10
Als Kate das Zimmer betrat, starrte Christopher zum Fenster hinaus. Vor vielen Monaten hatte sie bei seinem Vater das Gleiche erlebt. Für einen Moment vergaß sie das Krankenhaus und dachte an seine Zukunft. Mit jedem Tag würde die Ähnlichkeit zu seinem Vater mehr hervortreten. Seine Stimme würde sich verändern. Und irgendwann würde er größer sein als sie. Es war eine seltsame Vorstellung, dass er sich schon in wenigen Jahren rasieren würde. Doch genauso war es. Wie bei allen Jungen. Und es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er als Mann der gute Mensch blieb, der er jetzt als Junge war.
Und ihn zu schützen.
Lächelnd wandte er sich zu ihr. Ihre Hand fand seine, und sie sprach ihn flüsternd an, wie bei einem Geheimnis. »Hallo, Schatz. Ich habe eine Überraschung für dich.«
Als sie in ihre Handtasche griff, leuchteten seine Augen auf. Sie kannte ihren Sohn, und deshalb ahnte sie, dass er zu Jesus und Maria betete, sie möge eine Schachtel Froot Loops herausholen. Tagelang hatte es Krankenhauskost gegeben, mehr als genug. Tagelang seine zweitschlimmste Antilieblingsspeise. Haferschleim.
»Von der Schule.« Sie las die Enttäuschung in seinem Gesicht.
Statt Froot Loops zückte Christophers Mutter einen großen weißen Umschlag und reichte ihn ihm. Sie öffneten ihn zusammen und sahen eine riesige Karte mit der Aufschrift »Gute Besserung«, deren Buchstaben gerade von Bad Cat gefressen wurden.
»Deine ganze Klasse hat unterschrieben. Ist das nicht toll?«
Christopher schwieg, doch seine Augen verrieten alles. Er wusste ganz genau, dass alle Kinder zum Unterschreiben gezwungen worden waren, so wie sie auch Valentinsgrüße an alle verteilen mussten, damit sich niemand übergangen fühlte. Immerhin lächelte er.
»Und Father Tom hat am Sonntag für dich in der Kirche beten lassen. War das nicht nett von ihm?«
Der Junge nickte.
»Ach, fast hätte ich’s vergessen. Ich selber hab auch noch eine Kleinigkeit für dich.« Sie fasste in ihre Tasche und zog ein Päckchen Froot Loops heraus.
»Danke, Mom!« Er strahlte.
Es war eine von diesen wachsbeschichteten Packungen, für die man keine Schüssel brauchte. Als sie ihm Milch und einen Plastikteelöffel aus der Cafeteria hinhielt, brach er sein Geschenk gierig auf. Er machte sich mit einer schwelgerischen Miene darüber her, als hätte er einen Hummer aus Maine vor sich.
»Die Ärzte meinen, du kannst morgen nach Hause«, sagte sie. »Was ist morgen für ein Tag? Hab’s vergessen. Mittwoch oder Donnerstag?«
»Morgen ist Filmfreitag.«
Sein Gesichtsausdruck brach ihr fast das Herz. Er war so glücklich. Er wusste nichts von der Krankenhausrechnung über 45 000 Dollar. Von der Krankenversicherung, die die Kostenübernahme abgelehnt hatte, weil sie noch nicht lang genug im Shady Pines angestellt war. Von dem Lohnausfall in der Woche, in der sie nicht gearbeitet, sondern nach ihm gesucht hatte. Von der traurigen Tatsache, dass sie finanziell ruiniert waren.
»Also, was möchtest du morgen machen?«, fragte sie.
»Filme aus der Bibliothek holen.«
»Das ist doch langweilig. Hast du nicht auf was anderes Lust?«
»Worauf denn?«
»Ich hab gehört, dass morgen der neue Bad Cat 3D
anläuft.«
Schweigen. Er hörte auf zu essen und schaute sie an. Sie gingen nie zu Erstvorstellungen. Nie
.
»Ich hab mit Eddies Mom geredet. Wir sind für morgen verabredet.«
Er umarmte sie so heftig, dass sie ihr Rückgrat spürte. Die Ärzte hatten ihr versichert, dass er kein Trauma hatte. Keine Spuren von sexuellem Missbrauch oder Misshandlungen. Körperlich war er wohlauf. Was machte es schon, wenn ihr Sohn eine Vaterfigur oder einen unsichtbaren Freund brauchte, um sich sicher zu fühlen? Wenn manche Leute in einem Grillkäsetoast das Gesicht von Jesus erkannten, dann durfte auch ihr siebenjähriger Junge glauben, wonach ihm der Sinn stand. Ihr Sohn war am Leben. Das allein zählte.
»Hör mal, Christopher.« Sie hatte noch etwas auf dem Herzen. »Der Regen vor einer Woche war schrecklich. Es gab Unfälle. Direkt vor mir ist ein Hirsch in einen Pick-up gelaufen. Sonst hätte ich dich nie so lange vor der Schule warten lassen. Das würde ich nie tun, ehrlich.«
»Ich weiß«, antwortete er.
»Christopher, nur zwischen dir und mir. Und ganz ohne Ärzte. Ist dir … was zugestoßen? Hat dir jemand was getan?«
»Nein, Mom. Niemand, ich schwöre.«
»Ich hätte rechtzeitig da sein müssen. Es tut mir leid.«
Und dann drückte sie ihn so fest an sich, dass er keine Luft mehr bekam.
Später am Abend lagen Christopher und seine Mutter nebeneinander wie früher, bevor sie ihm erklärte, dass er jetzt groß genug war und die Monster selbst verhauen konnte. Nachdem sie eingeschlafen war, lauschte er auf ihren Atem. Und er merkte, dass sie selbst hier im Krankenhauszimmer nach Zuhause roch.
Christopher drehte sich wieder zum Fenster und wartete darauf, dass auch er schwere Lider bekam. Er betrachtete den wolkenlosen Himmel und fragte sich, was in den sechs Tagen wohl mit ihm passiert war. Christopher wusste, dass die Erwachsenen nicht an den netten Mann glaubten. Und vielleicht hatten sie recht. Vielleicht war er wirklich ein Hirngespenst, wie Special Ed so was nannte.
Oder auch nicht.
Er wusste bloß, dass er mitten im Wald aufgewacht war. Auf einer riesigen Lichtung. Mit einem einzigen Baum. Er hatte keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war und wie er hinausfinden sollte. Und da sah er auf einmal in der Ferne den netten Mann – oder das, was er für den netten Mann hielt – und folgte ihm nach draußen.
Bis sich die Sonne in die Scheinwerfer eines Autos verwandelte.
Die junge Frau schrie: »Lieber Gott, ich danke dir!«
Und dann fuhr sie ihn ins Krankenhaus.
Kurz bevor Christopher die Augen zufielen, beobachtete er durchs Fenster, wie die vorüberziehenden Wolken den Mond verdeckten. Die Wolken kamen ihm vertraut vor, doch er erinnerte sich nicht, warum. Wie aus weiter Ferne nahm er eine Andeutung von Kopfweh wahr. Dann versank er in friedlichen Schlaf.