24
Als Christopher seine Mom anrief, war er verwirrt. Zu Hause auf dem Festnetzanschluss hatte er sie nicht erreicht, nur auf ihrem neuen Handy. Und die Musik im Hintergrund hörte sich nicht nach dem Fernseher zu Hause an. Sie klang eher nach einem Restaurant.
»Hallo, Mom?«
»Hi, Schatz.«
»Wo bist du denn?«
»Im China Gate.«
»Bist du allein?« Er ahnte bereits die Antwort.
»Nein, ich bin mit einem Freund hier.«
Christopher wusste, was das bedeutete. Sie sprach immer von einem »Freund«, wenn sie sich mit einem neuen Typen traf. Einen Namen bekam er erst, wenn etwas Ernstes daraus wurde. Er erinnerte sich an die Zeit in Michigan. Nachdem sie einen Monat lang nicht darüber geredet hatte, erzählte sie endlich, dass ihr Freund Jerry hieß.
»Oh, okay«, sagte Christopher.
»Und was ist mit dir? Macht es Spaß zusammen mit Eddie und den M & M’s?«
»Ja. Aber du fehlst mir.«
»Du mir auch, Schatz.«
»Vielleicht können wir morgen nach der Kirche noch was Schönes machen.«
»Klar, Schatz. Was du möchtest. Von mir aus sogar McDonald’s.«
»Okay, Mom. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Schatz. Bis morgen.«
Dann legten sie auf.
Christopher reichte Special Ed das Telefon und machte sich wieder an die Arbeit. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Mike und Matt ihrer Mom mit dem Handy von Special Eds Mutter (das Eddie schlauerweise übers Wochenende »verlegt« hatte) eine SMS schickten. Und mit halbem Ohr bekam er mit, wie Special Ed von Mike und Matts Telefon seinen Dad anrief und ihm erzählte, dass sie bei Mike und Matt einen Haufen Spaß hatten. Und, nein … er hatte keine Ahnung, wo Moms Telefon abgeblieben war. Vielleicht hatte sie es bei ihrer Maniküre im Comic-Salon vergessen.
Doch Christopher achtete kaum darauf. Er wünschte sich bloß, dass dieser neue »Freund« seine Mom gut behandelte. Im Gegensatz zu den anderen. Er musste an das Geschrei denken, das durch die Wände bis zu ihm gehallt war. An die Beschimpfungen gegen seine Mom, die er nicht verstanden hatte, weil er noch zu klein war. Dann hörte er zum ersten Mal von einem älteren Jungen auf dem Spielplatz den Ausdruck »Schlampe«. Zwei Monate später wurde »Mist« zu »Scheiße«. Und aus »Armleuchtern« wurden »Arschlöcher«. Und die Wörter machten alle älter und hässlicher. Wenn er die Wände des Baumhauses dick genug baute, würden diese schlimmen Ausdrücke bestimmt nicht mehr durchdringen. Er musste sie bloß stark genug bauen, dann konnte niemand mehr »Leck mich, du Schlampe« durch sie hören. Also starrte er auf die weiße Plastiktüte und schlug hämmernd einen Nagel nach dem anderen ein …
»Kommt, Jungs. Die Pause ist vorbei«, sagte er.
Niemand stellte ihm Fragen. Seine Freunde bildeten eine Reihe und kehrten zum Baum zurück. So arbeiteten sie schon den ganzen Tag und gönnten sich dazwischen höchstens einen Schluck Kool-Aid mit Kirschgeschmack und einen Bissen gehackten Schinken. Am späten Vormittag waren die Bodenbalken eingezogen. Dann folgte die Geheimtür mit der Strickleiter. Bis Mittag standen die Pfosten für die vier Wände. Obwohl die Temperatur um zehn Grad sank, bauten sie mit beinahe religiösem Eifer weiter. Die Herbstkälte kroch ihnen in die Knochen, während ihre Gedanken um die großen Probleme kleiner Jungen kreisten.
Special Ed redete über Cheeseburger. Er wunderte sich, dass die von McDonald’s so viel besser waren als die in der Cafeteria. Weniger begeistert war er vom Apfelkuchen bei McDonald’s. »Schon mal was von Karamell gehört, hallo?« Dann verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Tirade auf Tagträume über das Thanksgiving-Dinner mit dem berühmten Apfelkuchen seiner Grandma. Nur noch fünf Tage. Mmmmmmmmm.
Matt fragte sich, wann endlich seine Sehschwäche abklingen würde und er die Augenklappe abnehmen konnte. Hoffentlich bald, damit Jenny Hertzog ihm nicht mehr ständig »Piratenkopf! Piratenkopf!« nachplärrte.
Mike für seinen Teil redete nicht über seinen Schimpfnamen »Lesben-Mike«. Er war ganz auf den Bau des Baumhauses konzentriert. Und er fand, dass diese Nägel einfach perfekt waren. Bei jedem Schlag bohrten sie sich mühelos hinein. Normalerweise machten Nägel Zicken. Sie verbogen sich, dann musste man sie herausziehen und wieder gerade hämmern. Bei diesen Nägeln war das anders. Sie fanden immer Halt im Baum. Mike schaute seinen kleinen Bruder an, der ihm zulächelte.
Aus einem Grund, den nur die beiden kannten, lächelte Mike zurück. »Weißt du noch, wie du damals in diesen rostigen Nagel getreten bist und eine Tetanusspritze gekriegt hast?«
»Meinst du eine Titanspritze?«, warf Special Ed stirnrunzelnd ein.
»Ja, das hat wehgetan«, antwortete Matt.
»Aber du hast nicht geheult«, stellte Mike fest.
»Stimmt, hab ich nicht.«
Danach mündete das Gespräch schnell in eine hitzige Diskussion darüber, wer der beste Avenger war. Wegen seines Körperumfangs war Special Ed für Hulk. Matt mochte Iron Man, bis er schließlich seinem älteren Bruder zustimmte, der auf Thor stand. Niemand konnte sich vorstellen, wie es aussehen würde, wenn der Hulk mal ein Ei legen musste. Doch alle waren sich einig, dass sie noch nie so was Witziges gehört hatten.
Schließlich beschlossen sie, dass jeder eine Rolle übernehmen sollte. Special Ed bekam seinen geliebten Hulk, nachdem er alle überzeugt hatte, dass Mike der perfekte Thor war, weil er so gut mit dem Hammer umgehen konnte. Matt musste Captain America sein, weil er als Handtuch angefangen hatte und erst später groß und stark geworden war. Alle waren der Meinung, dass es nur einen Iron Man geben konnte. Christopher. Er war der Anführer. Der Schlauste. Das Superhirn.
»Dann sind wir uns also einig«, meinte Special Ed.
Damit war alles geklärt. Den Rest des Nachmittags sagten die Jungen kein Wort mehr. Der Baum hielt sie in den Armen wie eine Mom ihre Kinder. Warm und geborgen. Nur wenn sie sich vom Baum entfernten, holte die Kälte sie ein, und ihnen fiel auf einmal auf, wie eisig es in Wirklichkeit war. Sie hatten keine Ahnung, wo die Stunden hingegangen waren. Die Lichtung war wie eine eigene kleine Welt. Ein großer, von Bäumen und Wolken beschützter Kreis. Eine Insel mitten im Meer.
Der Einzige, der sich nicht geborgen fühlte, war Christopher. Als das Tageslicht allmählich in die Dämmerung überging, merkte er, dass er die Lichtung beobachtete, wie ein Hirsch, der in allen Richtungen nach sich nähernden Feinden ausspähte. Der Feind war nicht zu sehen, doch er spürte ihn. Mit jedem Pochen des Hammers nahm er ein Wispern wahr, das tief in seinen Kopf vordrang. Immer wieder die gleichen Worte, so wie in der Messe, wenn die Gemeinde am Sonntag zusammen mit Father Tom und Mrs. Radcliffe das Vaterunser nachsprach.
Wir kommen nicht schnell genug voran.
Christopher forderte die Jungs auf, einen Zahn zuzulegen. Und sie gehorchten. Die Hände wund. Die Gesichter sonnenverbrannt trotz der Novemberkälte. Alle waren erschöpfter, als sie je zugegeben hätten. Vor allem Matt, der sich vor seinem großen Bruder keine Blöße geben wollte. Doch selbst Mike wirkte müde. Trotzdem arbeiteten sie weiter. In ihren Herzen summten sie stumm eine Melodie. Blue Moon. Bis schließlich gegen elf Uhr abends die Kräfte versagten und sich die Stimme der Vernunft durchsetzte.
»Das ist doch bescheuert«, rief Special Ed. »Ich hab Hunger.«
»Wir dürfen nicht aufhören«, mahnte Christopher.
»Komm schon, Chris. Leg mal die Peitsche weg«, sagte Mike. »Für den ersten Tag sind wir doch schon weit gekommen.«
»Genau«, fügte Matt hinzu.
»Jungs, wir müssen bis Weihnachten fertig werden«, erklärte Christopher.
»Wieso?«, schnaubte Special Ed. »Was soll die Hetzerei?«
Christopher fixierte die weiße Plastiktüte, dann zuckte er die Achseln. »Ach, nichts. Ihr habt recht. Essen wir mal was.«
Nebeneinander setzten sich die vier Jungen auf den dicksten Ast wie die Männer, die das Rockefeller Center erbaut hatten. Dieses Bild hatte Christopher einmal mit seiner Mom in der Bibliothek gesehen. Zehn oder mehr Männer mit Mützen, die hoch oben auf einem Bauträger über der Stadt schwebten. Die geringste falsche Bewegung hätte den sicheren Tod bedeutet.
Sie versammelten sich um den mit Kool-Aid gefüllten Kanister und aßen Erdnussbutter mit Traubengelee zu Town-Talk-Brot. Zum Nachtisch naschten sie Oreos mit Milch, die sie im Bach beim Ziegensteig kalt gestellt hatten. Nach dem langen Arbeitstag waren es die köstlichsten Oreo-Kekse, die sie jemals verputzt hatten. In der nächsten Stunde unterhielten sie sich kreischend vor Lachen mit immer neuen und größeren Rülpsern und Fürzen.
Und erzählten sich Geistergeschichten.
Matt brachte die von dem Typen mit dem Haken, die jeder schon eine Million Mal gehört hatte. Und da Matt den Typen auch nicht spielte (ohne Haken wäre ihm das schwergefallen), konnte er damit niemanden beeindrucken. Christopher tat trotzdem, als fände er es gruslig, damit sich Matt nicht schlecht fühlte.
Dann schilderte Christopher die Handlung von Shining , der im Fernsehen lief, als Jerry eines Abends auf der Couch eingeschlafen war. Seine Mom hatte Spätschicht im Lokal, und Jerry sollte auf ihn aufpassen. Christopher mochte den schwarzen Koch am liebsten und verstand bloß nicht, warum er direkt in eine Axt lief, wenn er doch die Zukunft vorhersehen konnte. Ansonsten fand er den Film wirklich toll.
Auch Mike hatte eine ziemlich gute Geschichte auf Lager. Er fing mit der Taschenlampe unter dem Kinn an. »Wisst ihr, warum man Leichen zwei Meter tief im Boden begräbt?«, fragte er wie der Sprecher bei einer Halloween-Sendung.
»Weil sie zu stinken anfangen«, antwortete Special Ed. »Das haben sie im Fernsehen gebracht.«
»Nein.« Mike schüttelte den Kopf. »Sie begraben sie zwei Meter tief, damit sie nicht rauskommen. Die sind alle wach da unten. Und sie kriechen rum wie Würmer, weil sie rauswollen. Damit sie euch das Gehirn auslutschen können!«
Nach dieser Einleitung erzählte Mike die Geschichte des Zombies, der unter der Erde erwachte und sich nach oben ins Freie wühlte, um sich an dem Typen zu rächen, der ihn und seine Freundin erschossen hatte. Es endete damit, dass der Zombie das Gehirn des Typen mit Messer und Gabel verspeiste. Alle waren begeistert!
Nur einer nicht.
»Ich weiß eine bessere Geschichte«, meinte Special Ed selbstbewusst.
»Red kein Blech«, knurrte Mike.
»Genau«, fügte Matt in toughem Ton hinzu.
»Stimmt aber. Hab ich von meinem Dad gehört.«
Mit einem Nicken forderte Mike Special Ed auf, »es krachen zu lassen«.
Special Ed nahm die Taschenlampe und richtete den Strahl unter sein Kinn. »Schon ganz lange her. In unserer Stadt. Da war ein Haus. Das Olson-Haus.«
Mike und Matt wurden sofort leise. Davon hatten sie schon mal gehört.
»Mr. und Mrs. Olson waren zum Essen ausgegangen. Und ihr ältester Sohn sollte auf seinen verrückten jüngeren Bruder David aufpassen. Den ganzen Abend kam der immer wieder die Treppe runter, während sein älterer Bruder mit seiner Freundin rumgeknutscht hat. Und David hat ständig so wirres Zeug geredet.
Da ist eine Hexe vor meinem Fenster.
Sie hat eine Katze, die wie ein Baby schreit.
Da ist jemand in meinem Wandschrank.
Und jedes Mal, wenn er runterkam, hat ihn sein großer Bruder wieder raufgeschickt, weil er weiter mit der Freundin rummachen wollte. Selbst als David vor lauter Angst Pinkelflecken auf der Pyjamahose hatte, dachte sein Bruder, dass er ihm bloß was vorspielt, weil sich David in letzter Zeit so verrückt benommen hatte. Also hat er ihn raufgebracht und ihm einen anderen Schlafanzug gegeben. Dann ist er mit David durch den ganzen ersten Stock gegangen und hat ihm gezeigt, dass da nichts Unheimliches war. Aber David hat nicht auf ihn gehört und immer weiter geschrien. Es wurde so schlimm, dass sein älterer Bruder ihn in seinem Zimmer eingesperrt hat. Egal wie fest David geheult und an die Tür geschlagen hat, sein Bruder hat ihn nicht rausgelassen. Irgendwann hat das Schlagen und Plärren aufgehört. Und der ältere Bruder ist wieder runter zu seiner Freundin gestiegen.
Da haben sie auf einmal ein weinendes Baby gehört.
Es klang, wie wenn es auf der Veranda wäre. Aber woher sollte um diese Zeit ein Baby kommen? Also sind sie zur Haustür gegangen.
›Hallo?‹, fragte der ältere Bruder.
Dann hat er durch das Guckloch in der Tür gespäht. Nichts zu sehen. Von draußen kam weiter dieses Weinen. Schließlich wollte er die Tür aufmachen.
Da hat ihn seine Freundin am Arm gepackt. ›Nicht!‹
›Was soll das?‹, fragte er. ›Da draußen ist ein Baby.‹
›Mach die Tür nicht auf.‹
›Jetzt reiß dich mal zusammen. Und wenn es allein ist und raus auf die Straße krabbelt?‹
›Das ist kein Baby.‹ Ihr Gesicht war ganz bleich. Sie hatte schreckliche Angst.
›Du spinnst‹, fluchte der ältere Bruder.
Sie stieg die Treppe hinauf zu Davids Zimmer.
›Wo willst du hin?‹
›Dein Bruder sagt die Wahrheit.‹
Der ältere Bruder öffnete die Tür. Auf der Veranda stand eine Wiege für Kinder. Der ältere Bruder ist leise hingeschlichen und hat die Decke weggezogen. Und da hat er es gesehen …
Ein tragbares Tonbandgerät, auf dem Babyweinen lief. Der ältere Bruder ist raufgerannt und auf seine Freundin in Davids Zimmer gestoßen. Sie hat geschrien. Das Fenster war eingeschlagen. Überall am Glas und an den Wänden waren schlammige Handabdrücke. Der kleine Bruder war weg. Sie haben ihn nie gefunden.«
Die Jungen waren ganz still.
Christopher schluckte schwer. »Ist das wirklich passiert?«
Seine drei Freunde nickten.
»Das ist eine Legende aus der Gegend«, erklärte Special Ed. »Alle Eltern erzählen den Kindern diese Geschichte, damit sie am Abend brav ins Bett gehen.«
»Ja, aber in der Fassung von unserem Onkel war auf der Veranda ein Mörder mit der Babyaufnahme«, warf Mike ein.
»Genau«, ergänzte Matt. »Und es gab auch keine Freundin.«
Ob so oder so spielte keine Rolle. Special Ed wurde zum König der Geistergeschichten gekrönt. Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht. Alle waren schläfrig von der schweren Arbeit und einem vollen Bauch. Da sie sich nach all dem Gegrusel ein wenig beklommen fühlten, beschlossen sie, dass immer einer Wache halten sollte, während die anderen schliefen. Wie es sich für einen guten Anführer gehörte, übernahm Christopher die erste Schicht, damit seine Crew sich ausruhen konnte.
Außerdem hatte er so Gelegenheit, mit dem netten Mann allein zu sein.
Christopher beobachtete, wie seine drei Freunde ihre Schlafsäcke auf dem kalten Boden ausrollten. Sie kletterten hinein und drängten sich zusammen, um es warm zu haben. Kurz darauf ebbte das Geplapper ab. Die Taschenlampen gingen aus. Es wurde dunkel. Und still.
Christopher saß im Baumhaus. Überall auf der Lichtung hielt er Ausschau nach Anzeichen von Babys, Katzen oder Hexen. Doch er sah nur den Hirsch. Dieser starrte ihn kurz an, dann schnupperte er wieder den Boden nach etwas Essbarem ab.
Christopher wickelte sich noch fester in seinen Schlafsack und knabberte an einem kalten Oreo, bis er mit der Zunge auf den klebrigen weißen Kern stieß. Der Wald lag im Mondschein. Die Blätter leuchteten rot und gelb wie ein Lagerfeuer. Plötzlich roch er einen ledernen Baseballhandschuh, das Tabakhemd seines Vaters, gemähtes Gras, feuchtes Laub, Pfannkuchen mit Schokosplittern und alle anderen Düfte, die ihn je bezaubert hatten. Oben am Himmel hatten sich die Wolken geteilt und ließen das Mondlicht durch. Hinter dem Mond glitzerten Tausende von Sternen.
So viele hatte er noch nie gesehen. So hell und herrlich. Er bemerkte eine Sternschnuppe. Dann noch eine. Und noch eine. Einmal im KU hatte Mrs. Radcliffe erwähnt, dass eine Sternschnuppe die Seele von jemandem war, der in den Himmel kam. Und in einer Wissenschaftssendung im Fernsehen hatte es geheißen, dass eine Sternschnuppe ein in der Erdatmosphäre brennender Meteor war. Doch seine Lieblingstheorie hatte er vom Spielplatz in Michigan. Dort hatte er gehört, dass eine Sternschnuppe nichts anderes war als der letzte Atem eines sterbenden Sterns und dass es sechs Millionen Jahre dauerte, bis das Licht zur Erde reiste und die Menschen vom Tod des Sterns erfuhren. Was stimmte denn nun? War es eine Seele oder ein Stern? Und wenn alle Sterne schon erloschen waren und die Erde es bloß nicht wusste, weil die sechs Millionen Jahre noch nicht vergangen waren? Wenn sie hier auf der Erde ganz allein waren und es außer der Sonne gar keinen Stern mehr gab? Und was wäre, wenn die Sonne schon verglüht und bloß noch Millionen von Jahren zu sehen wäre? Von einem kleinen Jungen, der zusammen mit seinen Freunden ein Baumhaus baute und kalte Oreo-Kekse aß? Reisten alle Sterne und alle Seelen am Ende zum selben Ort?
Und war das dann das Ende der Welt?
Diese Vorstellung machte ihm ein bisschen Kopfweh, und das war seltsam, weil er hier beim Baum sonst nie Kopfschmerzen hatte. Es war eben eine besondere Vorstellung, die ihn zu anderen weiterführte. Ein behagliches Feuer. Sein warmes Bett zu Hause. Das angenehme Gefühl, wenn ihm seine Mutter beim Einschlafen mit der Hand übers Haar strich. In den letzten vierzehn Tagen hatte er nur wenig geschlafen, weil er jede Nacht lang aufgeblieben war und Holz für den Bau zum Baum geschleppt hatte. Und jetzt fühlte er sich auf einmal unglaublich müde.
Als ihm wider Willen die Augen zufielen, beschlich ihn eine Art Erinnerung an den Baum. Als hätte er hier schon einmal geschlafen. Er spürte die Hand seiner Mutter auf dem Haar wie manchmal, wenn er Fieber hatte. Doch seine Mutter war gar nicht hier. Da waren nur Baumäste. Und Äste konnten einem Menschen nicht übers Haar streichen.
Und sie fühlten sich auch nicht an wie eine Hand aus Fleisch und Blut.