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Nach der Rückkehr von der Fantasieseite bekam Christopher sofort die Quittung für seine neuen Kräfte. Das Zerreißen der Kette bezahlte er mit einem Brennen in den Händen. Das Hochheben des netten Mannes zum Fenster hatte ein Stechen in der Schulter zur Folge, als hätte er sich mehrere Bänder gerissen.
Doch am schlimmsten waren die Kopfschmerzen.
Als würde sich ein Messer durch seine Augenlider bohren. Und ihn zum Gehen zwingen. Zum ersten Schritt. Zum nächsten.
Er durfte sich nicht ausruhen.
Er musste zurück zur Schule.
Mühsam kletterte er die Leiter hinunter. Zur Sicherheit nahm er die weiße Plastiktüte von dem tief hängenden Ast und steckte sie ein. Dann humpelte er durch den Schnee zurück zur Schule. Nur einmal hielt er an.
Vor Jenny Hertzogs Haus.
Schnell drückte er die Türklingel und lief davon. Das würde reichen, um Scotts Mutter zu wecken und Jenny einen Nachmittag Ruhe zu erkaufen.
Fünf Minuten vor der Schlussglocke traf er in der Schule ein. Christopher schlüpfte durch das offene Fenster in die Jungentoilette. Dann wartete er vor seinem Klassenzimmer, bis die Klingel läutete und die Schüler auf den Gang strömten.
»Wo warst du denn den ganzen Tag?«, fragte Ms. Lasko argwöhnisch.
»Ich war in der Klasse, Ms. Lasko. Erinnern Sie sich nicht?« Mit einem freundlichen Lächeln berührte Christopher ihre Hand und ließ ein wenig Wärme von seinen Fingern zu ihren fließen.
»Natürlich. Du warst den ganzen Tag hier. Weiter so, Christopher.« Sie tätschelte ihm das Haar.
Wie ein Schwamm saugte sein Gehirn den ganzen Unterrichtsstoff des Tages auf.
Ms. Lasko …
Ms. Lasko … geht nach der Arbeit direkt in die Bar.
Kurz darauf stieg Christopher in den Schulbus und begrüßte lächelnd den Fahrer. »Hallo, Mr. Miller.«
»Setz dich und lenk mich nicht ab«, bellte der Mann.
Stumm ließ sich Christopher hinter dem Busfahrer nieder.
Mr. Miller hat … seine Exfrau angerufen.
Mr. Miller wird … dieses Weihnachten mit seinen Kindern verbringen.
Zu Hause wurde Christopher von seiner Mutter mit frischem Brot und Hühnersuppe erwartet. Das Brot rührte er nicht an, denn er wusste, dass er wach bleiben musste, bis ihm der nette Mann Bescheid gab.
Meine Mom …
Meine Mom … hat noch immer Schmerzen von dem Kaffee, den ihr die zischende Lady über den Arm geschüttet hat.
»Wie war’s heute in der Schule, Schatz?«
»Ganz okay.«
Ich kann meiner Mom nichts sagen …
Ich kann meiner Mom nichts sagen … sonst hört es die zischende Lady.
»Hast du was Neues gelernt?«
»Nicht viel.« Er erwähnte ein paar Details aus Ms. Laskos Unterricht.
Meine Mom weiß nicht …
Meine Mom weiß nicht … dass ich alles dafür tue, damit ihr nichts passiert.
Nachts, als seine Mutter schon schlief, schlüpfte Christopher hinunter in die Küche. Er nahm den Milchkarton und schenkte sich ein großes Glas voll ein. Er inspizierte Emily Bertovichs Bild und suchte nach Hinweisen in ihrem Gesicht, ob die zischende Lady ihn beobachtete oder nicht.
Doch die Kleine lächelte nur.
Er stellte Emily zurück. Leise durchstöberte er den Schrank und stieß auf ein paar Oreo-Kekse, die er auf einen Pappteller legte. Dann machte er ein Sandwich mit Town-Talk-Weißbrot, gehacktem Schinken, Kopfsalat und Mayonnaise. Nachdem er alle Spuren beseitigt hatte, schlich er hinunter in den Keller.
Dort war es trocken und sauber. Der Ofen in der Ecke hielt den Raum gemütlich warm. Eigentlich konnte sich Christopher gar nicht vorstellen, dass der nette Mann je hierherkommen würde. Sicher war es einer der ersten Orte, wo die zischende Lady nach ihm suchen würde. Trotzdem wollte er für alle Fälle auf seinen Besuch vorbereitet sein. Außerdem war es einfach so, dass Christopher ohne ihn Angst hatte. Er wollte nicht die ganze Nacht allein aufbleiben.
Mit dem großen Glas Milch, den Keksen und dem Sandwich ging Christopher zum Sofa. Ihm fiel ein, wie er früher immer Kekse für den Weihnachtsmann hingestellt hatte. Christophers Mutter hatte köstliche Erdnussbutterplätzchen mit einem Hershey Kiss in der Mitte gebacken. Die Wärme ließ das tropfenförmige Schokostück leicht anschmelzen. Mit einem Kuss auf die Wange fragte sie: »Wo sind meine Küsse?«, dann legte Christopher die Plätzchen auf einen Teller und stellte ihn mit einem Glas Milch für Santa unter den Baum.
Einmal an Weihnachten war er ganz früh aufgewacht. Draußen war es noch ganz dunkel. Und obwohl ihm seine Mutter eingeschärft hatte, dass er nicht zu bald aufstehen durfte, weil Santa sonst davon erfahren würde, hielt es Christopher nicht mehr im Bett. Er hatte sich ein Bad-Cat-Kuscheltier gewünscht und musste einfach wissen, ob der Weihnachtsmann es gebracht hatte. Also schlich er zum Wohnzimmer und lugte hinein.
Da bemerkte er seinen Vater.
Er kaute auf einem Plätzchen und trank die Milch.
Schließlich trat er zum Schrank und griff nach einem großen, weiten Kopfkissenüberzug, der dort hinter normalem Bettzeug verborgen war. Aus dem Überzug nahm er mehrere verpackte Geschenke und legte sie unter den Baum. Das letzte war wunderbar groß und in Bad-Cat-Papier eingeschlagen. Danach ging sein Vater wieder in die Küche und verspeiste schweigend die restlichen Plätzchen von Santa. Eins nach dem anderen. Christopher schlüpfte zurück in sein Zimmer und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen suchte sich Christopher das große Paket mit dem Bad-Cat-Papier als erstes Geschenk aus.
»Errätst du, was das ist, Christopher?«, fragte seine Mutter.
»Nein«, antwortete er leise.
Christopher riss die Verpackung auf und erkannte das ersehnte Kuscheltier.
»Ist das nicht ein tolles Geschenk von Santa?« Sein Vater strahlte.
Christopher nickte pflichtschuldig, obwohl er wusste, dass sein Vater derjenige war, der die Geschenke unter den Baum gelegt hatte. Später in der Kirche hörte er, wie die anderen Kinder aufgeregt von den Geschenken schwärmten, die ihnen der Weihnachtsmann gebracht hatte. Christopher konnte sich nicht überwinden, ihnen die Freude zu verderben. Er erzählte niemandem, dass Santa bloß ein unsichtbarer Freund war. Den Rest des Tages verstellte er sich und lächelte, als seine Mutter ein Foto von seinem Vater vor dem Christbaum machte. Das Bild, das jetzt im Silberrahmen auf seinem Bücherregal stand. Es war das letzte Jahr, in dem sein Vater an Weihnachten dabei war. Eine Woche später war er in der Badewanne gestorben.
Als das nächste Weihnachten kam, backte seine Mutter wieder die Plätzchen mit dem Hershey Kiss in der Mitte. Sie fragte: »Wo sind meine Küsse?«, und er stellte sie mit einem Glas Milch unter den Baum. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden, und die Geschenke lagen dort. Auch wenn Christopher keinen Vater mehr hatte, der Weihnachtsmann hatte ihn nicht vergessen.
Christopher deponierte alles auf dem Couchtisch und steuerte auf den alten Koffer zu. Er öffnete ihn und betrachtete die Kleider, die noch immer leicht nach Tabakrauch rochen. Sein Vater hatte einen Lieblingspullover gehabt, der warm war und nicht kratzte. Außerdem eine glatte Baumwollhose, die vom Alter weich wie ein Pyjama geworden war. Christopher nahm die Sachen heraus und brachte sie zusammen mit einem alten Schlafsack und einem Kissen zum Sofa. Dann fing er an, so laut wie nur möglich zu denken, damit ihn der nette Mann hören konnte.
Ich kann dir nicht versprechen, dass es hier sicher für dich ist. Und ich weiß, dass ich nicht laut mit dir sprechen darf, weil sie mich vielleicht belauscht. Also hoffe ich, dass du mich denken hörst. Ich hab dir was zum Essen gebracht, weil du nach dem Hundefutter die ganze Zeit bestimmt Hunger hast. Ich tu einfach so, als hätte ich das alles hier vergessen, falls sie mich beobachtet. Und ich lass dir auch einen Schlafsack da, damit du dich auf der Couch ausruhen kannst.
Christopher legte die Kleider seines Vaters aus.
Der Pullover und die Hose sind von meinem Dad. Keine Ahnung, ob sie dir passen. Deine eigenen Sachen sind ja ganz verschmiert mit Blut und Dreck. Da ist es vielleicht angenehmer für dich, wenn du das hier anziehst. Ach, und noch etwas …
Christopher griff in seine Tasche und zog seinen ganzen Aspirinvorrat heraus.
Die nehme ich ständig, weil ich jetzt immer Kopfweh habe. Auch gegen das Fieber helfen sie ein bisschen. Sie hat dich ja so schrecklich gefoltert, da dachte ich, ich geb sie dir, damit du was gegen deine Schmerzen hast. Morgen kann ich noch mehr besorgen. Du musst schnell wieder gesund werden, damit du dir mit David den Schlüssel holen und fliehen kannst.
Christopher holte die alte Plastiktüte heraus. Er legte sie über den Pullover, wo der Kopf hingehörte, und bedeckte sie mit einem Kissen. Für alle Fälle. Dann ging Christopher zur Kellertreppe, doch bevor er hinaufstieg, wandte er sich noch einmal nach dem Notbett um, das er für den netten Mann vorbereitet hatte. Er musterte die Plätzchen und die Milch, die er seinem echten Weihnachtsmann hinterlassen hatte. Seinem realen Fantasiefreund.