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Irgendetwas hatte sich verändert. Der Sheriff spürte es. Er war jetzt schon seit dem frühen Nachmittag im Missionswald. Er hatte den Tatort zum hundertsten Mal abgesucht, als er plötzlich das Gefühl hatte, um ihn herum würden die Wälder zum Leben erwachen. Nagetiere, die sich in Löchern versteckt hatten, machten auf einmal Wühlgeräusche. Vögel flogen von den Ästen auf, als hätte jemand einen Schuss abgefeuert, den nur sie hören konnten. Die Temperatur fiel schlagartig unter den Gefrierpunkt. Als hätte jemand ein Fenster offen gelassen, und der Zug würde um die ganze Welt wehen.
Die Frage war, wer David Olson begraben hatte.
Denn die Bäume waren es bestimmt nicht.
Der Sheriff schüttelte das Unbehagen ab und machte sich wieder an die Arbeit. Er lief den Weg auf und ab, immer auf der Suche nach Anhaltspunkten. Natürlich war der Fall fünfzig Jahre alt, da konnte er nicht mit frischen Hinweisen rechnen. Spuren einer Entführung. Ein Loch im Boden. Eine Falltür. Doch vielleicht stieß er auf etwas anderes. Auf eine Idee. Eine Einsicht. Eine vernünftige Erklärung, damit er einen Schlussstrich ziehen konnte, so wie es Ambrose am Morgen beim Begräbnis getan hatte.
Nichts.
Bloß dieses Unbehagen.
Der Sheriff kam an dem Baum vorbei, wo Davids Leiche entdeckt worden war. Beim Anblick der aufgescharrten Erde erinnerte er sich daran, wie er bei Davids Bestattung neben Ambrose und Kate Reese gestanden hatte. Erst wenige Stunden war das jetzt her. Ihm kam es wie zwei Jahre vor. Father Tom hatte eine schöne Grabrede gehalten, und Ambrose hatte darauf beharrt, den Sarg seines kleinen Bruders mitzutragen. Das hatte den Sheriff sehr beeindruckt. Ihm fielen nicht viele Leute ein, die das mit zwei arthritischen Knien gemacht hätten.
Während Father Toms Rede ließ der Sheriff den Blick über den Friedhof schweifen. Die Worte »Liebe«, »Vergebung« und »Frieden« schwebten vorbei, während er auf die zahllosen Grabsteine starrte, in denen nebeneinander Generationen von Familien lagen. Ehemänner. Ehefrauen. Mütter. Väter. Töchter. Söhne. Der Sheriff sann über all diese Familien nach. All die Weihnachtsfeiern, all die Geschenke und all die Erinnerungen. Und dann beschlich ihn ein seltsamer Gedanke.
Gott ist ein Mörder.
Der Sheriff hatte keine Ahnung, woher das kam. Der Gedanke war nicht bedrohlich. Nicht niederträchtig. Auch nicht frevelhaft. Einfach ein Gedanke, der ruhig daherwehte wie die Wolken, die sich über dem Friedhof zusammengezogen hatten. Eine Wolke hatte die Form einer Hand. Eine andere die eines Hammers. Und eine glich einem Mann mit langem Bart.
Gott ist ein Mörder.
Der Sheriff hatte öfter Mörder festgenommen. Einige beteuerten ihre Unschuld, beschimpften ihn oder schrien, dass alles ein Missverständnis war. Andere saßen einfach bloß da, reglos wie Statuen, völlig ruhig und manchmal noch bedeckt mit dem Blut ihres Opfers. Das waren die wirklich furchterregenden. Mit einer Ausnahme, der allerschlimmsten. Der Frau, die ihre eigene Tochter umgebracht hatte. Das Mädchen mit den lackierten Nägeln. Nicht mit einem Messer oder einer Pistole. Sondern durch Vernachlässigung.
Wenn man Gott festnehmen würde, was würden die Leute wohl mit Ihm anstellen?
Der Sheriff schaute über die Gräber und grübelte über das Mädchen mit den lackierten Nägeln nach. Ihr Begräbnis war das letzte, an dem er vor dem von David Olson teilgenommen hatte. Außer dem Priester war er der einzige Trauergast gewesen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, das Mädchen in dem schlichten, von der Stadtverwaltung bereitgestellten Sarg zur letzten Ruhe zu betten. Also hob er etwas von seinem Ersparten ab und kaufte das Beste, was sich ein ehrlicher Cop mit seinem Gehalt leisten konnte. Nach der Bestattung fuhr er nach Hause und saß allein in seiner Wohnung. Er sehnte sich danach, seine Mutter anzurufen, die schon vor vielen Jahren gestorben war. Er hätte gern seinen Vater zu einem Drink eingeladen, doch sein Vater war ebenfalls tot, genau wie seine Tante, die gleich nach dem Highschool-Abschluss des Sheriffs das Zeitliche gesegnet hatte. Er war ein Einzelkind. Der Einzige aus seiner Familie, der noch lebte.
Den Rest hatte Gott zu sich geholt.
Wenn man Gott festnehmen würde, würden die Leute die Todesstrafe für Ihn fordern?
Nach der Beisetzung verabschiedete sich der Sheriff von Ambrose und Kate und fuhr direkt zum Missionswald. Dort lag die Lösung des Rätsels. Er war sich sicher. Er stellte den Streifenwagen ab und marschierte an den Bulldozern der Baufirma Collins vorbei. Der Richter (seit dreißig Jahren Mr. Collins’ Golfkumpel) hatte dem Unternehmen eine »befristete« Erlaubnis zur Fortsetzung der Arbeiten erteilt, unter der Auflage, dass am Fundort der Leiche nichts verändert wurde. Die Befristung war genau so datiert, dass die Firma ihren Zeitplan einhalten konnte. Wie schön für Mr. Collins. Der Wachmann berichtete dem Sheriff, dass sie seit dem Blizzard ein großes Areal Bäume abgeholzt hatten. Bis Weihnachten sollten die meisten Bäume verschwunden sein.
Die Frage war, wer David Olson begraben hatte.
Denn die Bäume waren es bestimmt nicht.
Der Wachmann erzählte weiter, dass die Bulldozer viel Erde aufgewühlt hatten. Und dass die Bauarbeiter immer wieder seltsame Dinge fanden. Zum Beispiel eine alte Bügelsäge, wie sie noch von den Amischen benutzt wurde. Verwitterte Hämmer und rostige Nägel. Mehrere kaputte Schaufeln, eine mit verbranntem Schaft. Werkzeug, dessen Ursprung bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichte – in die Zeit, als England zur Begleichung einer Schuld den ganzen Staat Pennsylvania an William Penn überschrieben hatte.
Mindestens hundert Jahre, bevor Menschen mit dem Abbau von Kohle begannen.
Der Sheriff inspizierte die Sammlung alter Werkzeuge. Sägen, Hämmer und Schaufeln. Und auf einmal kam ihm eine Idee. Er spürte es. Ein Jucken in seinem Gehirn. Handfest wie ein Kratzen am Kopf.
Wozu diente dieses Werkzeug?
Der Sheriff ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Hier lag die Antwort.
Diente es zum Bauen?
Der Sheriff folgte dem schmalen Pfad.
Oder zum Vergraben?
Der Sheriff erreichte die Lichtung.
Oder zum Morden?
Auf der Lichtung war es still. Fast als würde der Wald den Atem anhalten. Der Sheriff blickte auf. Und da war es. Das Baumhaus. Oben in dem alten Geäst.
Die Frage war, wer David Olson begraben hatte.
Denn die Bäume waren es bestimmt nicht.
Der Sheriff näherte sich dem Baum und spähte hinauf. Durch die Wolken fielen Sonnenstrahlen und tauchten den Frost auf den Ästen in einen goldenen Schimmer. Und sofort stand ihm der Gedanke vor Augen, klar wie die Sonne.
Wenn man Gott festnehmen würde, würden die Leute die Todesstrafe für Ihn fordern.
Der Sheriff starrte nach oben zum Baumhaus. Wie ein Wispern bewegte sich der Wind in seinem Haar.
Und weil die Leute Gott nicht umbringen konnten, töteten sie stattdessen Seinen Sohn Jesus.
Ein Hirsch stapfte auf den Sheriff zu.
Starb Jesus für unsere Sünden?
Oder für die Sünden Seines Vaters?
Er klammerte sich an diese Frage wie ein Raucher an sein letztes Streichholz.
Jesus wurde nicht als Märtyrer getötet.
Sondern als Komplize.
Die Antwort lag ihm auf der Zunge.
Jesus hat uns verziehen, dass wir Ihn getötet haben.
Sein Vater hat uns nie verziehen.
Der Sheriff hielt inne. Gleich würde er durchschauen, wie das alles zusammenhing. David Olson. Das alte Werkzeug. Der Missionswald. Die Lichtung. Die Wolken. Alles ineinander verschlungen wie die Wurzeln um David Olsons Skelett. Eine Sekunde noch, dann würde er verstehen, wie David Olson ums Leben gekommen war.
Da auf einmal hörte er das Weinen eines Babys.
Direkt aus dem Baumhaus.