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Der Anruf kam um 7:30 Uhr herein.
Und die Nachricht verbreitete sich schnell.
Der Deputy fuhr am Sonntagmorgen nach dem Nachtdienst zur Messe. Er erzählte Father Tom davon, der seine Predigt kurzfristig änderte und erwähnte, dass man im Missionswald die Überreste eines Kindes gefunden hatte. Er erklärte, dass das Kind im Himmel war und dass die Gemeinde bei aller Trauer nicht die Kraft von Christi Gnade vergessen durfte.
Die Predigt war so bewegend, dass Mrs. Radcliffe die Fassung verlor. Während der gesamten heiligen Kommunion tupfte sie sich die Augenwinkel ab. Wie oft hatten sie und Mr. Radcliffe um ein Kind gebetet? Wie viele Fehlgeburten hatte sie erlitten? Und wie viele Male hatte Mr. Radcliffe sie in den Arm genommen und ihr versichert, dass ihr Leib nicht zerbrochen war? Wirklich eine ergreifende Predigt.
Mary Katherine betete für das Kind, und kurz darauf sprang ihr siebzehnjähriger Verstand im Dreieck. Das arme Kind. Warum war es ihm versagt geblieben, wie sie aufzuwachsen und aufs College zu gehen? Auf eine Universität wie die Notre Dame? Sie schalt sich, weil sie in so einem Augenblick an sich dachte. Doch sie hatte Angst, dass die Notre Dame sie nicht nahm. Was für eine furchtbare Enttäuschung für ihren Vater! Sie versprach Gott, für das Kind zu beten und sich auf den Dienst im Altenheim zu konzentrieren. Wenn bloß Mrs. Collins nicht so gemein und ihre Mutter nicht so verrückt gewesen wären! Das ganze Wochenende hatte die alte Frau geschrien, dass »sie« sie alle beobachteten. Wie sollte sie sich das einen Monat lang anhören? Vor allem nachdem Doug gekündigt hatte mit der Begründung, dass sich so eine Tortur einfach nicht lohnte. Nicht einmal für Cornell. Sofort rügte sich Mary Katherine für ihren Narzissmus und mahnte sich, lieber an das arme Kind zu denken.
Du willst doch keinen Hirsch überfahren, oder?
Nach dem Ende der Messe riefen die Kirchgänger alle möglichen Verwandten an und erkundigten sich, ob mit ihren Sprösslingen am College alles in Ordnung war. Mütter hielten ihre Kinder ein wenig fester und nahmen sich vor, sie zu Thanksgiving mit besonderen Leckereien zu verwöhnen. Väter beschlossen, sich mit einem Footballspiel (statt drei) zu begnügen und sich in Zukunft mehr mit ihrer Familie zu beschäftigen als mit irgendwelchen Ligen. Und die Kleinen bekamen einen Tag lang so viele Süßigkeiten, wie sie es sich nur wünschen konnten. Manche hatten ein schlechtes Gewissen, weil der Anlass nichts mit ihnen zu tun hatte, aber … wer konnte bei Süßigkeiten schon Nein sagen?
Die Einzige, die nicht erschüttert schien, war Mrs. Collins.
Während der Messe hatte Kathleen Collins mit ihrem Sohn Brady in der vordersten Reihe gesessen. Natürlich war sie bereits im Bilde. Als Grundstückseigner war ihr Mann als Erster nach dem Sheriff verständigt worden. Er brach sofort auf und fuhr zum Fundort. Er hatte zu viel Geld in das Projekt Missionswald gesteckt und konnte dessen Schicksal nicht einfach irgendwelchen Bürokraten überlassen. Mrs. Collins merkte, dass ihre Sorge wegen des möglichen Bankrotts ihrer Familie viel größer war als das Mitleid für die Familie des Kindes im Wald. Und zu Recht! Schließlich gab es für solche Vorkommnisse nur einen Grund.
Schlechte Erziehung.
Das war die schlichte Wahrheit. Gute Eltern passten auf ihre Kinder auf. Sie sorgten für ihre Sicherheit. Wer an dieser Aufgabe scheiterte, konnte die Schuld nicht einfach auf irgendwelche äußeren Umstände schieben. Ein Blick in den Spiegel, und man wusste, wer die Verantwortung hatte. Das war das Problem in der heutigen Welt. Niemand wollte mehr Verantwortung übernehmen. Eines Tages würde die Polizei das Scheusal fassen, das dieses schreckliche Verbrechen begangen hatte. Und wenn es so weit war, würde der Psychopath bestimmt Krokodilstränen vergießen und darauf verweisen, dass ihn seine Eltern misshandelt oder missbraucht hatten. Alles bloß Quatsch, um es mal offen auszusprechen. Immerhin gab es so etwas wie Wahnsinn. Es gab so etwas wie das Böse.
Mrs. Collins hielt nichts von Debatten über die Henne und das Ei. Es gab doch wohl irgendwo auf der Welt auch missbrauchende Eltern, die nicht selbst als Kinder von ihren Eltern missbraucht worden waren. Sie hätte eine Million Dollar darauf gewettet, dass es so war. Und wenn bloß eine dieser Mütter oder einer dieser Väter sich melden würde, um es ein für alle Mal zu beweisen, dann könnte sie sich als glückliche Frau ins Grab legen.
Mrs. Collins’ Gatte seinerseits musste sich den ganzen Sonntag mit dem Sheriff herumärgern. Das verheißungsvolle Projekt Missionswald drohte sich in seinen schlimmsten Albtraum zu verwandeln. Zuerst der kleine Christopher Reese. Und jetzt auch noch ein Skelett? Verdammte Kacke. Bei jedem Schritt im Missionswald trat er entweder in Hundescheiße oder in eine Bärenfalle. Umweltgruppen meckerten, dass die Hirsche ihren natürlichen Lebensraum verloren. Historische Gesellschaften maulten, dass die Stadt ihr »Herzstück« einbüßte. Und sogar Denkmalschützer beknieten ihn, aus diesem abgetakelten alten Stollen ein Bergwerksmuseum zu machen. Was für eine hirnverbrannte Idee. Die konnten ihn alle kreuzweise! Er wusste, dass die Bauarbeiten spätestens an Weihnachten beginnen mussten, weil dann die ersten Kreditzahlungen fällig wurden. Und was meinte der Sheriff (seines Zeichens Staatsbeamter) dazu? Es interessierte ihn einen Dreck. Der Sheriff erklärte ihm, dass er den Wald absperren musste, weil es sich um einen Tatort handelte.
»Und wann darf ich die Bagger reinschicken? Wenn alles unter einem Meter Schnee begraben liegt? Sie haben doch nicht alle Tassen im Schrank, Sheriff. Anscheinend wollen Sie und der Rest des Universums um jeden Preis verhindern, dass ich dieses gottverdammte Projekt realisiere!«
Mrs. Collins’ Mutter ihrerseits saß im Aufenthaltsraum des Altenheims. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie dort hingekommen war. Und wer sie war. Wer ihre Tochter war. Oder ihr reicher Schwiegersohn. Sie dachte kurz daran, dass die Frau in den Nachrichten ihr von einem toten Kind erzählt hatte und dass nähere Einzelheiten noch nicht bekannt waren. Dann kam ein lauter Kerl namens Ambrose ins Zimmer und erklärte ihr, dass es nicht ihr Kind war. Er sagte, dass ihre Tochter putzmunter war und sich darauf freute, später am Nachmittag noch ein paar Teenager zu schikanieren. Und jetzt Klappe. Er wollte die Nachrichten hören.
Mrs. Collins’ Mutter mochte Ambrose nicht. Es war ihr egal, dass er fast blind war. Vulgär blieb vulgär. Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu und versuchte, sich an etwas anderes zu erinnern. Etwas Wichtiges. Doch sie kam nicht drauf. Und genau als nach dem Ende der Nachrichten das Footballspiel anfing, fiel es ihr wieder ein.
Sie mussten alle bald sterben.
Ja, das war es.
Sie mussten alle sterben.
Der Tod kommt.
Der Tod ist hier.
Wir sterben am Weihnachtstag.