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Ein Blizzard.
Gottverdammt , dachte der Sheriff, das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Blizzard.
Der Wetterbericht hatte fünf Zentimeter Schnee vorhergesagt. Er lag um einen halben Meter falsch. Die Schulen hatten bereits dichtgemacht. Die Grundschule. Die zwei Mittelschulen. Die Highschool. Der Schneefall war so stark, dass sogar der Bezirk Mt. Lebanon den Schulbetrieb sofort einstellte, statt den Kindern eine seiner legendären dreistündigen Verzögerungen zuzumuten.
Überall waren Kinder mit Schlitten und Schneemännern zu sehen. Auch der Sheriff wäre jetzt lieber als Knirps mit einem Rodel herumgebrettert, statt sich als Erwachsener zu überlegen, ob die Stadt in ihrem Etat noch genug Geld für zusätzliches Streusalz hatte. Als Kind hatte er das Salz gehasst, weil es den Schnee wegfraß.
Jetzt hasste er das Salz noch mehr. Weil es ihn von der Arbeit an dem Fall abhielt.
Vielleicht lag es daran, dass der Kleine von Kate Reese beteiligt war. Oder daran, dass der Sheriff an das Großstadttempo gewöhnt war und sich nach richtiger Polizeiarbeit sehnte, obwohl er anfangs das stille Leben in einer Kleinstadt so schön gefunden hatte.
Was es auch war, je mehr Zeit er in diesem Wald mit der Suche nach Spuren und Hinweisen verbrachte, desto konzentrierter und engagierter fühlte er sich. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er fast gesagt, dass er intelligenter wurde. Denn trotz aller Ablenkungen brauchte er nur zwei Tage, um das Opfer anhand von vier einfachen Informationen …
Ein Junge.
Acht Jahre alt.
Vor fünfzig Jahren.
Lebendig begraben.
… mit hoher Wahrscheinlichkeit zu identifizieren. Eindeutig erhärten ließ sich das nur mit einem DNA-Test. Dennoch zweifelte er nicht daran, den Namen zu kennen.
David Olson.
Der Sheriff saß an seinem Schreibtisch. Er öffnete die Akte mit dem ungeklärten Fall und faltete das braun verblichene Vermisstenfoto auseinander. David Olson war ein putziger kleiner Kerl. Volle Backen. Strahlendes Lächeln. Trotz der fehlenden Schneidezähne.
Fehlende Schneidezähne, wie sie auch an dem Skelett festgestellt worden waren.
Der Sheriff schob das Foto weg und nahm sich die Ausschnitte aus der Pittsburgh Post-Gazette und der inzwischen eingestellten Pittsburgh Press vor. Sogar im örtlichen Anzeigenblatt wurde die Sache erwähnt.
Nach Darstellung der Zeitungen war David Olson mit seinem Bruder und dessen Freundin zu Hause gewesen. Die Eltern besuchten eine Vorstellung in der Heinz Hall nach einem Dinner im Duquesne Club. Laut dem ersten Polizeibericht hatte der ältere Bruder ausgesagt, dass jemand auf der Veranda eine Wiege mit einem Tonbandgerät abgestellt hatte, auf dem eine Aufnahme von einem weinenden Baby lief. Offensichtlich ein Ablenkungsmanöver des Täters (oder der Täter), um David Olson ungestört aus seinem Zimmer entführen zu können.
Die Polizei zog alle Register – und gab einen Großteil des örtlichen Etats aus, wie der Sheriff wusste. Man sperrte Straßen und Highways. Deputys und Freiwillige suchten die ganze Stadt ab. Auch den Missionswald. Doch letztlich fanden sie nicht einmal eine Fußspur.
Als wäre David Olson von einem Geist geholt worden.
Da man auf keine Hinweise stieß, richtete sich der Verdacht gegen die Familie. Zur Steigerung der Auflage beschuldigten einige Schmutzreporter David Olsons Vater des Mordes an seinem Sohn. Die Schlagzeilen von dem »irren Dad« konnten sich eine Weile halten, zumal herauskam, dass die Familie eine Lebensversicherung auf David abgeschlossen hatte. Doch weil es keine Beweise gab, schlief die Story (zusammen mit den Zeitungsumsätzen) bald ein, und die Reporter konzentrierten sich auf den älteren Bruder.
Die schlimmeren warfen ihm Mord vor. Die besseren beschränkten sich auf die Frage: »Was ist das für ein Gefühl, dass du dabei warst, als David entführt wurde?« Ob aus Naivität oder Kalkül, der ältere Bruder sprach sehr offen mit den Reportern und hielt so das Interesse wach. Doch irgendwann traten andere Nachrichten in den Vordergrund, und nur noch die Familie wusste, wie die Geschichte ausgegangen war. Dass das Verbrechen nie geklärt wurde. Dass die Täter nie gefasst wurden. Dass sie mit der Bürde leben musste, keine Gewissheit zu erlangen. Dass die Stadt die Suche beendete, weil es keine Anhaltspunkte gab und sie das Geld für Streusalz brauchte, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.
Der Sheriff legte die Akte mit dem Vermisstenbild weg. Dann blickte er auf zu all den aktuellen Vermisstenfotos an seinem Schwarzen Brett. Gesichter von Männern, Frauen und Kindern. Die Sheriff Departments schickten diese Bilder herum wie Jungen, die Baseballkarten tauschten. Alles in der (begründeten oder vergeblichen) Hoffnung, dass durch irgendein Wunder ein in Hershey verschwundenes Kind in Philadelphia auftauchen könnte. Oder dass der alte Mann mit Demenz, der sich in Harrisburg verirrt hatte, irgendwie nach Pittsburgh finden würde. Manchmal wurden Gesichter abgenommen, wenn ein Kind gerettet, ein Grandpa gefunden wurde oder eine jugendliche Ausreißerin feststellte, dass die Hölle zu Hause das reinste Paradies war im Vergleich zur Hölle auf der Straße. Doch auch wenn die Gesichter wechselten, das Schwarze Brett blieb immer gleich. Es war immer voll wie ein Kino bei einem neuen Blockbuster.
Das Brett war so eine Konstante, dass dem Sheriff nur selten ein Gesicht besonders auffiel. Doch zurzeit gab es ein Vermisstenbild, das sich von den anderen abhob. Vielleicht lag es am Alter. Oder dem blonden Haar. Oder daran, dass sie dem Mädchen mit den lackierten Nägeln ähnelte. Was auch immer der Grund war, dieses vermisste Mädchen vergaß der Sheriff nie.
Emily Bertovich.
Sie war vor vier Monaten verschwunden, und ihre Eltern verfügten wohl über großen Einfluss in ihrem Heimatort Erie, Pennsylvania (oder über viel Geld). Denn der Fall wurde noch immer behandelt, als wäre er in den letzten vierundzwanzig Stunden hereingekommen. Neue Bilder. Neue Plakate. Sogar die alte Milchkartonkampagne wurde für die Kleine wieder zum Leben erweckt. Der Gegensatz zwischen ihrem Bild und dem von David Olson hätte nicht größer sein können. Ihres frisch gedruckt, seines brüchig und ausgebleicht. Eines Tages würde auch Emilys Foto alt sein. Und hoffentlich würde sie lange vorher sicher in den Armen ihrer Mutter liegen. Als der Sheriff merkte, dass seine Gedanken von Emily Bertovich wieder zu dem Mädchen mit den lackierten Nägeln wanderten, riss er sich zusammen.
Er hatte Arbeit zu erledigen.
Der Sheriff ging hinaus und grub seinen Streifenwagen aus dem Schnee. Dann fuhr er über gesalzene Straßen vorbei an spielenden Kindern auf dem Golfplatz mit dem fantastischen Schlittenhügel. Von allen Seiten rannten die Kleinen in ihren bunten Jacken den schneebedeckten Hang hinauf.
Wie Ballons am Himmel.
Er öffnete das Fenster einen Spalt, damit der Dunst auf seiner Windschutzscheibe verschwand. Frische, kalte Luft wehte in den Wagen. Er hörte die begeisterten Schreie der Kinder, die den Hügel hinabsausten und wieder hochkletterten, nur um gleich wieder nach unten zu sausen. Der Lärm brachte ihn zum Lächeln. Ein heller Moment an einem grauen Tag.
Schließlich gelangte der Sheriff zum Altenheim. Auf der Veranda stand Mrs. Collins neben ihrer Mutter, die im Rollstuhl saß. Die Mutter faselte etwas Unsinniges über das Ende der Welt, während Mrs. Collins drei Teenager ermahnte, den Schnee »mit ein bisschen mehr Einsatz« von der Veranda zu schaufeln. Vor allem eine davon tat dem Sheriff leid.
»Wir wollen doch nicht, dass meine Mutter stürzt und sich die Hüfte bricht, oder, Mary Katherine?«
»Nein, Ma’am.« Mary Katherines Gesicht war rot, und ihr lief die Nase vor Kälte.
Der Sheriff freute sich nicht gerade auf die Begegnung mit Mrs. Collins. Er erinnerte sich noch gut an die Einladung, die er nach seinem Dienstantritt in der Stadt erhalten hatte. Die Einladung in eine tausend Quadratmeter große Villa mit einer langen Einfahrt, Swimmingpool, Tennisplatz und einem Weinkeller, der kaum kleiner war als sein Apartment. Bloß ein nettes, gemütliches Abendessen, um ihn daran zu erinnern, wer in der Stadt der Diener und wer der Herr war. Nichts davon wurde laut ausgesprochen. Es wurde einfach stillschweigend vorausgesetzt. Der Sheriff ließ die ganze Vorführung von Normalität und Entspanntheit über sich ergehen. Wie locker es in diesem Haushalt zuging, merkte er, als Brady Suppe auf das feine Leinen verschüttete und erstarrte wie ein Ganove, der seinen Drogenboss hintergangen hatte. Sobald die Tür hinter dem Sheriff ins Schloss fiel, konnte sich der Kleine auf was gefasst machen, das stand fest. Wenigstens hatte er tausend Quadratmeter, in denen er sich elend fühlen konnte.
Und Bradys Mom konnte kochen. Das musste man ihr lassen.
Danach hatte bestes Einvernehmen zwischen Herrn und Diener geherrscht – bis ein Skelett entdeckt wurde und der Sheriff den Wald zu weiteren Ermittlungen absperren ließ.
»Sheriff, ich kann mir keine Woche Zeitverlust leisten«, teilte ihm Mr. Collins mit. »Aber ich kann mir ein Team von Anwälten leisten.«
»Schön. Die können dann vielleicht gleich mithelfen, wenn wir auf Ihrem Land nach weiteren Skeletten graben. Sie bauen doch familienfreundliche Siedlungen. Da sollten die Fernsehreporter nicht den Eindruck bekommen, dass Ihnen ein totes Kind egal ist, oder?«
Die Äußerung des Sheriffs war nicht unbedingt ein Paukenschlag, doch sie regte Mr. Collins dazu an, sich für die nächsten Wahlen schon mal nach einem neuen Sheriff umzuschauen. Dem Sheriff machte das nichts aus. Wenn er den Fall löste, würde die Gemeinde zu ihm stehen, und er konnte seinen Job behalten. Und wenn nicht, dann eben nicht. Er hatte schon Schlimmeres erlebt.
»Hallo, Mrs. Collins. Wie geht’s Ihrem Mann?«, fragte der Sheriff höflich.
»Bestens. Er freut sich darüber, dass Sie seine Bauarbeiten für eine weitere Woche gestoppt haben.«
»Alles zum Schutz der Stadt, Ma’am.« Der Sheriff tippte sich an den Hut, auch wenn er eher klang, als würde er ihr den Finger zeigen.
»Auf jeden Fall leisten Sie ganze Arbeit.« Sie lächelte ihm zu.
Nachdem er eingetreten war, bemerkte der Sheriff Kate Reese am Ende des Gangs. Sie nahm gerade Weihnachtsschmuck aus einer Schachtel. Und sie sah genauso hinreißend aus wie an ihrem gemeinsamen Abend, der um 20:00 Uhr begonnen hatte und erst endete, als Mr. Wong sagte: »Wil schließen jetzt.«
Die drei Stunden waren wie im Flug vergangen, und der Sheriff wusste nur, dass sie sich in der kurzen Zeit sehr nah gekommen waren. Dann wurde es Zeit, die Glückskekse zu öffnen.
»Was steht bei dir?«, fragte er.
»Der wahre Freund zeigt sich erst in der Not. Und bei dir?«
»Du findest Glück in einer neuen Liebe.«
Zehn Minuten danach schmusten sie in seinem Auto auf dem Parkplatz wie Sechzehnjährige. Dass sie sich nur küssten, machte die Sache noch besser.
»Wieso bist du bei diesem Sturm unterwegs?«, fragte Kate.
»Ich bin der Sheriff. Und was treibst du?«
»Ich arbeite, damit ich den Hauskredit abbezahlen kann. Und Christopher ist mit seinen Freunden beim Schlittenfahren.«
Der Sheriff ahnte einen Wandel bei ihr. Nachdem sie erfahren hatte, dass das Skelett seit fünfzig Jahren in der Erde gelegen hatte, sah sie die Sache mit ihrem Sohn entspannter. Zumindest ein wenig.
»Kein Hausarrest mehr?«, fragte der Sheriff.
»Bewährung«, antwortete sie. »Wenn er allerdings noch mal in den Wald geht … Einzelhaft.«
Der Sheriff spürte, dass sie aus allen Ecken belauscht wurden. Von den alten Damen, die mit arthritischen Fingern Karten spielten, bis hin zu den Mitarbeitern, die draußen heimlich eine rauchten. Also beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr den Grund seines Kommens zu. Sie nickte und führte ihn durch den Gang zu einem Zimmer. Dann überließ sie ihn seiner Polizeiarbeit.
Der Sheriff musterte den alten Mann auf seinem Stuhl. Er trug einen dicken Verband um den Kopf, offenbar von einer Augenoperation.
»Entschuldigen Sie, Sir. Hier spricht Sheriff Thompson.«
»Ach, hallo, Sheriff. Freut mich, dass Sie wirklich arbeiten, schließlich hab ich für Sie gestimmt«, sagte Ambrose. »Was kann ich für Sie tun?«
Obwohl der alte Mann ihn nicht sehen konnte, nahm der Sheriff aus Respekt den Hut ab und setzte sich zu ihm.
»Sir, vor einer Woche wurde im Wald die Leiche eines kleinen Jungen entdeckt.«
»Ja?«
»Also … ich glaube, es handelt sich um Ihren vermissten Bruder David.«
David Olsons älterer Bruder Ambrose saß reglos da wie eine Statue. Seine Augen waren verborgen. Nach einer Weile merkte der Sheriff, dass am unteren Rand des Verbands Tränen heraussickerten.