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Brady Collins erwachte in seinem Bett. Als er Fieber bekam und nicht zur Schule gehen konnte, hatte ihn seine Mutter endlich aus der Hundehütte herausgelassen. Sie fragte, ob er sich wieder wie ein anständiger Mensch benehmen wollte, und er hatte Ja gesagt. Sie saßen zusammen am Tisch und frühstückten. Sein Vater beschwerte sich über den »Scheißsheriff«, der das ganze Projekt Missionswald aufhielt, obwohl bald die Kredite fällig wurden. Wenn das Projekt absoff, war die Familie bankrott. »Und du kannst nichts anderes, als das Geld zum Fenster rausschmeißen, Kathleen!« Während sein Vater gegen den kleinen Teich wetterte, den er für den Pazifik hielt, beendete Brady sein Frühstück. Den Rest des Tages verbrachte er im Bett. Er verschlief das Mittag- und das Abendessen, nur unterbrochen von einer ausgiebigen Pinkelpause, die süß roch wie Babyaspirin. Als er das nächste Mal erwachte, war er schweißgebadet. Das Fieber war gesunken, nur das Jucken am Arm war schlimmer als zuvor. Brady schaute auf den Wecker. Das Datum stimmte. Der 18. Dezember. Doch die Zeit war völlig falsch. Mehr als sechzig Minuten gab es nicht. Vielleicht schlief er ja noch. Vielleicht war er noch in diesem Albtraum. In dem ihn seine Mutter von der Straße gelockt und ihn getötet hatte, während Special Ed dazu lachte.
Brady trat vom Korridor in das Schlafzimmer seiner Eltern. Wenn sie schliefen, waren sie viel netter. Der Nachttisch seines Vaters war übersät mit Geschäftsunterlagen. Der Nachttisch seiner Mutter war übersät mit Einladungen und Dankeskarten. Auch ihr Brieföffner lag dort. Er war aus reinem Silber und hatte sehr viel gekostet. Einmal hatte sie die alte Haushälterin hinausgeworfen, weil die ihn angeblich gestohlen hatte. Doch dann stellte sich heraus, dass seine Mutter ihn bloß verlegt hatte. Als sie ihn eine Woche später fand, holte sie die Haushälterin nicht zurück, weil die neue aus dem Nahen Osten stammte und für weniger Geld mehr arbeitete. So war das eben bei verzweifelten Menschen, erklärte sie einer Freundin am Telefon. Brady hob den Brieföffner hoch und betrachtete die Spiegelung des Mondes im Silber. Wie eine lächelnde Zahnreihe. Brady steckte ihn in den Morgenmantel. Dann kniete er sich hin und fasste nach der Hand seiner Mutter. Das Jucken an seinem Arm erhitzte sich. Es wurde warm und weich wie das Lächeln seiner Mutter, wenn sie ihn lieb hatte. Er legte sich ihre Hand auf den Kopf und stellte sich vor, sie würde ihn tätscheln und ihn loben, weil er brav war. Braver Junge, Brady. Das fühlte sich viel besser an als die Albträume, in denen sie ihn umbrachte, während Special Ed dazu lachte. Immer mit den gleichen Worten.
»Du bist so ein kleiner Mistköter, Brady. Du gehörst wirklich abgemurkst.«
2:17 Uhr
Special Ed zog die Pistole unter dem Kissen hervor. So viel Angst hatte ihm der Albtraum gemacht. Er und seine Freunde waren auf der Straße und spielten Baseball mit neuen Handschuhen. Aber die Autos fuhren immer schneller und wurden von Hirschen gejagt. Seine Mutter streckte den Arm aus, um ihn von der Straße zu holen, doch gerade als er die Hand seiner Mutter nahm, tauchten wie aus dem Nichts Brady Collins und Jenny Hertzog auf und stachen sie nieder. Ihr Blut rann auf die Straße, und Brady leckte es mit seiner spitzen Schlangenzunge auf wie ein Hund. Da fuhr Special Ed aus dem Schlaf. Er war von oben bis unten schweißbedeckt. Das Fieber war gesunken. Egal wie oft er untertags das Kissen gewendet hatte, das Fieber an der Stirn war nicht verschwunden. Doch jetzt spürte er nur noch das Jucken am Arm. Er starrte auf das fast leere Magazin und kratzte sich mit dem Lauf am Arm. Sosehr er auch kratzte, der Arm juckte weiter. Und er dachte weiter. An eine ganz bestimmte Sache.
Du brauchst mehr als eine Patrone. Hör auf Grandma.
Special Ed stand auf und tapste nach unten. Er trat ins Arbeitszimmer, holte sich einen schönen Ledersessel und hielt das Ohr an den metallisch kalten Waffensafe seines Vaters. Er fing an, Kombinationen aus drei Ziffern einzustellen. 1-1-1. 1-1-2. 1-1-3. Er drehte die ganze Nacht. Denn der Krieg stand bevor, und die Guten mussten gewinnen. Als die Morgendämmerung kam, unterbrach Special Ed seine Suche bei 2-1-6 und ging zu seiner Mutter ins Schlafzimmer. Sie war allein. Er war unendlich erleichtert, dass sie noch lebte. Er hielt ihre Hand. Das Jucken wanderte durch seine Finger zu ihren. Langsam öffnete Special Eds Mutter die Augen. Schläfrig schaute sie ihn an und lächelte. »Was hat denn mein Eddie?«
»Nichts, Mom. Mir geht’s viel besser.«
»Gut, ich hab dich lieb. Ich hab dir ein Stück Kuchen in den Kühlschrank gestellt.« Sie tätschelte ihm den Kopf, schloss die Augen und driftete wieder weg.
Special Ed wartete, bis sie tief schlief. Dann küsste er sie auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr: »Mom, wie lautet die Kombination von Dads Waffensafe?«
2:17 Uhr
Jenny Hertzog stand vor ihrem schlafenden Stiefbruder. Das Fieber, das sie vom Schulbesuch abgehalten hatte, war abgeklungen. Da war nur noch dieses Jucken, das sich zuckend auf das Messer in ihrer Hand zubewegte. Sie starrte ihren Stiefbruder an. Was hatte er sich geärgert, als jemand mit der Türklingel seine Mutter geweckt und ihm dadurch seinen Nachmittagsspaß verdorben hatte. Der Mondschein machte sein Gesicht käsig bleich. Seine Pickel hoben sich ab wie Sterne am Himmel. Sie fand, dass ihm ein wenig Blut gut stehen würde. Mit seinem Blut konnte sie ihm die Wangen rot schminken wie die Huren in den Filmen, die er sich so gern am Computer ansah. Oder wie ein Clown. Sie nahm das Messer und drückte es ihm sanft mitten in die Handfläche. Er wälzte sich ein bisschen im Bett, ohne aufzuwachen. Jenny schloss die Augen und stieß das Jucken durch den Arm und das Messer in seine Haut. Als sich das Jucken in die schmutzigen Hände ihres Stiefbruders fraß, dachte sie an ihren wunderschönen Traum. Ihre Mutter lebte noch. Und Jennys Vater hatte nie diese abscheuliche Frau mit ihrem noch abscheulicheren Sohn geheiratet. In ihrem Traum lief Jennys Mutter, die einen kleinen Jungen dabeihatte, durch den Garten und machte Jagd auf Christopher. Doch der war zu schnell und lief auf der Straße davon. Jennys Mutter rannte ihm nach, ohne ihn einzuholen. Also kam sie zurück in den Garten und kletterte an der Efeuwand hinauf zu Jennys Zimmer. Sie roch so gut. Wie Chanel No. 5. Sie nahm Jenny in die Arme und hörte sich ihre Geschichten über die Schule und den Tanzunterricht an. Schließlich erklärte sie Jenny, warum sie ihren Stiefbruder Scott nicht erstechen durfte. Weil ein Krieg bevorstand. Und ihre Seite brauchte so viele Soldaten wie nur möglich. Jenny fragte, ob sie Scott nach dem Ende des Kriegs töten konnte. Ihre Mutter antwortete, dass das dann gar nicht mehr nötig sein würde. Sie musste nur hinauf zum Mond schauen, der auf die Erde herunterschien, und ein kleines Gebet sprechen.
»Spül ihn fort, lieber Gott. Spül ihn fort im Hochwasser deiner Flut.«
2:17 Uhr
Mrs. Henderson stand in der warmen Küche und starrte auf die Uhr. Mr. Henderson war endlich heimgekommen. Ohne Erklärung. Ohne Entschuldigung. Trotzdem, jetzt war er zu Hause. Also kochte sie ihm sein Lieblingsgericht, wie sie es in den letzten fünfzig Jahren mehr als tausendmal getan hatte. Er merkte es gar nicht. Es war ihm gleichgültig. Mrs. Henderson fragte ihren Mann, ob er wusste, was heute für ein Tag war. Sie wartete darauf, dass seine Erinnerung den Schleier von ihrem wunderschönen jungen Gesicht hob. Dass er das rote Haar sah, das ihr in der Brautnacht über die Schultern gefallen war. Sie wartete darauf, dass er sich an ihren Hochzeitstag erinnerte. Doch er tat es nicht.
Weil er dich nicht mehr liebt.
Mrs. Henderson wollte Mr. Henderson küssen wie damals, doch er stieß sie weg. Und sie brach in Tränen aus, als er ihr erklärte, dass er keine Lust mehr hatte, sie zu küssen. Ohne es zu wissen, hatte sie ihren Mann gerade zum letzten Mal geküsst. Fünfzig Jahre hatte sie ihm geschenkt. Mrs. Henderson trat zum Küchentresen und betrachtete ihr Spiegelbild im Fenster. Sie war mehr als hässlich. Sie war unsichtbar. Ihr Mann hatte ihr die Jugend genommen, und sie hasste die Schlangenhaut, die ihr geblieben war. Es war ihr letztes Jahr als Lehrerin. Am Ende des Schuljahres war nichts mehr übrig. Keine Schule. Keine Arbeit. Kein Mann. Keine Kinder. Nur noch die Wände hier. Sie kratzte sich am Kopf. O Gott, dieses Jucken hörte einfach nicht auf. Warum hörte es nicht auf?
Mrs. Henderson stand hinter ihrem Mann. Sie fragte sich, ob er sich umdrehen und etwas zu ihr sagen würde. Doch er aß einfach weiter, als wäre nichts. Beim Kauen gab er seine typischen Njam-Laute von sich. O Gott, dieses Gekaue. Dieses entsetzliche Gekaue. Dieses Ächzen, wenn er seine Lieblingsspeise aß. Wusste er denn nicht mehr, dass sie seine Mutter hatte fragen müssen, wie man dieses Gericht zubereitete? Wusste er nicht mehr, dass eine hinreißende junge Frau mit einer prächtigen roten Mähne wie eine Sklavin geschuftet hatte, um dieses Gericht zu perfektionieren, das er in sich hineinschlang wie ein räudiger Hund? Glaubte er vielleicht, dass ihm die Männer, mit denen er sich herumtrieb, so etwas kochen würden?
Dreh dich lieber um. Frag mich lieber, wie es mir geht.
Mr. Henderson drehte sich nicht um.
Mrs. Henderson dachte so laut, dass sie nicht verstand, wie er sie nicht hören konnte.
Wenn du jetzt nach der Zeitung greifst, zeige ich dir, was es heißt, wenn die Erinnerung den Schleier von meinem Gesicht hebt.
Mr. Henderson griff nach der Zeitung.
Na schön, du liest also Zeitung. Schauen wir mal, was die Steelers machen, während hinter dir deine Frau weint. Aber weißt du was? Deine Frau weint jetzt nicht mehr. Ist dir aufgefallen, dass ich nicht mehr weine? Hast du eine Ahnung, was in deinem Rücken vorgeht? Glaubst du, dein unscheinbares Frauchen wartet bloß darauf, dass du sie mit irgendwelchen Krümeln abspeist, die du Liebe nennst? Dreh dich einfach um, dann wirst du erleben, wer dein unscheinbares Frauchen wirklich ist. Dreh dich um, dann wirst du merken, dass ich nicht unsichtbar bin. VERDAMMT, ICH BIN EINE HINREISSENDE FRAU, UND ICH VERDIENE DEINEN RESPEKT.
»Schatz?«, flüsterte Mrs. Henderson liebevoll.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, knurrte ihr Mann.
Er drehte sich um, und sie bohrte ihm das Küchenmesser mitten durch den Hals.