6
Christopher blickte auf. Er konnte das Wolkengesicht nirgends mehr entdecken. So dicht standen die Bäume. Der Regen war noch immer zu hören, doch kein Tropfen fiel auf die Erde. Der Boden war völlig trocken. Rissig wie alte Haut. Es fühlte sich an, als wären die Bäume ein großer Regenschirm. Ein Regenschirm, der etwas behütete.
Christopher
Christopher erstarrte. Die Nackenhaare standen ihm ab.
»Wer ist da?«
Schweigen. Leises, flaches Atmen. Vielleicht nur der Wind. Nein, irgendetwas war da. Christopher spürte es. So wie man es merkte, wenn man angestarrt wurde. So wie er lange vor seiner Mutter erkannt hatte, dass Jerry ein schlechter Mensch war.
Er hörte einen Schritt.
Christopher fuhr herum und sah, dass bloß ein Kiefernzapfen herabgefallen war. Ponk ponk ponk, rollte er über den Boden und landete auf dem … 
Pfad.
Der Pfad war bedeckt mit Baumnadeln. Und einigen verbogenen Ästen. Trotzdem konnte man ihn deutlich ausmachen. Ein über viele Jahre von Rädern und Stiefeln in die Erde gegrabener Pfad. Von Kindern, die eine Abkürzung zur anderen Seite des Orts nahmen. Jetzt wirkte er verlassen. Als hätte der Bauzaun die Kinder seit Monaten ferngehalten. Vielleicht sogar seit Jahren. Keine frischen Fußspuren weit und breit.
Außer …
Er bemerkte den Abdruck von Schuhen in der Erde. Christopher ging hinüber und setzte seine Turnschuhe daneben. Ungefähr die gleiche Größe.
Die Spuren eines kleinen Kindes.
Auf einmal hörte er ein Weinen.
Christopher spähte den Pfad entlang. Die Fußabdrücke des Kindes folgten ihm weiter und immer weiter. Das Geräusch kam aus dieser Richtung. Aus großer Ferne.
»Hallo, alles in Ordnung?«, rief Christopher.
Das Weinen wurde lauter.
Christopher schnürte es die Brust zusammen, und eine innere Stimme forderte ihn auf, umzukehren, zurück zur Schule zu laufen und dort auf seine Mutter zu warten. Aber das Kind steckte in Schwierigkeiten. Also hörte er nicht auf seine Furcht und folgte den Fußspuren. Langsam zunächst. Vorsichtig. Er kam zu einem alten Bach mit einer kleinen Brücke, so ähnlich wie der Ziegensteig in dem Märchen. Die Spuren liefen durchs Wasser und kamen auf der anderen Seite wieder heraus. Sie waren jetzt schlammig. Das kleine Kind musste ganz in der Nähe sein.
Hilf mir.
War das eine Stimme? Oder war es der Wind? Christopher beschleunigte seinen Schritt. Die Spuren des Kindes führten ihn an einem alten Baumstamm vorbei, der ausgehöhlt war wie ein großes Kanu. Christopher starrte nach vorn. Da war niemand. Also doch der Wind. Es wollte ihm nicht in den Kopf. Doch es gab keine andere Erklärung, weil er nichts sah.
Bis auf das Licht.
Ein Licht weit vorn auf dem Pfad. Hell und blau. Die Stelle, wo das Weinen herkam. Christopher steuerte darauf zu. Um dem kleinen Kind zu helfen. Mit jedem Schritt wurde das Licht heller. Und der Raum unter den Bäumen weiter. Bald darauf hatte er gar keine Bäume mehr über sich.
Vor Christopher breitete sich eine Lichtung aus.
Sie lag mitten im Wald. Ein vollkommener, mit Gras bewachsener Kreis. Keine Bäume mehr. Sogar den Himmel konnte er sehen. Doch irgendetwas war verkehrt. Er hatte den Wald doch erst vor wenigen Minuten betreten, und da war es noch Tag gewesen. Jetzt dagegen war es Nacht. Der Himmel war schwarz. Und es gab viel mehr Sternschnuppen als sonst. Fast wie bei einem Feuerwerk. Der Mond war so groß, dass er die ganze Lichtung erleuchtete. Ein blauer Mond.
»Hallo?«, rief Christopher mit lauter Stimme.
Es blieb still. Kein Weinen. Kein Wind. Keine Stimme. Christopher ließ den Blick über die Lichtung wandern. Nirgends etwas Auffälliges außer die Spuren zum … 
Baum.
Er stand mitten in der Lichtung. Krumm wie die Hand eines alten Mannes. Eine Hand, die sich aus der Erde in die Höhe reckte, als wollte sie einen Vogel vom Himmel pflücken. Christopher konnte nicht anders, er folgte den Spuren. Er steuerte auf den Baum zu und berührte ihn. Es fühlte sich nicht an wie Rinde. Oder Holz.
Es fühlte sich an wie Haut.
Christopher machte einen Satz nach hinten. Plötzlich traf es ihn wie ein Schlag. Die unheimliche Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Nichts stimmte hier. Er hätte nicht hierherkommen dürfen! Schnell wandte er sich nach dem Pfad um. Er musste fort von hier. Bestimmt machte sich seine Mom schon Sorgen. Da war der Pfad. Mit den Spuren des kleinen Kindes. Bloß dass sie sich auf einmal verändert hatten.
Neben ihnen waren jetzt die Abdrücke von Händen.
Als wäre das kleine Kind auf allen vieren gekrabbelt.
Knack!
Christopher fuhr herum. Da war jemand auf einen Zweig getreten. Er konnte hören, wie überall Geschöpfe erwachten. Um die ganze Lichtung herum. Christopher zögerte keine Sekunde länger, er rannte los. Auf dem Pfad, der hinausführte. Er erreichte den Rand der Lichtung und die ersten Bäume. Doch kaum hatte er wieder Wald um sich, blieb er wie angewurzelt stehen.
Der Pfad war verschwunden.
Suchend schaute er sich um. Der Himmel wurde jetzt dunkler, weil sich Wolken über die Sterne schoben. Und der Mond schimmerte durch das Wolkengesicht wie das gesunde Auge eines Piraten.
»Hilf mir!«, rief Christopher dem Wolkengesicht zu.
Der Wind wurde stärker, und die Wolke breitete sich über den Mond wie eine Decke. Christopher konnte nichts mehr sehen. O Gott, bitte, lieber Gott. Christopher sank auf die Knie und fing an, sich durch die Kiefernnadeln zu graben. Verzweifelt. Auf der Suche nach dem Pfad darunter. Die Nadeln klebten an seinen Händen.
Auf einmal hörte er wieder das kleine Kind.
Nur dass es nicht weinte.
Es kicherte.
Schließlich fand Christopher den Pfad mit den Händen und folgte ihm auf allen vieren. Bloß weg hier! Schneller! Das war sein einziger Gedanke. Schneller!
Das Kichern folgte ihm.
Christopher sprang wieder auf und rannte, was das Zeug hielt. So schnell, dass er vom Pfad abkam. Immer weiter lief er durch die Dunkelheit. Durch die Bäume. Seine Beine knickten ein, als er in den Bach stolperte. Vorbei am Ziegensteig. Er stürzte und schlug sich das Knie auf. Doch das war ihm egal. Er rannte weiter. In vollem Sprint. Dann sah er vorn ein Licht. Das war es. Er wusste es. Die Straßenlaterne. Irgendwie hatte er zurück zur Straße gefunden.
Das Kichern war jetzt direkt hinter ihm.
Christopher raste Richtung Straße. Auf das Licht zu. Über ihm die Äste des letzten Baums. Dann stoppte er, als er merkte, dass es gar nicht die Straße war.
Er war wieder auf der Lichtung.
Das Licht kam nicht von der Straßenlaterne.
Es kam vom Mond.
Christopher sah sich um und spürte, dass er von allen Seiten angestarrt wurde. Von Geschöpfen und Tieren. Ihre glühenden Augen umringten die Lichtung. Das Kichern kam näher und wurde immer lauter. Christopher war umstellt. Er musste hier weg. Er musste den Ausgang finden. Irgendeinen Ausgang.
Er lief zum Baum.
Und fing an zu klettern. Der Baum fühlte sich unter seinen Händen an wie Fleisch. Als würde er nicht auf Äste steigen, sondern auf Arme. Er ließ sich nicht davon beirren. Er musste höher hinauf, um einen Ausweg zu erkennen. Als er auf halber Höhe des Baums war, teilten sich die Wolken. Der Mond tauchte die Lichtung in blaue Glut.
Da bemerkte Christopher etwas Neues.
Auf der anderen Seite der Lichtung. Verborgen hinter Laub und Büschen. Es sah aus wie ein Höhleneingang. Doch es war keine Höhle. Es war ein Tunnel. Von Menschen gebaut. Aus Holz. Mit alten Gleisen auf dem Boden, die hineinliefen. Christopher begriff, was das bedeutete. Gleise führten zu Bahnhöfen und zu Orten.
Das war die Rettung!
Schnell kletterte er über die Arme des Baums wieder nach unten, bis er den Boden erreichte. Er spürte eine Gegenwart im Wald. Augen, die ihn belauerten. Und darauf warteten, dass er sich bewegte.
Christopher rannte.
Mit aller Kraft. Mit vollem Tempo. Er ahnte Geschöpfe hinter sich, ohne sie sehen zu können. Schwer atmend erreichte er den Eingang und spähte in den Tunnel. Die Gleise führten durch ihn hindurch wie ein rostiges Rückgrat. Auf der anderen Seite schimmerte schwach der Mond. Ein Fluchtweg!
Christopher lief in den Tunnel. Das Holzgerüst hielt die Mauern und die Decke auseinander wie den Brustkorb eines Wals. Das Holz war alt. Modrig und morsch. Und der Tunnel war überhaupt nicht breit genug für einen Zug. Was war das bloß für ein Bau? Eine verdeckte Brücke? Ein Abwasserkanal? Oder doch eine Höhle?
Plötzlich fiel ihm das Wort ein. Ein Stollen . Ein Bergwerksstollen. Erst kürzlich war im Unterricht ein Film über den Kohlebergbau in Pennsylvania gezeigt worden. Bergleute, die mit Handkarren auf Gleisen Erde nach oben brachten. Er hetzte weiter. Immer auf den Mondschein am anderen Ende zu. Er konzentrierte sich auf die Gleise, damit er nicht aus dem Tritt kam. Plötzlich fiel ihm auf, dass die Fußspuren des kleinen Kindes wieder da waren. Und auch das Kichern. Direkt hinter ihm.
Vorn spielten die Wolken Verstecken, und der Mondschein verblasste. Um ihn herum wurde es schwarz. Er stolperte durch die Finsternis, langsamer jetzt. Tastete nach den Wänden. Seine Füße scharrten über die Gleise, und er streckte wie ein Blinder die Arme aus. Bis er endlich auf etwas stieß. Er berührte etwas in der Dunkelheit.
Es war die Hand eines kleinen Kindes.