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»Du riechst nach Ausgehen.«
Das hatte Christopher immer gesagt, als er noch klein war. Wenn sie roten Lippenstift auflegte und in ihr kleines schwarzes Kleid schlüpfte. Wenn sie sich Parfüm auf die Handgelenke sprühte und sie aneinanderrieb, bis die Wolke verflogen war. Dann folgte ihr Sohn ihr auf seinen zarten Füßen durch die ganze Wohnung und sagte: »Du riechst nach Ausgehen.«
Jetzt war er nicht da.
Sie öffnete die Schranktür und betrachtete das neue Kleid für ihr neues Leben. Am Nachmittag hatte sie festgestellt, dass ihre alten Sachen nicht mehr passten. Nicht für ihren Körper. Nicht für ihr Leben. Die abgeschnittenen Jeans. Das enge Kleid. Der schäbige Denimrock. Das alles gehörte zur alten Kate Reese. Die neue Kate Reese hatte einfach etwas Besseres verdient.
Von dem Lotteriegewinn hatte sie noch etwas übrig. Ihre Stelle konnte sie sicher nicht so schnell aufgeben, doch die Monatsrate für den Hauskredit war bezahlt. Mit dem Rentenkonto und dem Universitätsfonds alles im Soll. Natürlich hatte sie Schuldgefühle und kam sich verschwenderisch vor, wie immer, wenn sie Geld für sich selbst ausgab. Trotzdem wollte sie es diesmal darauf ankommen lassen und einfach mal prassen. Wenigstens ein bisschen.
Also fuhr sie gleich nach der Arbeit zum Outlet-Center Grove City.
Nach zehn Geschäften, einer warmen Brezel und einem Eistee wurde sie endlich fündig. Ein Designerkleid. Im Ausverkauf. Der Ladenpreis war von sechshundert auf 72,50 Dollar herabgesetzt. Sie konnte es kaum fassen. Schnell ging sie in die Ankleidekabine. Dort gab es zum Glück einen schlank machenden Spiegel. Sie streifte die weißen Arbeitssachen ab und schlüpfte in das Kleid. Als sie in den Spiegel blickte, erstarrte sie.
O Gott, das bin ich.
Sie sah umwerfend aus. Als wäre sie nie im Leben schlecht behandelt worden. Als würden die Männer immer zurückrufen und freundlich zu ihr sein. Als hätte ihr Mann nie aufgegeben. Und als wäre sie nie auf Jerry getroffen.
Sie kaufte das Kleid und entdeckte im Ausverkaufsregal gleich noch ein hinreißendes Paar Schuhe für 12,50 Dollar.
Genau. Verdammte zwölf fünfzig.
Im Gastrobereich genehmigte sie sich zur Feier des Tages ihre Lieblingssorte Joghurteis. Erdbeere von TCBY. Dann fuhr sie nach Hause und machte es sich gemütlich. Um halb acht zog sie das Kleid und die Schuhe an. Sie betrachtete sich in dem Ganzkörperspiegel. Auch wenn er sie nicht ganz so schlank machte wie der in dem Laden, musste sie es zugeben.
Sie sah gut aus.
Als sie zu dem vereinbarten Treffpunkt fuhr (ihre Idee, so konnte sie im Notfall mit dem eigenen Auto abhauen), nahm sie sich vor, kein Wort über Jerry zu verlieren. Wie oft nach dem Tod ihres Mannes hatte sich das Gespräch bei ersten Dates bloß um den letzten Dreckskerl gedreht, mit dem sie zusammen gewesen war. Und immer hoffte sie auf ein verständnisvolles Ohr. Doch in Wirklichkeit verriet sie damit bloß dem nächsten Dreckskerl, wie viel Scheiße sie hinzunehmen bereit war, weil sie sich nach ein bisschen Liebe sehnte.
Beim Sheriff sollte es anders laufen. Keine Tipps, wie man sie am besten ausnutzen konnte. Sicher, bei den Ermittlungen rund um Christophers Verschwinden hatte er auch ein paar Fakten über Jerry erfahren. Doch das war nicht viel. Im Grunde war sie für ihn einfach eine Witwe. Ihr verstorbener Mann war freundlich und aufrichtig gewesen und hatte sie behandelt, wie Frauen in Kinofilmen behandelt wurden. Das Wort Selbstmord musste er nicht hören. Vor allem nicht aus ihrem Mund.
Sie bog auf das Parkareal und fand eine gute Stelle gleich neben dem Behindertenbereich. Das Filetstück unter den Parkplätzen. Gutes Zeichen. Zehn Minuten vor der ausgemachten Zeit trat sie in das Restaurant, um ganz sicher als Erste einzutreffen. Trotzdem saß der Sheriff bereits am Fenster. Vermutlich war er zwanzig Minuten zu früh gekommen und hatte Mr. Wong ein großzügiges Trinkgeld gegeben, um den besten Tisch zu ergattern.
Der Sheriff bemerkte sie nicht gleich, und so hatte sie Gelegenheit, ihn ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Kate Reese wusste, dass sich Menschen am deutlichsten zeigten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Wie ihr Mann, als sie nach der Ankunft zu Hause entdeckte, dass er mit der Wand redete. Oder Jerry, als sie ihn mit einem leeren Sixpack vorfand. Sie war schon so oft in ihrem Leben verletzt worden, da musste sie einfach möglichst viel an Daten aus diesen dreißig Sekunden herausschlagen.
Der Sheriff war nicht mit seinem Handy beschäftigt. Er las auch nicht die Speisekarte. Stattdessen ließ er den Blick durch den Raum gleiten. Immer wieder. Wie aus Gewohnheit. Um sich gegen Bedrohungen abzusichern. Um verdächtige Personen zu erkennen. Vielleicht lag das nur an seiner Polizeiausbildung. Obwohl, das allein konnte es nicht sein. Eher wirkte es wie eine Art urtümliche Reaktion auf eine Welt, um deren Gefahren er wusste. Auf eine Welt, die auch sie kannte. Er war ein richtiger Mann. Solide. Auf raue Art attraktiv und sexy.
Und diese Hände.
Wenn es nicht um ihren Sohn ging, war Kate Reese nicht besonders sentimental. Aber sie hatte eine Schwäche für Hände. Wie sie es auch drehte und wendete, sie mochte richtige Männer mit starken Händen, die ihr das Gefühl gaben, gehalten zu werden.
Der Sheriff hatte tolle Hände.
Und gerade pustete er auf sie.
Seine Hände schwitzen. Er ist nervös.
»Hallo, Sheriff.« Sie winkte.
»Oh, hi«, antwortete er ein wenig zu eifrig und stand auf. Instinktiv wischte er sich die Hand an seiner Anzughose ab und reichte sie ihr. Sie war glatt, trocken und stark. »Ich hab uns einen Tisch am Fenster geben lassen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht.«
»Es ist wunderbar.«
Er zog ihren Stuhl heraus.
Sie konnte es kaum glauben. Ihr Mann hatte das immer für sie getan. Danach war ihr das nicht mehr passiert. »Danke.« Sie nahm ihr Jackett ab und zeigte ihr Designerkleid, bevor sie sich setzte.
»Gern geschehen. Sie sehen fantastisch aus. Das Kleid macht echt was her.«
»72,50 Dollar im Outlet-Center.« Scheiße, warum erzähle ich ihm das? »Ausverkauf. Die Schuhe auch«, fügte sie hinzu. Halt endlich den Mund, Kate.
Nach kurzem Schweigen lächelte der Sheriff. »Welches Outlet-Center? Grove City?«
Sie nickte.
»Das ist das beste. Ich kaufe alle meine Kleider dort«, bemerkte er sachlich.
Und damit begann für Kate Reese die beste erste Verabredung, die sie seit Christophers Vater erlebt hatte. Jerry erwähnte sie kein einziges Mal. Sie dachte nicht einmal an ihn. Die alte Kate Reese, die es mit Jerry ausgehalten hatte, hatte einen Blazer mit einem Loch unter dem Arm getragen. Die neue Kate Reese saß in einem fabelhaften Designerkleid mit einem Mann zusammen, der während des Essens immer wieder auf seine tollen Hände blies, weil ausnahmsweise mal ein Mann in ihrer Gegenwart unsicher und nervös war. Statt umgekehrt wie sonst immer.