26
Was war das für ein Geräusch?
Matt setzte sich auf und drehte sich um. Er lag in seinem Schlafsack. Zusammengerollt wie ein Mann in einem hohlen Stamm. Instinktiv fasste er sich an die Stirn, die schweißbedeckt war.
Von dem Albtraum.
Er hatte am Boden geklebt wie Fliegenpapier. Die Straße verwandelte sich in Treibsand. Er konnte weder stehen noch laufen. Er versank einfach immer tiefer in der Straße. Der Sand sickerte in seine Lunge.
Und er schrie, als sein Bruder starb.
Matt steckte den Kopf aus dem Schlafsack und blinzelte hinauf zu den Sternen. Der blaue Mond erleuchtete die Lichtung wie eine Laterne. So hell wie eine sterbende Sonne am Himmel. Ein Hirsch starrte ihn an. Matt fuhr hoch. Der Hirsch erschrak und rannte zu dem alten Bergwerksstollen, der das Tier verschlang wie das Maul eines Riesen.
Matt stieg aus dem Schlafsack, und plötzlich traf die eisige Novemberluft auf seinen Pyjama. Da spürte er es. Den nassen Fleck. Er hatte sich wieder in die Hose gemacht. Und diesmal nicht zu Hause, sondern bei einer gemeinsamen Übernachtung mit seinen Freunden. Wie ein Baby. Wie ein blödes Baby.
Dafür würde ihn Mike bestimmt ewig aufziehen.
Verzweifelt schaute er hinüber zum Schubkarren beim Baum. Vielleicht konnte er schnell die Thermowäsche aus dem Rucksack holen und hineinschlüpfen, bevor Mike aufwachte. Vorsichtig huschte er zum Baum und vermied jeden Zweig, der knacken konnte. Auf Zehenspitzen stahl er sich vorbei an seinem tief schlafenden Bruder und griff nach seinem Rucksack. Dann entfernte er sich von Mike, zurück Richtung Stollen. Schritt für Schritt kam er näher, bis sein Blick im Mondschein an etwas hängen blieb. Eine zusammengekauerte Gestalt im Schatten, die in der Erde grub.
Es war Christopher.
Und er redete mit sich selbst.
»Ja, ich kann das Baby hören«, flüsterte er.
Matt vergaß die frischen Kleider und schlich lautlos auf Christopher zu, der in der Erde wühlte wie ein Hund, der einen Knochen verscharrte. Aus der Nähe bemerkte Matt einen dünnen Ast, an dem die weiße Plastiktüte hing.
»Ich will es nicht sehen, es ist zu unheimlich«, wisperte Christopher.
»Christopher? Alles klar bei dir?«, fragte Matt.
Christopher fuhr herum. Er wirkte erschrocken. »Wie lang stehst du da schon?«
»Seit eben. Was ist denn mit deinen Augen?«
»Was soll damit sein?«
»Sie sind ganz blutunterlaufen.«
»Das ist nichts. Keine Sorge, okay?«
Matt nickte und machte sich trotzdem Sorgen. Christopher rieb sich die erschöpften Augen. Dann fiel sein Blick auf Matts Hose, und er bemerkte den dunklen Urinstreifen auf dem Stoff.
Matts Gesicht wurde heiß vor Scham. »Nicht verraten, bitte.«
»Ich verrate nichts«, flüsterte Christopher.
»Wirklich, ich mein es ernst. Mein Bruder würde mich ständig damit auf…«
Ohne ein Wort deutete Christopher auf den Pinkelfleck an seiner eigenen Hose.
»Hattest du auch einen Albtraum?«, fragte Matt.
»Ja. Also, keine Sorge.« Christopher lächelte ihm zu.
Und irgendwie fühlte sich Matt auf einmal besser. »Was hast du denn da gemacht?«
Christopher schwieg kurz. »Nach einem Schatz gegraben.«
»Kann ich dir helfen?«
»Klar, schnapp dir eine Schaufel.«
»Können wir uns zuerst umziehen? Mike darf nicht sehen, dass ich mich angepinkelt hab, okay?«
Christopher lächelte, dann wühlten die Jungen hastig in ihren Rucksäcken und zogen neue Kleider heraus. Wie kalten Bananen aus dem Kühlschrank schälten sie sich die Unterwäsche herunter. Die frostige Luft traf auf ihre Pillermänner, die sich zurückzogen wie verängstigte Schildkrötenhälse. Dann streiften sie rasch die frischen Sachen über, die sich warm und weich und trocken anfühlten. Christopher öffnete die Werkzeugkiste und reichte Matt eine kleine Schaufel. Endlich gruben sie nach dem Schatz. Seite an Seite.
»Mit wem hast du vorhin geredet?«, fragte Matt.
»Mit mir selbst. Und jetzt beeil dich. Du willst doch nicht, dass dir jemand den Schatz wegschnappt, oder?«
In der nächsten halben Stunde gruben sie. Sie sprachen kaum. Matt fiel auf, dass Christopher immer wieder nach der weißen Plastiktüte schielte, doch er dachte sich nicht viel dabei. Matt wusste, dass Special Ed Christophers bester Freund war. Er selbst dachte insgeheim, dass Christopher seiner war. Und es machte ihm nichts aus, dass er erst nach Special Ed kam. Daran war er inzwischen gewöhnt. Schon sein ganzes Leben lang war er nach Mike gekommen. Das Einzige, was ihn störte, war eine nagende Frage. Die Frage, von der er aufgewacht war.
Was war das für ein Geräusch?
Es lag ihm auf der Zunge. Bevor er es einordnen konnte, hörte er von hinten Special Eds Stimme.
»Was treibt ihr denn da?«
Matt und Christopher drehten sich um und bemerkten Special Ed und Mike, die näher kamen und sich den Schlaf aus den Augen rieben. Ihr Atem erzeugte Dampfwolken.
»Wir graben nach einem Schatz«, antwortete Matt.
»Können wir mithelfen?«, fragte Mike.
»Klar, Mike.«
»Ich mach inzwischen Frühstück.« Special Ed kannte seine Nische.
Mike hob eine Schaufel auf und stach mit seinen starken Armen durch die gefrorene Erde. Matt wartete ab, ob Christopher Mike von der angepinkelten Hose erzählen würde. Doch Christopher lächelte bloß, wie um zu sagen: »Bei mir ist dein Geheimnis sicher aufgehoben.«
Später aßen die Jungen ihre Froot Loops mit kalter Milch aus dem Bach. Christopher verriet ihnen nichts von dem Schrecken. Nichts von dem flüsternden Wachmann. Und auch nichts von dem Babyweinen, das Matt geweckt hatte. Er wusste, dass die Wahrheit Matt bloß Angst eingejagt hätte. Und er wollte nicht, dass außer ihm noch jemand Angst hatte. Also erzählte Christopher nicht, was ihm nach den Worten des netten Mannes drohte, wenn das Baumhaus nicht rechtzeitig fertig wurde. Je weniger die anderen wussten, desto besser. Und sicherer für alle. Wenn er es ihnen verriet, bestand die Gefahr, dass sie vor Entsetzen davonrannten. Und er brauchte unbedingt ihre Hilfe.
Am Ende des Frühstücks sorgte er dafür, dass Mike den Zuckerstaub und Matt den Preis bekam. Dann dankte er Special Ed für das tolle Frühstück.
Die Zufriedenheit der Truppe war wichtig.
Als der Morgen heranbrach, wärmte ihnen die Sonne die kalten Knochen. Sie arbeiteten jetzt in Gruppen. Zwei Jungen bauten das Baumhaus weiter. Die anderen zwei gruben. Nach einem Imbiss aus gefrorenen Oreos und der letzten Milch machten sich Special Ed und Christopher wieder hackend an die Suche nach einem Schatz.
Kein Schatz tauchte auf.
Doch um 7:06 Uhr stießen sie auf ein Kinderskelett.