheimdiest, CIA, oder FBI oder wie auch immer. Die entführen auch ständig Menschen. Dir fehlt bloß noch die Sonnenbrille und ein beknackter Schlapphut.«

Mutter sah mich über ihre Teetasse hinweg sauer an. »Ich will nicht, dass du so lange hier allein herumhängst. Ein Wochenende ab und zu, okay. Aber nicht so lange. Du bist trotz allem erst fünfzehn.«

»Ja, ich seh’ ja ein, dass das eine Sauerei von mir ist, erst fünfzehn zu sein«, sagte ich. »Aber sogar Vater kann eine Woche lang allein zurechtkommen, wenn das sein muss. Und ich kann viel besser kochen, das musst du einfach zugeben. Ich brauch’ auch keine Hilfe mehr auf dem Klo.«

Vater, der kein Wort gesagt hatte, stand auf und ging ins Wohnzimmer, schaltete sofort das Radio ein.

Feiger Satan!, dachte ich.

»Ich will nicht weiter diskutieren«, sagte Mutter. »Ich bin wirklich nicht oft so klein kariert wie jetzt, aber genau hier ziehe ich die Grenze.«

Sie fing an die kleine My auszuziehen, wie um zu unterstreichen, dass die Diskussion beendet war. Sie hatte fast eine Stunde gedauert und deshalb war es eine Erleichterung - auch wenn ich einsehen musste, dass ich verloren hatte.

Aber den Schlusspunkt wollte ich setzen. Und deshalb knallte ich meine Zimmertür so hart zu, dass die Fensterscheiben im ganzen Haus klirrten. Dann drehte ich Motörhead voll auf und begleitete sie auf der Schreibtischlampe als Becken. Ich konnte hören, dass Vater daraufhin im Wohnzimmer Jörn Hoel lauter als max. stellte, obwohl er wusste, dass ich diesen Heini und seine Lieder einfach nicht ertragen konnte. Und mitten in dieser Klanghölle hörte ich Mutter aus der Küche schreien, dass wir alle beide geisteskrank wären.

Nach und nach regte ich mich ab. Ich hatte den Krieg um meine Freizeit verloren, so einfach war das. Ich blieb am Fenster sitzen, während der Frühlingsabend sich langsam über die Stadt senkte und den hellgrünen Blättern der Birke eine dunklere Farbe verpasste.

Meine Eltern waren im Grunde nicht so schlimm. Und Mutter hatte Recht, sie war normalerweise nicht sehr streng. Sie sieht total irre aus, mit ihren mit Henna gefärbten Haaren und den irrsinnigen Kleidern, in denen sie herumtobt, aber meistens ist sie friedlich. Vater auch. Bei ihm habe ich oft den Eindruck, dass er sein eigenes Leben lebt - tief drinnen in seiner verwirrten Birne.

Außen an dieser Birne dagegen hängen etwa ein Meter Haare und ein wüster Struwwelbart und deshalb hab ich in der Schule im Laufe der Jahre natürlich eine Menge Mist zu hören gekriegt. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass er ein großer Maler und ein großer Schriftsteller ist - überhaupt ein großer Künstler. Und deshalb hat er einfach keine Zeit, einen Job länger als einige Wochen am Stück zu behalten. Ich bin der Einzige in der Familie, der ihn ganz offen als faulen Sack bezeichnet hat, aber als ich danach sein Gesicht sah, habe ich diese Salve wirklich bitter bereut. Hab versucht alles wieder gutzumachen und ihm eine Tube zinkweiße Ölfarbe für über sechzig Eier gekauft. Danach taute er dann wieder auf und verzieh mir mein blödes Mundwerk. Trotzdem bin ich verdammt sicher, dass ich Recht hatte.

Meine Eltern sind alte Hippies. Vor Jahr und Tag sind sie mit Blumen in den Haaren und Gitarren auf dem Rücken durch den Park getobt.

Das ist lange her. Aber das kapieren sie einfach nicht.

Ich ging zum Wasserrohr in der Zimmerecke und versetzte ihm ein paar saftige Tritte. Heimliches Signal für den Prof im Zimmer unter meinem. Der Prof ist genauso alt wie ich und ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang. Wir gehen in dieselbe Klasse und der Prof ist einer von der Sorte, die kapieren, was die Lehrer erzählen. Das finden die natürlich Spitze. Sie bedanken sich für seine Aufmerksamkeit, wenn sie die Zeugnisse verteilen. Was meinen Einsatz angeht, sind sie etwas zurückhaltender.

Zehn Minuten später hörte ich den Prof klingeln und die Wohnung betreten. Er quatschte im Wohnzimmer ein bisschen mit My, dann stürzte er ohne anzuklopfen in mein Zimmer.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte er abweisend, während er einen raschen Blick auf die Uhr warf. »Ist dir klar, dass in ein paar Minuten ein Film mit Greta Garbo in der Glotze läuft?«

»Nein«, antwortete ich. Greta Garbo! Schwedischer Filmstar aus dem letzten Jahrhundert. Sieht immer aus, als käme sie frisch von einer Beerdigung. Platt wie eine Startbahn. Aber das war ja ganz typisch, dass der Prof sie toll fand. Der Prof ist immer mit irgendwas beschäftigt, für das sich sonst kein Schwein interessiert. In letzter Zeit hatte er sogar angedeutet, dass er Lust hätte, einen Volkstanzkurs zu machen!

»Alles klar«, sagte ich. »Dann reden wir ein andermal. Wenn das mit dieser Garbofrau so verdammt wichtig ist, meine ich.«

»Klar ist das wichtig«, sagte er zögernd. »Aber wir können trotzdem jetzt quatschen, das geht schon in Ordnung. Meine Mutter zeichnet ihn eh auf. Und du siehst aus, als ob du ein Pfund Mehlwürmer gefressen hättest!«

Ich erzählte ihm von dem kleinen Familienausflug, den Mutter durchgedrückt hatte.

Er kratzte sich den Kopf, als ich alles losgeworden war; kratzte sich den Kopf und glotzte mich blöd an.

Schließlich sagte er: »Na und? Ist das nicht in Ordnung, aus der Stadt rauszukommen? Ich raff wirklich nicht, warum du keinen Bock hast, mal einen Blick auf Gottes freie Natur zu werfen. Superwetter ist im Moment doch auch!«

»Weil«, antwortete ich und stellte fest, dass ich mich schwer zusammenreißen musste, um ruhig sprechen zu können. »Weil wir total bescheuerte Leute besuchen werden! Schlimmer als mein Vater, falls du dir das vorstellen kannst. Himmel, Prof, die sind schon seit diesem Flower-Power-Quatsch mit meinen Eltern befreundet. Kapierst du? Ich kenn sie doch schon. Baden nackt und fressen bloß Karotten und Körner. Wohngemeinschaft und so. Eine ganze Bande.«

Der Prof runzelte die breite Stirn und stieß durch die Vorderzähne Luft aus. Das bedeutete, dass er die Sache endlich gerafft hatte. Hatte gerafft, dass ich nicht übertrieben hatte, als ich andeutete, dass Peter Pettersen ganz schön in der Tinte hockte.

Er griff nach einem Tim-und-Struppi-Heft, das auf dem Tisch lag, und blätterte vor und zurück ohne wirklich hineinzuschauen. Ich wusste, dass ich jetzt keine weiteren Informationen mehr liefern durfte. Er hatte sein cleveres Gehirn eingeschaltet. Die Kristallkugel, die ihm den Beinamen Prof eingebracht hatte. Ich konnte ihn bloß in Ruhe lassen und hoffen, dass er irgendeine Sorte von Plan aushecken würde. Total aus dem Sumpf konnte er mich ja nicht ziehen, aber es gehörte wirklich nicht sehr viel dazu, die Lage ein bisschen besser zu machen.

»Du hast Recht«, sagte er nach einigen Minuten. Er warf den Comic achtlos von sich, traf damit mein Sparschwein und beide gingen zu Boden. »Gelbe Rüben und FKK!« Er lachte. »Du sitzt ja echt ganz schön in der Tinte.«

»Ja, nicht wahr?«

Er zog ein riesiges Herrentaschentuch aus der Hose und schnauzte sich die Kartoffelnase. »Du kannst doch nicht ohne mich da runterfahren«, sagte er und stopfte den Rotzlappen grinsend wieder in die Tasche.