33
Christopher blickte hinauf zum schwer verhangenen Himmel. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so viele Wolken gesehen zu haben. Große, märchenhafte Wolken, die Schnee herabschütteten wie Konfetti bei einem Umzug.
Seine Freunde konnten ihr Glück nicht fassen.
Ein Schneetag!
Ein richtiger, toller Schneetag.
»Mannomann, Chris. Vielleicht kannst du doch Wetter machen«, witzelte Special Ed.
Christopher zwang sich zu einem Lächeln. Natürlich wusste er, dass der Schnee Zufall sein konnte.
Oder auch nicht.
Am Morgen hatte ihn seine Mutter zum Schlittenfahren mit seinen Freunden am Golfplatz abgesetzt und sich mit einer Umarmung, einem Kuss und einer strengen Ermahnung von ihm verabschiedet. »Du gehst nicht in den Wald. Das meine ich ernst.«
»Danke, Mom.«
»Da gibt’s nichts zu danken. Ich erlaub dir das bloß, weil anscheinend die halbe Stadt hier am Hügel rumrennt. Du bleibst hier, bis ich wiederkomme.«
»Ja, Mom.«
Die Mütter versprachen den Jungen, sie nach der Arbeit (oder, im Fall von Special Eds Mutter, einem ausgedehnten Besuch im Schönheitssalon) abzuholen. Das gab ihnen acht Stunden Zeit, um das Baumhaus zu beenden.
Das war ihre Chance.
Sie warteten, bis ihre Mütter verschwunden waren, dann zogen sie mit ihren roten Plastikschlitten zurück über den Parkplatz. Sie kamen an Eltern vorbei, die sich über die schlechten Straßenbedingungen und die langen Fahrzeiten beklagten, während die Kinder mit ihren Freunden Pläne schmiedeten, wie sie das meiste aus diesem unverhofften Ferientag herausschlagen konnten.
Bewaffnet mit Special Eds heißer Schokolade in einer Thermosflasche und einem Rucksack voller Junkfood, stapften die Jungen den ganzen Weg durch den Schnee bis zum Missionswald. Kurz davor hielten sie an. Die Bäume wirkten niedergedrückt von der Schneelast. Stille Zeitzeugen. Christopher dachte daran, dass diese Bäume schon seit Jahrhunderten hier standen. Vielleicht schon seit Jahrtausenden. Diese Bäume waren älter als die Vereinigten Staaten. Und sie würden noch hier sein, wenn er und seine Freunde alle schon längst tot waren.
Außer Mr. Collins machte den Bäumen den Garaus.
Christopher führte die anderen zu der Stelle, wo er die Fenster versteckt hatte. Als sie sie ausbuddelten, blieb der Schnee an ihren Handgelenken hängen und überzog die Arme mit einem Mantel aus Eis. Doch Christopher spürte gar nichts.
Nach fünf Minuten erreichten sie mit den Fenstern auf den roten Plastikschlitten die Lichtung. Die Jungen kämpften sich durch die Schneewehen voran. Durch das herrliche weiße Pulver, das die Lichtung vor der Welt zu verbergen schien. Wie ein Berg, lange bevor jemand auf die Idee von Skiern kam.
Während der ganzen Zeit beim Baum sprachen sie kaum ein Wort. Sie arbeiteten schweigend und stimmten sich nur gelegentlich mit einem knappen Kommando darüber ab, wie sie die Fenster zum Hochschleppen festbinden mussten. Was der richtige Schraubenzieher war. Wo sie die Dichtleisten an den Fenstern anbringen mussten.
Special Ed und Mike mit ihren Muskeln montierten die Bretter für das Dach. Ihre Hämmer trieben die Nägel durch das Holz wie ein Messer durch warme Butter. Von allen Seiten peitschte der Wind und machte ihre Wangen rot und nass vor Kälte. Matt und Christopher brachten schwarze Läden an den Fenstern an, und nach zwei Stunden war alles verlegt. Als sie damit fertig waren, kletterten alle vier Jungen auf das Baumhaus und machten sich daran, die Schindeln festzunageln. Eine nach der anderen. So schnell sie konnten. Tack tack tack, wie vier Schreibmaschinen.
Dann war es so weit.
Als er zur letzten Dachschindel kam, hielt Christopher inne. Nur noch ein Nagel. Er fragte die Jungs, wer ihn einschlagen wollte.
»Das übernimmst natürlich du«, sagte Mike.
Seine Freunde feuerten ihn an. »Chris, Chris, Chris!«
Christopher packte den Hammer und trieb den letzten Nagel hinein. Dann kletterten alle vorsichtig vom Dach nach unten. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, blickten sie in stummer Ehrfurcht hinauf zu ihrer Schöpfung. Ein perfektes kleines Baumhaus samt Läden, Fenstern und einer echten Tür mit Schloss. Dazu für den Notfall im Boden eine Geheimtür mit Strickleiter. Es war fantastisch. Genau wie Christopher es sich ausgemalt hatte. Besser als seine Zeichnung auf dem Millimeterpapier. Besser als jedes Haus, das er je geplant hatte – außer das für seine Mom.
Das Baumhaus war fertig.
»Wer will als Erster raufklettern?«, fragte Matt.
Es gab keine Diskussionen.
Christopher ging voraus.
Seine Freunde folgten.
Die Jungen stiegen die babyzahnartigen Kantholzstufen hinauf. Sie erreichten den kleinen Absatz. Wie ein Pförtner öffnete Christopher die Tür und ließ seinen Freunden den Vortritt. Einer nach dem anderen. Special Ed, dann Mike, dann Matt. Die drei Jungen kauerten sich zusammen und überlegten, dass sie später noch Möbel und iPads heraufschaffen wollten, um Filme anzuschauen. Vielleicht sogar einen Campingkocher für Popcorn.
Während seine Freunde aufgeregt Pläne schmiedeten, ließ Christopher den Blick über die Lichtung gleiten. Zwischen den Büschen grasten Hirsche auf den letzten grünen Stellen, bevor die winterlichen Entbehrungen begannen. Er lauschte. Kein Laut. Kein Wind. Nur der gleichmäßige Schneefall aus den Wolken am Himmel. Christopher bemerkte, dass das Wolkengesicht wieder da war. Lächelnd zog es dahin und warf Schnee auf ihn wie Zuckerwatte. Der Schnee lag so hoch, dass er all ihre Spuren bedeckte.
Als wären sie nie hier gewesen.
»Komm rein, Chris. Mach die Tür zu. Es ist saukalt«, drängte Special Ed.
Christopher wandte sich zu seinen Freunden um. Doch zuvor blieb sein Blick an der weißen Plastiktüte hängen, die den ganzen Tag geschwiegen hatte. Er betrachtete sie, wie sie an dem tiefen Ast hing. Geduldig wartend. Dann setzte er den Fuß über die Türschwelle und betrat das Baumhaus. Christopher wusste, dass er seinen Beweis bekommen würde, sobald er die Tür hinter sich schloss. Entweder war er verrückt, oder da war etwas auf der anderen Seite. Entweder gab es keinen netten Mann, oder er würde ihm gleich persönlich begegnen.
»Was macht das Baumhaus?«, hatte er den netten Mann einmal gefragt.
du würdest mir nie glauben. das musst du mit eigenen augen sehen.
Christopher zog die Tür zu.