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»Was ist denn mit deinen Fingern passiert?«, fragte Christophers Mutter, als sie ihn abholte.
Sie standen auf dem Parkplatz des Golffeldes mit seinen Freunden und ihren Müttern zusammen. Die Sonne war bereits untergegangen, die Luft kalt und schneidend. Wie ein empfindlicher Zahn.
»Nichts. Bloß ein paar Splitter.«
»Von einem Plastikschlitten?«
»Ein Junge aus der Schule hat uns seinen Holzschlitten geliehen.«
Christophers Mutter musterte ihn schweigend. Argwohn war ein zu starkes Wort für den Ausdruck ihrer Augen. Aber weit davon entfernt war es nicht. »Welcher Junge?«
»Kevin Dorwart. Er ist in meiner Klasse«, antwortete er, ohne zu blinzeln.
Damit endeten die Fragen fürs Erste. Genau wie er es erwartet hatte. Denn zusammen mit den Splittern und der Erinnerung an die Unterhaltung zwischen seinem Körper und seinen Freunden im Baumhaus hatte er noch etwas anderes aus dem Wald mitgebracht. Sein Verstand hatte sich nur eine Stunde in der Fantasiewelt aufgehalten, und doch, seit er sie verlassen hatte, spürte er dieses …
Jucken.
Ein Jucken an der Nase, das vom Kratzen nicht wegging, weil es nicht an der Nase war. Es war in seinem Gehirn. Und Jucken war auch nicht das richtige Wort. Denn ein Jucken kitzelte und wisperte und biss nicht. Ein Jucken hinterließ keine Gedanken. Die Gedanken erinnerten ihn an seine alten Lernkarten.
2 + 2 = 4
Die Hauptstadt von Pennsylvania ist … Harrisburg.
Bloß dass diese Lernkarten anders waren. Als sein Blick auf seinen Freunden und ihren Müttern lag, wirbelte das Jucken die Lernkarten durcheinander wie der Mann, den er einmal beim Hütchenspiel beobachtet hatte.
Special Eds Mom ist …
Special Eds Mom ist … eine Trinkerin.
Mike und Matts Mütter gehen …
Mike und Matts Mütter gehen … zur Paartherapie.
»Christopher, ist was mit dir?«
Christopher drehte sich um. Alle Mütter starrten ihn an. Besorgt.
Christopher setzte ein beschwichtigendes Lächeln auf. »Mir geht’s gut. Bloß ein bisschen Kopfweh. Ich möchte gern noch weiter Schlitten fahren.«
Die anderen Jungen waren gleich dabei. »Ja! Dürfen wir?«
»Tut mir leid, es ist schon spät«, erwiderte seine Mom.
»Stimmt. Sagt Gute Nacht, Jungs. Auf mich wartet zu Hause eine Flasche Zinfandel«, meinte Betty.
Nachdem sich alle verabschiedet hatten, stieg Christopher zu seiner Mom ins Auto. Er richtete die Heizschlitze auf sein Gesicht und ließ sich von der heißen Luft die kalten Apfelbacken schmelzen.
Er bemerkte, dass seine Mutter die Stirn runzelte. »Hey, Mom, woran denkst du gerade?«
»Nichts.«
Meine Mutter denkt an …
Meine Mutter denkt an … die Splitter in meinen Fingern.
Als seine Mutter auf die Straße fuhr, lief ein Schauer durch seinen Körper. Er erinnerte sich an seine Erlebnisse auf der Fantasieseite. Daran, dass sie wie ein Einwegspiegel war, durch den man Menschen auf der realen Seite beobachten konnte.
Ein Spiegel, durch den man Dinge erkennen konnte.
Um sich von den Erinnerungen abzulenken, schaute er die Häuser an, doch davon wurde das Jucken nur noch lauter. Sie kamen an dem alten Haus an der Ecke vorbei. Von seiner Mutter hatte er erfahren, dass ein junges Paar es vor Kurzem gekauft hatte. Die Frau übermalte gerade den roten Türanstrich.
Das Haus an der Ecke ist …
Das Haus an der Ecke ist …
Nichts. In seinem Kopf war Leere. Es gab keine Antwort. Nur das Jucken und Beißen. Christophers Mutter bog in die Einfahrt. Sie drückte auf die Fernbedienung für den automatischen Garagentüröffner und zwang sich zu einem Lächeln.
Meine Mutter macht …
Meine Mutter macht … sich Sorgen um mich.
Christopher beobachtete, wie seine Mutter eine Suppe aufsetzte. Huhn mit den kleinen Nudeln, die er mochte. Und Grillkäsetoast. Wie früher für ihren Mann.
Mein Vater hatte …
Mein Vater hatte … Stimmen im Kopf. Wie ich.
Nach einer Weile ebbte das wispernde Kratzen ab. Christopher hatte Kopfweh und leichtes Fieber. Aber es war nicht so schlimm. Er fand es gemütlich in der Küche, in der sich langsam die Aromen von Suppe und Grillkäse ausbreiteten. Als seine Mutter fragte, ob er Lust auf die Avengers
oder Bad Cat
hatte, sagte er Nein. Er wollte keinen Film gucken. Auch kein Fernsehen.
»Was möchtest du dann?«
»Können wir zusammen mein Babyalbum anschauen?«
Christophers Mutter lächelte überrascht. Das hatten sie schon seit einigen Jahren nicht mehr getan. Und vielleicht war heute der perfekte Abend dafür. Mit Schnee auf dem Dach und Suppe auf dem Herd.
»Natürlich. Wie bist du plötzlich auf das Album gekommen, Schatz?«
»Weiß nicht.«
Und das stimmte sogar ausnahmsweise. Er hatte keine Ahnung, was an dem Babyalbum auf einmal so interessant war. Er wollte es einfach ansehen. Als die Suppe fertig und der Grillkäse wunderbar golden und knusprig war, holte seine Mutter das Album herunter.
Meine Mutter weiß …
Meine Mutter weiß … dass ich anders bin als früher.
Sie setzten sich auf ihr neues Sofa.
Meine Mutter weiß …
Meine Mutter weiß … dass ich nicht so intelligent sein dürfte.
Im Kamin brannte ein Feuer.
Meine Mutter weiß …
Meine Mutter weiß … dass ich Geheimnisse vor ihr habe.
»Der Grillkäse schmeckt einfach toll«, sagte er, um sie zum Lächeln zu bringen.
»Danke, Schatz.« Ihr Lächeln war gespielt.
Christopher hätte seiner Mutter gern die Macht verliehen, die er von der Fantasieseite mitgebracht hatte. Dann hätte sie die Gedanken sehen können, die zwischen den Worten der Leute Verstecken spielten. Sie hätte gesehen, was in seinem Kopf vorging.
Ich kann dir nicht sagen …
Ich kann dir nicht sagen … was los ist, Mom.
Es würde …
Es würde … dir Angst machen.
Der nette Mann hatte ihm Vorsicht eingeschärft. Je mehr Zeit er auf der Fantasieseite verbrachte, umso mehr würde er über die reale Seite erfahren. Doch diese Macht hatte ihren Preis. Zuerst Kopfschmerzen. Dann Fieber. Und danach Schlimmeres. Christopher hatte ihm versprechen müssen, dem Baumhaus ein paar Tage fernzubleiben, um sich zu erholen.
Er wollte ihn nicht zu schnell ausbilden.
Also lehnte Christopher den Kopf an die Schulter seiner Mutter und versuchte zu vergessen, was er auf der Fantasieseite gesehen hatte. Den Mann in der Pfadfinderinnenkluft bei den Büschen an der Sackgasse. Den anderen Mann, zusammengerollt in dem hohlen Stamm beim Ziegensteig. Zum Glück schliefen die Fantasieleute untertags. Der nette Mann hatte ihm erklärt, dass die Fantasiewelt nachts erwachte.
Und dass es dann richtig unheimlich wurde.
»Du darfst nie ohne mich hierherkommen. Vor allem nicht nachts. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es, Sir.«
Während seine Augen dem Babyalbum folgten, kehrten Christophers Gedanken zurück zum Sonnenuntergang. Erst zwei Stunden war es her, doch es fühlte sich so weit entfernt an wie Michigan. Als die Sonne am Horizont verschwand, hatte der nette Mann ihn zurück zum Baumhaus gebracht. Er entschuldigte sich für sein langes Schweigen und erklärte, dass er es nicht hatte riskieren können zu sprechen, weil die Fantasieseite inzwischen misstrauisch war. Er warnte Christopher vor schlechten Träumen, denn dahinter verbarg sich nichts anderes als die Fantasieleute, die herumstöberten, um herauszufinden, ob man von ihnen wusste. Wenn es also in einem Traum zu schlimm wurde, sollte Christopher einfach auf die Straße laufen.
»Wenn du auf der Straße bleibst, kriegt sie dich nicht.«
»Wer?«
»Je weniger du über sie weißt, umso besser. Ich will nicht, dass sie dich findet.«
Dann bat Christopher den netten Mann, mit ihm auf die reale Seite zu kommen, und er antwortete, dass er nicht konnte. Er hatte etwas zu erledigen. Zu guter Letzt zauste ihm der nette Mann das Haar und schloss die Tür.
Im Nu verwandelte sich der Zuckerwatteduft wieder in kalte Luft. Und Christopher kehrte in seinen Körper auf der realen Seite zurück.
Special Ed hatte soeben die Tür des Baumhauses geöffnet. »Beeil dich, Chris. Es ist schon fast sechs. Sonst kommen wir noch zu spät.«
»Ja«, fügte Mike hinzu. »Bis zum Golfplatz brauchen wir eine Weile.«
Matt teilte die Meinung seines Bruders. »Der letzte Hausarrest hat mir gereicht.«
Christopher folgte seinen Freunden als Letzter aus dem Baumhaus. Er machte die Tür hinter sich zu und schloss die Fantasiewelt ein wie in einem Sarg. Dann stieg er die kleinen Kantholzstufen hinunter. Unten angekommen, blickte er auf die weiße Plastiktüte an dem tief hängenden Ast.
Und er lächelte.
Denn er war nicht mehr allein.
»Christopher, alles klar bei dir?«, erkundigte sich Matt.
»Wieso?«
»Du blutest aus der Nase.«
Christopher tupfte sich an die Nase, zog die Finger zurück und bemerkte rote Flecken daran.
Die Macht hat …
Die Macht hat … ihren Preis.
»Das ist nichts. Alles gut. Gehen wir.«
Dann kniete er sich hin und wusch sich mit dem reinen, weißen Schnee das Blut weg.
»Christopher, schläfst du?«, fragte seine Mutter.
Christopher folgte ihrer Stimme zurück in die Gegenwart. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Jedenfalls hatte seine Mom das Ende des Babyalbums erreicht.
»Nein, ich bin hellwach.«
Nach kurzer Stille bat er sie, zum Anfang des Albums zurückzublättern und die alten Bilder noch einmal anzuschauen. Es war das Einzige, was das Jucken in seinem Gehirn beruhigte.
Er hatte keine Ahnung, warum.