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Ambrose schlug das Babyalbum auf.
Es war ein Uhr nachts. In seinem Zimmer war es ganz still. Er hatte das Fenster geöffnet und lauschte auf den fallenden Schnee. Er war kaum hörbar. Jemand ohne Gaze über den Augen hätte wahrscheinlich gar nichts wahrgenommen. Doch er konnte es hören. Feuchte, schwere Flocken, die wie Federn auf dem Boden landeten. David hatte gern im Schnee gespielt. O Gott, hatte sein Bruder gern im Schnee gespielt.
Ambrose schloss das Fenster und umklammerte das Babyalbum.
Er erinnerte sich, wie ihn David gebeten hatte, ihn zum Schlittenfahren auf den Golfplatz mitzunehmen. »Dafür bist du noch nicht alt genug.« Doch David konnte hartnäckig sein. Und bei dieser Gelegenheit setzte er seinen Willen durch. Sie gingen also zum Schlittenfahren. David trug seine Lieblingsmütze. Eine Skimütze mit dem Schriftzug der Pittsburgh Steelers und einem gelben Bommel. Das war noch vor der »Immaculate Reception«, als die Steelers ein ziemlich erbärmliches Footballteam waren. Ambrose hatte die Mütze im Vergnügungspark Kennywood gewonnen und sie seinem kleinen Bruder geschenkt. Ab da hatte David einen Narren an dieser Mütze gefressen. An ihr und an dem Baseballhandschuh, den ihm Ambrose gekauft hatte. Der Geruch des Handschuhs war ihm im Gedächtnis geblieben.
Ambrose stand auf.
Er erinnerte sich, wie sie den steilen Hügel auf dem Golfplatz hinuntergesaust waren. Der Wind ließ ihre Wangen rot werden wie den Apfel aus Schneewittchen , der David Angst eingejagt hatte. Den ganzen Tag fuhren sie Schlitten, und der Schnee kroch unter Davids Fäustlinge, bis ihm die Handgelenke vor Kälte wehtaten. Als sie endlich nach Hause aufbrachen, war seine Nase verklebt von gefrorenem Rotz. Mom und Dad waren ausgegangen, also kochte Ambrose ihnen ein Fertiggericht mit Erbsen und festem Kartoffelpüree. Sie aßen zusammen und verfolgten im Fernsehen, wie die Steelers gegen die Bears verloren.
»Gottverdammte Steelers«, knurrte Ambrose.
»Gottverdammte Steelers«, plapperte David nach.
»Pass auf, was du sagst. Und nimm die Mütze ab beim Essen.«
David zog sich die alte Steelers-Mütze vom Kopf und lächelte, als ihm sein großer Bruder das Haar zerstrubbelte.
Inzwischen war Ambrose nicht mehr der Jüngste und hatte Mühe, sich an Einzelheiten zu seinem Bruder zu erinnern. Aber manche Dinge würde er nie vergessen.
Zum Beispiel Davids Haar.
Die Farbe hatte er noch wie damals vor Augen. Nicht ganz schwarz. Nicht ganz braun. So vollkommen in seiner Beschaffenheit, dass ein schlechter Haarschnitt praktisch unmöglich war. Ambrose erinnerte sich, wie seine Mutter eine Locke vorn in Davids Babyalbum geklebt hatte. Stolz hatte sie neben dem Krankenhausarmband mit der Aufschrift D. OLSON und den Mutperlen geprangt. Und neben den kleinen Hand- und Fußabdrücken. Das durchsichtige Klebeband war im Lauf der Zeit vergilbt.
Ambrose konnte nicht glauben, dass die Locke aus dem Babyalbum seines kleinen Bruders jetzt in einem Beweisbeutel unterwegs in ein kriminaltechnisches Labor in Pittsburgh war, um zu bestätigen, dass das im Missionswald gefundene Skelett tatsächlich von David stammte. Falls es so war, konnte Ambrose nach fünfzig Jahren endlich seinen jüngeren Bruder beerdigen. Seine Mutter und sein Vater hatten damals keine Bestattung zugelassen.
Sie waren immer der Meinung gewesen, dass David irgendwann nach Hause kommen würde.
Jahrelang tat er alles, um ihren Traum wahr zu machen. Überall suchte er nach David. Immer wieder glaubte er, ihn in einem Kind zu erkennen. Manchmal musste er mühsam den Blick abwenden, damit man ihm keine krankhaften Neigungen unterstellte. Erst nach einer Weile begriff Ambrose tief in seinem Innersten, dass David nicht heimkommen würde. Dass jemand David entführt hatte, wie es manchmal passierte. Nicht, um ein Lösegeld zu erpressen, sondern aus einem viel schlimmeren Grund. Seine Eltern machten sich vor, dass David bei einer kinderlosen Familie Unterschlupf gefunden hatte. Und nicht von einem Monster mit einem Kleinbus verschleppt worden war. Oder einem Perversling, der Filme drehte. Oder einem Feigling, der ein kleines Wesen zerstören musste, um sich stark zu fühlen.
Irgendwann musste Ambrose den Krieg seiner Eltern zu Hause hinter sich lassen und stattdessen in einen Krieg im Ausland ziehen. In der Army erlebte Ambrose sogar noch Schlimmeres als das Verschwinden eines Kindes. Ganze Dörfer voller Kinder, die von Bomben zerfetzt wurden. Mädchen, die für Reis an skrupellose Männer verkauft wurden. Und als seine Frau nach seiner Rückkehr aus dem Krieg Kinder wollte, weigerte er sich. Er hatte seinen kleinen Bruder im Stich gelassen, das konnte er sich nicht verzeihen. Er hatte einfach keinen eigenen Sohn verdient.
Ambrose nahm den Verband von den Augen.
Mit zusammengekniffenen Lidern spähte er durch den Nebel. Er starrte auf sein Spiegelbild in der Glasscheibe und den fallenden Schnee dahinter. Er war kahl bis auf einen Streifen grauer Haare, der sich über den Ohren um den Schädel zog wie die Nerzstola von Mrs. Collins. David hatte nicht erlebt, dass sein Haar grau wurde. Dass es ihm ausfiel und jeden Morgen wie verstreute Kiefernnadeln auf dem Kissen lag. Dass seine Frau ihm vorlog, wie fantastisch er noch immer aussah.
Ambrose fixierte das Babyalbum.
Er blätterte die Seiten um und verfolgte noch einmal, wie David größer wurde. Ein Baby ohne Zähne verwandelte sich in einen kleinen Knirps, der krabbelte, gehen lernte und schließlich so oft gegen den Couchtisch rannte, dass er das Krankenhaus den »Nahtladen« nannte. Er sah, wie sein kleiner Bruder in Santas Schoß weinte. Einen strahlenden Jungen unter dem Christbaum, dem sein großer Bruder Ambrose einen Baseballhandschuh geschenkt hatte. Einen Baseballhandschuh, der nach neuem Leder roch.
»Ambrose, magst du Fangen üben?«
»Draußen schneit es.«
»Das macht mir nichts.«
Ambrose blätterte. Weiter und weiter. Obwohl er kaum etwas erkennen konnte. Seine Augen wurden nicht besser. Nicht mehr lang, dann war er blind. Sein Augenarzt hatte ihn gewarnt, dass es schon Weihnachten so weit sein konnte. Doch solange er auch nur ein bisschen schielen konnte, würde er sich dieses Babyalbum anschauen. Und sich an seinen kleinen Bruder erinnern, so gut es ging. Nicht an das verrückte Zeug am Ende. An die Kopfschmerzen. Das Fieber. Die Selbstgespräche. Das Bettnässen. Die Albträume, die so schlimm wurden, dass er am Ende nicht mehr wusste, ob er schlief oder wach war.
Nein.
Er wollte sich an den David auf diesen Fotos erinnern. An den Jungen, der diese alte Steelers-Mütze liebte und unbedingt im Schnee Fangen üben musste, weil er so begeistert war von dem Baseballhandschuh, den ihm sein großer Bruder geschenkt hatte. An den Jungen, der sich beim Friseur neben Ambrose setzte, über beide Ohren grinste, wenn der Mann so tat, als würde er ihn rasieren, und sagte: »David, du hast einen Prachtschopf.«
Ambrose gelangte ans Ende des Babyalbums. Das letzte Bild zeigte David mit acht Jahren. Danach folgten Dutzende von Seiten, die für immer leer geblieben waren. Vor fünfzig Jahren strahlend weiß, inzwischen gelb und knittrig wie die Haut an seinen Händen. Ambrose kletterte ins Bett und legte sich aufs Kissen. Er nahm sein Gebiss heraus, ließ es in das Glas auf dem Nachttisch gleiten und warf eine Tablette hinein, um seine Sünden wegzuwaschen. Das Zischen des Wassers war so beruhigend für ihn wie Gewitterregen auf dem Dach. Immer wenn der Donner krachte, stand David in seiner Zimmertür.
»Ambrose, kann ich bei dir schlafen?«
»Das ist bloß Donner.«
»Ich hatte einen Albtraum.«
»Schon wieder? Na gut, komm rein.«
»Danke!«
Ambrose erinnerte sich an das Lächeln in Davids Gesicht. Die fehlenden Schneidezähne. Er war so erleichtert, wenn er zu seinem großen Bruder ins Bett steigen durfte. Den alten Baseballhandschuh benutzte er als Kissen.
»Ambrose … können wir morgen in den Wald gehen?«
»Schlaf jetzt, David.«
»Ich möchte dir was zeigen.«
»Ich bin siebzehn. Ich spiele nicht im Wald wie ein kleines Kind.«
»Bitte. Es ist was Besonderes.«
»Aha. Was ist es denn?«
»Das kann ich dir nicht verraten, sonst hören sie mich. Du musst es selber sehen. Bitte!«
»Gut, ich komm mit. Und jetzt schlaf.«
Doch er war nie mitgegangen. Sosehr David auch bettelte. Er wollte ihn bei seinem verrückten Quatsch nicht auch noch ermuntern. Er hatte keine Ahnung, was David dort draußen trieb. Er hatte keine Ahnung, was da im Wald passierte. Im Gegensatz zu jemand anderem. Jemand, der auf der Veranda eine Tonbandaufnahme von einem weinenden Baby laufen ließ und dann seinen Bruder entführte.
Jemand, der seinen Bruder lebendig begraben hatte.
Grenzenloser Zorn packte den alten Mann. Jung und unerschöpflich kam die Wut zu ihm zurück wie ein alter Song im Radio. Gesichter stiegen vor ihm auf. Die Journalisten, die ihn beschuldigten, seinen kleinen Bruder ermordet zu haben. Klassenkameraden, die ihm aus dem Weg gingen. Feindliche Soldaten, die auf ihn schossen. Seine Mutter, die noch auf dem Sterbebett auf Davids Heimkehr hoffte. Sein Vater, der auf dem Sterbebett stumm blieb, weil der Krebs sein Gehirn noch schlimmer verwüstet hatte als all die Jahre des Leugnens. Der Arzt, der ihn vom Tod seiner Frau in Kenntnis gesetzt hatte. Der Richter, der ihm eröffnete, dass er nicht mehr für sich sorgen konnte. Der kaugummikauende Bürokrat, der ihm schließlich den Führerschein wegnahm. Die Politiker, die das Flüchtlingsproblem im Nahen Osten nicht in den Griff bekamen. Und der Gott, der das alles einfach zugelassen hatte.
Alle flossen zu einem Gesicht zusammen.
Zum Gesicht des Menschen, der seinen Bruder lebendig begraben hatte.
Ambrose holte tief Luft. Dann atmete er aus und starrte durch die Wolken in seinen Augen zur Decke. Er hatte das Weinen satt. Er hatte das Selbstmitleid satt. Er hatte den schwachen Alten satt, der bloß auf seine Erblindung wartete, damit er endlich sterben konnte. Wenn er noch immer lebte, dann sicher nicht ohne Grund. Er hatte noch Kraft, und die durfte er nicht verschwenden. Er wollte herausfinden, was seinem Bruder zugestoßen war, auch wenn das die letzte Tat in seinem Leben war.
Und davon ging er eigentlich aus.