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Am Freitag setzte Regen ein.
Ein Donnerschlag riss Christopher aus einem Albtraum. Der Traum war so unheimlich gewesen, dass er ihn sofort wieder vergaß. Nur das Gefühl vergaß er nicht. Als säße jemand direkt hinter ihm und würde ihn am Ohr kitzeln. Er ließ den Blick durchs Motelzimmer wandern. Die Vorhänge am Straßenfenster blinkten von der Neonbeleuchtung des Waschsalons.
Da war niemand.
Er sah auf die Uhr neben seiner Mutter, die im anderen Bett schlief. 2:17 stand auf der Leuchtanzeige. Er versuchte, wieder einzuschlafen. Doch aus irgendeinem Grund schaffte er es nicht. Also lag er einfach mit geschlossenen Augen da und ließ seinen Gedanken freien Lauf.
Und lauschte auf den niederprasselnden Regen.
So viel Regen! Er konnte sich gar nicht vorstellen, wo das alles hinströmte. Mussten da nicht alle Meere überlaufen?
»Hochwasser! Schaut euch seine Hose an! Hochwasser! Hochwasser!«
Bei der Erinnerung an diese Worte verkrampfte sich sein Magen zu einem Knoten. In ein paar Stunden musste er in die Schule. Schule hieß Klassenzimmer. Und Klassenzimmer hieß …
Jenny Hertzog und Brady Collins.
Jeden Morgen warteten sie auf ihn. Jenny, um ihn zu hänseln. Brady, um ihn zu verprügeln. Christophers Mutter wollte nicht, dass er sich mit anderen schlug. Er sollte nicht zu einem gewalttätigen Raufbold werden wie die Männer in ihrer Familie. Nicht einmal Spielzeugpistolen erlaubte sie ihm.
»Warum denn nicht?«, fragte Special Ed beim Mittagessen.
»Weil meine Mutter eine Packistin ist«, antwortete Christopher.
»Meinst du Pazifistin?«
»Ja, genau. Pazifistin. Woher kennst du das Wort?«
»Mein Vater schimpft immer auf die.«
Also hielt Christopher die andere Wange hin, und Jenny Hertzog konnte sich ungehindert über ihn und die anderen in der Doofenklasse lustig machen. Du darfst nicht doof sagen, mahnte seine Mutter. Sag nie doof. Aber es war sowieso egal. Er war eben in der Doofenklasse, und zu den doofen Schülern war Jenny Hertzog besonders gemein. Eddie hatte sie den Spitznamen »Special Ed« verpasst. Matt, der Zwillingsbruder mit der Augenklappe, wurde zum »Piratenkopf«. Sein älterer Bruder Mike war der beste Sportler an der Schule. Trotzdem nannte ihn Jenny je nach Laune »Zwei-Mom-Mike« oder »Lesben-Mike«, weil er und sein Bruder zwei Mütter und keinen Dad hatten. Doch Christopher war der Neue, und er bekam das meiste ab. Jeder Schultag begann damit, dass Jenny Hertzog auf seine zu kurze Hose deutete und sang:
»Hochwasser! Hochwasser!«
Es wurde so schlimm, dass Christopher seine Mom um eine neue Hose bat. Dann las er in ihrem Gesicht, dass sie es sich nicht leisten konnte, und tat so, als wäre es ein Witz gewesen. Später beim Mittagessen ließ er sich von der Dame in der Cafeteria keine Milch geben, damit er jeden Tag fünfzig Cent sparen und sich selber eine Hose kaufen konnte. Inzwischen hatte er schon drei Dollar und fünfzig Cent zusammen.
Dummerweise wusste er nicht, wie viel eine Hose kostete.
Als er Ms. Lasko fragen wollte, bemerkte er, dass ihre Augen ein wenig blutunterlaufen waren und dass ihr Atem roch wie der von Jerry nach einem Abend in der Bar. Also wartete er bis zum Ende des Tages und ging zur freundlichen alten Mrs. Henderson.
Mrs. Henderson war selbst für eine Bibliothekarin ungewöhnlich still. Wie ein Mäuschen. Sie war mit dem pensionierten Rektor Mr. Henderson verheiratet. Er hieß Henry mit Vornamen. Christopher nahm es hin, obwohl er es seltsam fand, dass auch Lehrer Vornamen hatten. Henry Henderson.
So viele E.
Als Christopher Mrs. Henderson nach dem Preis einer Hose fragte, schlug sie vor, im Computer nachzuschauen. Christophers Mom hatte keinen eigenen Computer, deswegen war das was ganz Besonderes. Sie schalteten ein und gaben das Wort Hose ein. Sie suchten in vielen Läden. Und er stellte fest, dass die Sachen ziemlich viel kosteten. 18,15 Dollar für eine Hose bei JCPenney.
»Wie viel mal fünfzig Cent ist das?«, fragte er Mrs. Henderson.
»Weiß ich nicht. Weißt du es?«
In Mathe war Christopher fast genauso schlecht wie im Lesen. Und als gute Lehrerin nannte ihm Mrs. Henderson nicht einfach die Antwort, sondern gab ihm einen Bleistift und ein Blatt Papier, damit er es selbst ausrechnen konnte. Bevor sie verschwand, versprach sie, gleich wiederzukommen. Also zählte er zusammen, fünfzig und fünfzig. Zwei Tage sind hundert Cent, das heißt ein Dollar. Drei Tage sind hundertfünfzig Cent. Ein Dollar und fünfzig Cent. Mit den sieben Dollar in seinem Sparschwein konnte er …
hi
Christopher schielte zum Computer. Es machte leise ping, und in der linken Ecke erschien ein Kästchen. Darin stand SORFOTNCAHRCIHT. Christopher wusste, dass das Sofortnachricht bedeutete. Jemand hatte ihm geschrieben.
hi
Christopher drehte sich nach Mrs. Henderson um. Sie war nicht da. Er war ganz allein. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Der Cursor blinkte und blinkte. Er wusste, dass er mit Fremden nicht reden durfte. Aber das war ja eigentlich kein Reden. Also klickte er mit dem rechten Zeigefinger. Klick klick.
»Hi«, tippte Christopher ein.
wer ist da?
»Christopher.«
hi, christopher. freut mich, dich kennenzulernen. wo bist du gerade?
»Ihc bni in dre Bilbiotehk.«
du hast probleme mit den buchstaben, hm? welche bibliothek?
»In dre Scuhle.«
auf welche schule gehst du denn? nein, sag’s nicht. die grundschule mill grove, nicht wahr?
»Woher weßit du das?«
bloß gut geraten. gefällt’s dir in der schule?
»Geht so.«
wann hast du aus?
Christopher zögerte. Irgendwas kam ihm komisch vor. Er tippte: »Wer ist da?«
Keine Antwort. Nur der Cursor flimmerte.
»Wer bist du?«
Wieder keine Antwort. Christopher beobachtete das Blinken. Um ihn herum war alles ruhig und still. Doch er spürte etwas. Eine Anspannung in der Luft. Als hätte er zu lange unter der Bettdecke gelegen.
»Hallo?«, fragte Christopher in die leere Bibliothek.
Er spähte durch die Regale. Vielleicht hatte sich dort jemand versteckt. Allmählich beschlich ihn Angst. So wie damals in Michigan, wenn Jerry von der Bar nach Hause kam und schlechte Laune hatte.
»Hallo?«, rief er erneut. »Wer ist da?«
Auf einmal spürte er ein Kribbeln im Nacken. Wie beim Gutenachtkuss seiner Mom. Ein Wispern ohne Worte. Er hörte den Computer pingen und bemerkte die Antwort.
ein freund
Als Mrs. Henderson zurückkam, war der Bildschirm leer. Sie warf einen Blick auf seine Zahlen und schlug ihm vor, Ms. Lasko um Hilfe zu bitten. Fürs Erste gab sie ihm drei Bücher mit, damit er am Wochenende lesen üben konnte. Eins war alt mit einem Haufen Wörtern. Auf die anderen zwei freute er sich. Bad Cat frisst den Buchstaben Z und ein Snoopy-Band. Snoopy war nicht ganz so gut wie Bad Cat. Trotzdem war Snoopy toll. Vor allem mit seinem Cousin Spike aus Needles. Dieses Wort. Needles.
So viele E.
Nach dem Läuten der Glocke führte Mrs. Henderson Christopher hinaus auf den Parkplatz. Christopher winkte zum Abschied, als sie und ihr Mann in ihren Van stiegen. Ms. Lasko setzte sich in ihren kirschroten Sportwagen, der bestimmt eine Million Milch für fünfzig Cent gekostet hatte. Einer nach dem anderen fuhren die Lehrer weg. Und die Schüler. Die Zwillingsbrüder – Piratenkopf und Zwei-Mom-Mike – warfen sich ihren kleinen Plastikfootball zu, bevor sie in den Schulbus kletterten. Special Ed schnaubte durchs Fenster, und Christopher musste lächeln. Dann rollte der letzte Bus vom Parkplatz. Als alle weg waren, schaute sich Christopher nach dem Wachmann um.
Er war nicht da.
Christopher war ganz allein.
Er setzte sich auf eine kleine Bank und wartete darauf, dass ihn seine Mutter zum Filmfreitag abholte. Lieber dachte er daran statt an das mulmige Gefühl, das ihn beschlich. Das Gefühl, dass ihn irgendjemand belauerte. Das Warten hier draußen machte ihn nervös. Warum kam seine Mutter denn nicht endlich?
Wo blieb sie bloß so lange?
Lauter Donner krachte. Christopher nahm seine Mathearbeit heraus. Vier von zehn Punkten. Er musste sich mehr anstrengen. Dann griff er nach dem ersten Buch. Der Versgarten eines Kindes. Es war alt. Leicht verstaubt. Christopher konnte das leise Knarren des Rückens hören. Der Ledereinband roch ein wenig wie ein Baseballhandschuh. Vorne auf dem Titelblatt stand ein Name. Mit Bleistift geschrieben.
D. Olson.
Christopher blätterte, bis er ein Bild fand, das ihm gefiel. Dann konzentrierte er sich und fing an zu lesen. Die Buchstaben purzelten durcheinander.
Wer kelttert da im Krischenbamu?
Ihc bin es, du sihest mich kaum
Plötzlich schob sich ein Schatten über die Seite. Christopher blickte auf. Und sah, wie es dahinzog und das Licht verdeckte.
Das Wolkengesicht.
So groß wie der Himmel.
Christopher klappte das Buch zu. Die Vögel schwiegen. Und die Luft wurde kalt. Zu kalt für September. Er schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Doch der Wachmann war noch immer verschwunden. Also wandte sich Christopher wieder dem Wolkengesicht zu.
»Hallo? Kannst du mich hören?«, fragte er.
In der Ferne grollte es leise. Ein Donnerschlag.
Christopher wusste, dass das Zufall sein konnte. Auch wenn er ein schlechter Schüler war, ein kompletter Idiot war er nicht.
»Wenn du mich hören kannst, blinzle mit dem linken Auge.«
Langsam blinzelte die Wolke mit dem linken Auge.
Christopher wurde ganz still. Angst stieg in ihm auf. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Das war nicht normal. Dafür umso erstaunlicher. Oben schwebte ein Flugzeug dahin und verschob das Wolkengesicht, bis es lächelte wie die Grinsekatze.
»Kannst du es regnen lassen, wenn ich dich darum bitte?«
Bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, fing es an, wie aus Kübeln auf den Parkplatz zu schütten.
»Und es auch wieder aufhören lassen?«
Der Regen endete so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Christopher lächelte. Das machte Spaß! Anscheinend verstand das Wolkengesicht, dass er es lustig fand, denn es fing wieder an zu regnen. Und stopp. Und Regen. Und wieder stopp. Christopher lachte wie Bad Cat.
»Aufhören. Du machst mir die Schulkleider ganz nass!«
Kein Regen mehr. Auf einmal bemerkte Christopher, dass die Wolke von ihm wegtrieb. Und ihn wieder allein ließ.
»Warte!«, rief Christopher. »Komm zurück!«
Die Wolke driftete den Hang hinauf. Christopher wusste, dass es verboten war, doch er konnte nicht anders. Er lief der Wolke nach.
»Warte! Wohin ziehst du denn?«
Kein Laut, nur Regen wie aus Kübeln. Allerdings berührte er Christopher irgendwie gar nicht. Er war geschützt im Auge des Sturms. Auch wenn seine Turnschuhe auf der nassen Straße durchweicht wurden, sein roter Hoodie blieb trocken.
»Bitte geh nicht weg!«, schrie er aus vollem Hals.
Das Wolkengesicht trieb immer weiter. Die Straße entlang, zum Baseballplatz. Der Regen prasselte auf die lehmig zerklumpte Erde. Staub formte sich zu Tränen. Jetzt zum Highway, auf dem Autos hupten und über die nasse Fahrbahn schlitterten. In ein anderes Viertel mit Straßen und Häusern, die er nicht kannte. Hays Road. Casa. Monterey Drive.
Das Wolkengesicht zog über einen Zaun und ein Feld mit Gras. Schließlich hielt Christopher vor einem großen Metallschild am Zaun, auf das eine Straßenlampe schien. Mühsam versuchte er, die Worte zu buchstabieren. Endlich konnte er entziffern, was da stand …
BAUUNTERNEHMEN COLLINS
PROJEKT MISSIONSWALD
BETRETEN VERBOTEN
»Ich kann dir nicht weiter nach, sonst krieg ich Ärger!«, rief Christopher.
Nach kurzem Zögern driftete das Wolkengesicht weiter. Weg von der Straße. Hinter den Zaun.
Christopher war ratlos. Vorsichtig spähte er nach allen Richtungen. Keine Menschenseele. Er wusste, dass es falsch war. Verboten. Trotzdem kletterte Christopher unter dem Bauzaun durch. Blieb mit seinem roten Hoodie hängen. Nachdem er sich befreit hatte, stand er auf dem Feld. Überall nasses Gras, Schlamm und Pfützen. Ehrfürchtig schaute er hinauf zum Himmel.
Die Wolke war RIESIG.
Das Lächeln hatte ZÄHNE.
Ein glückliches LÄCHELN.
Christopher strahlte, als der Donner krachte.
Und er folgte dem Wolkengesicht.
Von der Sackgasse.
Auf den Weg.
Hinein in den Missionswald.