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Mary Katherine erwachte in kaltem Schweiß. Ihr Fieber war gesunken, trotzdem fühlte sie sich körperlich nicht gut. Eigentlich sogar schlechter. Aufgebläht. Die Gelenke taten ihr weh. Ihre Brüste waren empfindlich. Das Jucken am Arm trieb sie in den Wahnsinn. Und ihr war leicht übel. Wahrscheinlich weil sie den ganzen Tag im Bett geschlafen hatte, ohne etwas zu essen.
Oder es lag an dem Traum.
In ihrem Traum war es noch vor drei Tagen. Und nichts von den schrecklichen Ereignissen danach war eingetreten. Sie passte auf Christopher auf. Sie entdeckte ihn im Baumhaus und fuhr nach Hause. Doch diesmal drehten sich ihre sündigen Fantasien nicht um den Sheriff. Und sie nahm auch nicht Dougs grässliches Ding in den Mund. Sie wachte nicht im Baumhaus auf, ohne sich zu erinnern, wie sie dort hingekommen war. Sie kam nicht um acht Uhr früh nach Hause, wo ihre Eltern kochend vor Wut im Wohnzimmer saßen. Und sie bekam nicht während ihrer Prüfungstage 39 Grad Fieber, weil sie die ganze Nacht in einem eiskalten Baumhaus verbracht hatte. In ihrem Traum war das alles nicht passiert.
Weil die Jungfrau Maria eingegriffen hatte.
In ihrem Traum war Mary Katherine wieder in ihrem Zimmer. Und als die sündigen Gedanken anfingen, hörte sie ein Klopfen an der Glasscheibe. Sie drehte sich um und sah eine Frau, die vor dem Fenster schwebte.
»Bitte lass mich ein, Mary Katherine«, wisperte die Frau.
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Weil dich deine Eltern nach mir benannt haben.«
»Ich dachte, ich bin nach der Jungfrau Maria benannt.«
Die Frau schwieg. Sie lächelte nur und wartete, bis aus zwei und zwei vier wurde. Mary Katherine musterte ihr Gesicht. Die Frau sah nicht aus wie ein Engel. Nicht wie all diese Gemälde und Statuen, die Mary Katherine aus Kirchen kannte. Sie trug keine Schminke. Ihre Frisur war nicht perfekt. Sie war eine schlichte Frau. Arm und würdevoll. Mit Schmutz an den Kleidern von der Geburt im Stall. Sie war real.
»Bitte öffne mir, Mary Katherine.«
Mary Katherine trat ans Fenster und schob langsam den Riegel hoch. Die eisige Dezemberluft traf auf ihr weißes Baumwollnachthemd. Sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut.
»Ich danke dir. Da draußen ist es so kalt. Und niemand wollte mir helfen.« Zitternd ließ sich die Frau in Mary Katherines weißem Korbstuhl nieder.
Mary Katherine nahm die zusätzliche Decke vom Fuß ihres Betts und gab sie ihr. Die Frau fasste nach ihren Händen. Sie war eiskalt, doch durch ihre Finger lief ein warmes Jucken.
»Was machst du hier?«, fragte Mary Katherine.
»Ich bin hier, um dich zu retten, Mary Katherine.«
»Wovor?«
»Vor der Hölle natürlich.«
»Oh, bitte, ja! Was muss ich tun, damit ich nicht in die Hölle komme?«
Lächelnd öffnete die Frau den Mund. Doch als sie sprach, drangen keine Worte heraus.
Mary Katherine hörte bloß das Weinen eines Babys.
Da wachte sie auf.
Mary Katherine setzte sich im Bett auf. Der Traum beschäftigte sie noch kurz. Dann brachen die Erinnerungen über sie herein. Ihre abscheulichen sexuellen Fantasien. Dougs Ding in ihrem Mund. Das Erwachen im Baumhaus und die Ankunft zu Hause bei ihren Eltern, die noch nie im Leben so enttäuscht worden waren. Mary Katherines Gesicht brannte vor Scham. Und in ihrem Bauch brodelte es, als wollte es gar nicht mehr aufhören.
Sie fühlte sich, als müsste sie sich gleich übergeben.
Mary Katherine eilte ins Bad. Sie klappte die Toilette hoch und kniete davor wie vor einem Altar. Sie würgte, doch nichts kam hoch. Sie hatte kein Essen im Magen. Nur dieses Brodeln. Kurz darauf verschwand die Übelkeit.
Bloß der Geschmack war noch da.
Mary Katherine nahm die Mundspülung aus dem Medizinschränkchen. Sie füllte den Deckel bis zum Rand und kippte sich die blaue Flüssigkeit hinein, wie es ihr irischer Großvater an Weihnachten mit Whiskey sour gemacht hatte. Wie ein kalter blauer Ozean schwappte es durch ihren Mund.
Dann wurde es allmählich warm.
Die Hitze legte sich auf ihre Zunge wie das Jucken auf ihren Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen, als die Sekunden zu Minuten wurden, doch sie hörte nicht auf. Sie konnte nicht. Obwohl die Spülung brannte wie die Hölle, wagte sie es nicht, das Zeug auszuspucken. Sie hielt die Lippen geschlossen und bat Gott, alles von ihr zu nehmen. Ihr den Geschmack von der Zunge zu brennen wie eine von der Zeit ausgelöschte Erinnerung.
Lass mich vergessen.
Lass mich wieder ein Kind sein.
Lass mich Dougs Ding vergessen.
Lass mich vergessen, dass es mir gefallen hat.
Schließlich gewann ihr Körper, und sie spuckte die Flüssigkeit keuchend vor Schmerz aus. Sie verließ das Bad und schlich zu ihren Eltern, die in ihrem Doppelbett schliefen. Sie sehnte sich danach, zwischen sie zu kriechen, wie sie es als kleines Kind immer getan hatte. Sie kniete sich vor ihren Vater und nahm seine Hand. Mit geschlossenen Augen bat sie ihn um Vergebung. Das Jucken wanderte durch ihre Finger zur Hand ihres Vaters. Er regte sich kurz, dann drehte er sich um und begann zu schnarchen.
In den restlichen Nachtstunden schrieb sie ihren Aufsatz für die Notre Dame, den Aufsatz über die Mutter Jesu, die Jungfrau Maria. Wenn sie es auf die Notre Dame schaffte, würden ihre Eltern ihr bestimmt verzeihen.
Am Morgen kam ihre Mutter herunter und machte Frühstück. Mary Katherine versuchte, eine Unterhaltung anzufangen, doch ihre Mutter wollte nicht mit ihr reden. Sie teilte ihr lediglich mit, dass sie zur Schule gehen und ihre ehrenamtliche Tätigkeit im Shady Pines verrichten durfte. Danach musste sie sofort wieder nach Hause.
»Keine Freundinnen. Kein Doug. Nichts.«
»Ja, Mom. Es tut mir leid. Wo ist Dad?«
»Im Bett. Er fühlt sich heute Morgen nicht wohl.«
Mary Katherine fuhr im Bus zur Schule. Sie schaute hinauf zum Himmel und bemerkte die herrlichen Wolken, die dort oben schwebten. Ihr fiel ein Vers ein, den sie bei Mrs. Radcliffe im KU gelernt hatte.
Wolken geben Regen
Gott gab uns die Flut
Maria gab uns ihren Sohn
Jesus gab Sein Blut
Als sie an der Schule ausstieg, wartete Doug draußen auf sie. Er war der Letzte, mit dem sie in diesem Moment reden wollte. Schon von seinem Anblick wurde ihr schlecht. Also schlich sie sich durch den Seiteneingang und versteckte sich zehn volle Minuten lang unter der Treppe, während oben die Welt vorüberzog.
Beim Läuten der Glocke lief Mary Katherine los. Sie war zu spät dran zur ersten Stunde. In den vergangenen zwei Tagen war sie so mit ihrem Leben beschäftigt gewesen, dass sie die heutige Abschlussprüfung in Geschichte völlig vergessen hatte. Ihre letzte Prüfung vor den Weihnachtsferien. Sie brauchte die bestmögliche Zensur für ihren perfekten Notendurchschnitt. Sie brauchte sie für die Notre Dame. Und die Notre Dame brauchte sie, damit ihre Eltern ihr verziehen.
Sosehr Mary Katherine auch versuchte, sich auf die Prüfung zu konzentrieren, sie nahm nur die Schmerzen in ihrem Körper wahr. Das Jucken an ihrem Arm forderte kreischend Aufmerksamkeit. Und sie verstand einfach nicht, woher dieses Ziehen in ihren Brüsten kam. Ging es etwa allen Mädchen nach oralem Sex so? Sie wusste es nicht. Und sie wagte nicht, im Internet nachzuforschen, weil ihre Eltern ihren Suchverlauf kontrollierten. Auch einen Computer in der Bibliothek konnte sie nicht benutzen, weil die Verwaltung alles überwachte, seit einige Jungen dort Pornos heruntergeladen hatten. Sie hätte sich gern an einen psychologischen Berater gewandt, aber die waren nur für Mädchen mit Problemen und einem gewissen Ruf zuständig. Für Mädchen wie Debbie Dunham. Mary Katherine hatte noch nie Probleme gehabt. Zumindest bis jetzt.
Erneut hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Irgendwie schaffte sie es, die Prüfung zu beenden und den Tag hinter sich zu bringen. Sie ließ das Mittagessen ausfallen und klatschte Dougs SMS-Nachrichten weg wie Fliegen. Nach der Schule wurde sie zu Hause von eisigem Schweigen begrüßt. Ihre Eltern teilten ihr lediglich mit, dass sie zur Kirche fahren wollten.
»Willst du mitkommen, oder möchtest du lieber in der Hölle schmoren?«, fragte ihr Vater.
Auf dem Weg zur Kirche sagte Mary Katherine kein einziges Wort. Trotz ihres Unwohlseins ließ sie sich pflichtbewusst auf der harten Bank nieder. Sie hatte keine Ahnung, warum Father Tom am Donnerstagabend eine Messe angesetzt hatte, doch sie stellte keine Fragen. Seit ihrer Geburt hatte Mary Katherine das Gotteshaus an zweiundfünfzig Sonntagen im Jahr besucht (außerdem an Heiligabend, an Weihnachten, am Karfreitag, am Aschermittwoch und zum KU). Trotzdem begriff sie erst jetzt, dass sie die Menschen, die am Abend hierherkamen, wenn alle anderen in der Geborgenheit ihres Zuhauses waren, nie wirklich wahrgenommen hatte. Im Grunde wusste sie gar nicht, dass sie überhaupt existierten. Doch da waren sie. Einige gekleidet wie Obdachlose. Andere zankten sich miteinander. Wieder andere wirkten ein wenig schrullig. Oder krank. Also schenkte Mary Katherine der Predigt von Father Tom besondere Beachtung. Als er die Gemeinde aufforderte, für die Flüchtlinge im Nahen Osten zu beten, damit nicht wieder ein Krieg ausbrach, blendete Mary Katherine alle störenden Gedanken über die Notre Dame, Doug und ihre Eltern aus und flehte um die Erlösung dieser armen Menschen.
Beim Glaubensbekenntnis sah sie Mrs. Radcliffe mit dem Sammelkorb herumgehen. Mary Katherine erinnerte sich an die vielen Jahre im KU. Immer wieder hatte Mrs. Radcliffe ihren Eltern erzählt, was für eine gute Schülerin sie war. So ein braves kleines Mädchen. Sie sehnte sich danach, wieder dieses Mädchen zu sein. Das Mädchen, das im weißen Kleid zum ersten Mal die heilige Kommunion empfing. Das Mädchen, das von Mrs. Radcliffe erfuhr, dass die Hostie der Leib Christi und der Wein Sein Blut waren. Das Mädchen, das die Jungen aufforderte, sich nicht über Mrs. Radcliffe lustig zu machen, die mit ihrem großen Busen über die Tafel gestreift war und für den Rest der Stunde zwei vollkommen runde Kreidescheinwerfer an der Bluse hatte.
Als Mrs. Radcliffe mit dem Sammelkorb zu ihrer Reihe kam, gab ihr Mary Katherine alles Geld, das sie dabeihatte.
»Danke für Ihren Religionsunterricht, Mrs. Radcliffe.« Mary Katherine lächelte sie an.
Mrs. Radcliffe erwiderte das Lächeln nicht.
Sie kratzte sich nur am Arm.
Jetzt begann der Ritus. Father Tom sprach das Vaterunser mit der Gemeinde. Zusammen mit ihren Eltern erhob sich Mary Katherine, um die Kommunion zu empfangen, und spürte im selben Moment einen furchtbaren Klumpen in der Magengrube. Mary Katherine erreichte die Spitze der Schlange und stand mit offenen Händen vor Father Tom.
»Der Leib Christi«, murmelte er.
Mary Katherine legte sich die Hostie in den Mund. Sie machte das Kreuzzeichen und kaute sie, wie sie es seit ihrem siebten Lebensjahr zweiundfünfzigmal im Jahr getan hatte. Doch diesmal schmeckte die Hostie nicht nach schalem Styropor.
Sie schmeckte nach Fleisch.
Mary Katherine hörte auf zu kauen. Sie blickte auf und bemerkte, dass ihre Eltern sie anstarrten. Am liebsten hätte sie die Hostie ausgespuckt, doch das wagte sie nicht. Sie ging weiter zu Mrs. Radcliffe, die den Kelch mit dem Wein hielt. Auch wenn Mary Katherine den Wein normalerweise ausließ, jetzt musste sie diesen Geschmack hinunterspülen. Mrs. Radcliffe reichte ihr den Kelch. Mary Katherine bekreuzigte sich und trank. Aber es schmeckte nicht nach Wein.
Es schmeckte nach Blut.
Mit einem gezwungenen Lächeln hastete Mary Katherine zur Toilette. Sie trat ans Waschbecken und spuckte das Fleisch und das Blut aus. Als sie nachsah, bemerkte sie nur eine Oblate und Wein.
Plötzlich spürte Mary Katherine, wie ihr der Mageninhalt hochkam. Sie lief zur Behindertenkabine. Dort war es immer am saubersten. Sie sank auf die Knie und erbrach die Eier, die sie zu Abend gegessen hatte. Einen Moment lang verharrte sie so und atmete durch. Dann spülte sie und trat wieder ans Waschbecken.
Mit einem rauen Papiertuch wischte sie sich den dünnen Schweißfilm ab, der sich auf ihrer Stirn gebildet hatte. Dann suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Tic Tac, um den abscheulichen Geschmack in ihrem Mund zu vertreiben. Statt einem Minzdragee fand sie ganz unten einen verirrten Tampon.
Da fiel ihr ein, dass ihre Periode zu spät dran war.
Mary Katherine erstarrte. Sie dachte an ihre Schmerzen. An ihre empfindlichen Brüste. An die schlimme Übelkeit am Vormittag und gerade eben. An das Brodeln in ihrem Magen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie darauf getippt, schwanger zu sein. Nach dem ersten großen Schreck, den ihr diese Vorstellung einjagte, beruhigte sie sich schnell wieder. Sie konnte
nicht schwanger sein. Es war unmöglich.
Schließlich war sie Jungfrau.
Und Jungfrauen wurden nicht schwanger.
Das wusste doch jeder.