35
Christopher schlug die Augen auf.
Auf den ersten Blick schien alles unverändert. Er stand im Baumhaus. Er war noch immer auf der Lichtung, auf dem Boden der Schnee. Kurz dachte er, dass er bloß ein verrückter Junge war, der seinen Hirngespinsten folgte.
Wäre da nicht dieser Geruch gewesen.
Beim Betreten des Baumhauses war die Luft winterkalt gewesen. So frostig, dass es ihm die Nasenlöcher zuklebte. Doch als er jetzt die Augen öffnete, duftete es warm und süß. Wie Zuckerwatte.
»Hey, Jungs, riecht ihr das?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Jungs?«
Er drehte sich um und stieß fast einen Schrei aus. Denn neben Special Ed, Mike und Matt saß er selbst. Christopher betrachtete die vier Jungen, die im Schneidersitz dahockten und sich wärmend die Hände rieben. Er rief sie an, doch sie hörten ihn nicht. Er wedelte mit der Hand vor ihren Augen, ohne dass sie blinzelten. Sie überlegten eifrig, was für Möbel sie in das Baumhaus bringen sollten. Ihre Stimmen klangen weit entfernt. So wie die hallende Stimme seiner Mutter, wenn er in der Badewanne die Ohren unters Wasser tauchte. Christopher spitzte die Ohren, um sie zu hören. Bis …
klopF. klopF. klopF.
Christopher wandte sich zur Tür. Das Geräusch vibrierte durch seine Zähne wie kreischende Kreide auf einer Tafel. Christopher schaute sich nach seinen Freunden um. Sie konnten das Klopfen nicht hören. Sie unterhielten sich weiter darüber, dass sie im Baumhaus noch Strom für ihre Spielsachen und Geräte brauchten. Batterien vielleicht? Liefen Kühlschränke mit Batterien?
klopF. klopF. klopF.
Behutsam näherte er sich der Tür und legte das Ohr daran. Zuerst nahm er nur Stille wahr. Dann auf einmal eine Stimme. Klar und deutlich, nicht verwaschen wie bei seinen Freunden.
christopher. psst. hier draußen.
Christophers Herz pochte. Er trat ans Fenster. Doch sosehr er auch den Hals reckte, er konnte nichts sehen.
klopF. klopF. klopF.
Christopher stellte sich auf die Zehenspitzen, um draußen etwas zu erkennen. Nichts. Nur die gedämpfte Stimme drang durch die Tür.
schon gut, christopher. ich bin’s. mach die tür auf.
Christopher schluckte schwer. Er wollte nicht aufmachen. Aber er musste herausfinden, ob da draußen jemand war. Oder ob es wieder bloß ein Hirngespinst von ihm war. Hatte er seinen Körper verlassen? Oder hatte ihn sein Verstand verlassen?
Christopher öffnete die Tür.
Das Licht draußen war blendend hell. Trotzdem konnte Christopher das Gesicht erkennen. Narben nach oben und unten von tausend Schnitten. Ein junger Mann mit einer alten Seele. Oder ein älterer Mann mit einem jungen Herzen. Die Augen so blau. Das Gesicht so freundlich.
Es war der nette Mann.
»Du bist echt«, sagte Christopher erstaunt.
»Hi, Christopher. Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.« Der nette Mann hielt ihm die Hand hin.
Christopher schüttelte sie. Seine Haut war weich und glatt. Wie die kühle Seite des Kissens.
»Wir haben nur noch eine Stunde Tageslicht«, bemerkte der nette Mann. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Christopher blickte sich nach seinen Freunden um. War ihnen die Veränderung aufgefallen? Konnten sie den netten Mann sehen? Spürten sie die offene Tür? War ihnen klar, dass der Wald und die Welt eine andere Seite hatten?
Nein. Sie unterhielten sich einfach weiter. Ihnen war nichts bewusst außer einem Baumhaus, das acht kleine Hände erbaut hatten. Christopher trat zu dem netten Mann hinaus und schloss die Tür. Er stieg die babyzahnartigen Kantholzstufen hinunter. Und folgte dem netten Mann durch die Lichtung hinaus in die Fantasiewelt.