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Mary Katherine betrachtete das Bild von Jesus an ihrer Wand und sprach ein Gebet.
Sie wusste, dass sie für den Rest ihres Lebens Hausarrest bekommen würde, wenn ihre Eltern sie erwischten, doch sie hatte keine andere Wahl. Sie durfte das Auto nicht mehr benutzen. Und ihr fiel kein überzeugender Vorwand für einen Besuch in der Apotheke ein. Die Worte von Mrs. Keizer hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Du riechst falsch. Du bist schmutzig. Dieses Mädchen ist schmutzig!«
Mary Katherine zog ihre Jeans unter dem Nachthemd hoch. Als sie den Knopf schloss, fiel ihr auf, dass er ein wenig eng saß. Hoffentlich hatte sie bloß zugenommen. Bitte, lieber Gott, ich hab doch bloß zugenommen, oder?
Sie schlüpfte aus dem Nachthemd und streifte ihre Highschool-Jacke über, die sie für das Spielen der Flöte in der Blaskapelle bekommen hatte.
Sie trat zum Bett und stopfte das Kissen unter die Decke, damit es aussah, als läge sie dort. Dann griff sie nach ihrem Sparschwein. Das hatte sie von Grandma Margaret vor ihrem Tod bekommen. Eigentlich fand sie es albern, dass sie das Ding noch immer benutzte. Schließlich war sie kein Kind mehr. Doch es war das letzte Geschenk ihrer Großmutter, und deswegen hätte sie es nicht guten Gewissens weggeben können.
Sie nahm alles Geld heraus, auch die Münzen.
Sie legte ihren Lohn vom Babysitten dazu.
Zusammen hatte sie ungefähr 43 Dollar.
Das musste reichen.
Mary Katherine trat aus dem Zimmer. Sie stahl sich durch den Korridor und verharrte vor der Tür des Schlafzimmers. Auf der anderen Seite war alles still. Sie lauschte, bis sie ihren Vater schnarchen hörte. Dann stieg sie lautlos hinunter, zog den Autoschlüssel von dem Ring unter dem Porträt von Jesus und trat hinaus auf die Einfahrt. Sie ließ den Wagen an. Ganz leise. Sie wartete nicht auf die Heizung. Schnell stieg sie ein, und die Hände froren ihr fast ans Lenkrad. Dann erwärmte ihr Fieber allmählich das Leder.
Sie wusste nicht, wo sie hinfahren sollte. Das Rite Aid in der Nähe des South Hills Village kam nicht infrage, weil man sie dort vielleicht erkannt hätte. Und im Giant Eagle, wo die andere Apotheke war, arbeitete Debbie Dunham. Eine Begegnung mit Leuten aus der näheren Umgebung konnte sich Mary Katherine nicht leisten.
Also entschied sie sich für die Route 19.
Weit weg von Mill Grove.
Mary Katherine fuhr durch die Liberty Tunnels, links die Lichter des Zentrums, rechts das Gefängnis. Über diese Brücke war sie zum Mercy Hospital gelangt, als ihre Großmutter starb. Ihre Großmutter hatte ihr viel Geld hinterlassen, das sie nie zu sehen bekam. Es war für die Notre Dame, erklärte ihr Dad. Deshalb hatte sie nur ihr Sparschwein. Sie wusste nicht mal den Mädchennamen ihrer Großmutter. Warum erinnerte sie sich gerade jetzt so oft an sie? Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie in letzter Zeit kaum noch an sie gedacht hatte.
Mary Katherine wechselte auf den Highway 376 und nahm die Abfahrt an der Forbes Avenue nach Oakland, wo die Colleges waren. Die Pittsburgh University und die Carnegie Mellon University. Dort kannte sie niemand. Sie fuhr, bis sie eine Apotheke bemerkte, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Sie hielt auf dem Parkplatz und starrte gute fünf Minuten auf das Gebäude, um eine Begegnung mit Bekannten auszuschließen. Sie sah nur die Überwachungskameras. Also setzte sie sich eine dicke Wollmütze und eine Sonnenbrille auf, die noch immer roch wie der Familienausflug nach Virginia Beach. Wie einfach das Leben damals gewesen war. So warm und sonnig. Sie hatte keine Sünde begangen, und ihre Eltern waren nicht böse auf sie gewesen.
Die automatische Tür öffnete sich für sie wie der Schlund eines Wals.
Mit klopfendem Herzen betrat Mary Katherine die Apotheke. Sie wusste nicht, in welcher Abteilung sie suchen sollte. In so einer Situation war sie noch nie gewesen.
»Kann ich dir vielleicht behilflich sein?«, fragte die Verkäuferin.
»Nein danke. Ich finde mich schon zurecht«, antwortete Mary Katherine.
In ihren Schläfen brauste es. Sie weiß es. Sie weiß es.
Möglichst beiläufig schlenderte Mary Katherine durch den Gang. Sie blieb stehen und begutachtete eine Tüte mit festlichem Gebäck. Dann stöberte sie in den Weihnachtskarten. Als Nächstes hielt sie vor einem Bücherregal und überflog die Titel. Am Ständer für die Erkältungsmedikamente fiel ihr auf, dass er völlig leer geräumt war. Anscheinend war die Grippe inzwischen überall. So oder so, sie hatte im Moment andere Sorgen. Schließlich entdeckte sie das Gesuchte gleich neben den Tampons.
Die Schwangerschaftstests.
Sie hatte keine Ahnung, was die guten Marken waren, und sie traute sich auch nicht zu fragen. Also nahm sie einfach die drei teuersten. Am liebsten hätte sie sie geklaut, damit die Dame an der Kasse nichts mitbekam, aber das ging nicht. Sie durfte sich nicht mit einer weiteren Sünde belasten. Allein vom Gedanken an Diebstahl bekam sie ein schlechtes Gewissen.
Schon der Gedanke ist die Tat.
Sie steuerte auf die Kasse zu.
Der Blick der Dame wanderte von den Schwangerschaftstests zu Mary Katherine. Ihr leises Grinsen sprach Bände. »Gut, dass du keine Erkältungsmedizin brauchst, Schätzchen. Alles ratzeputz leer. Grippesaison und so.«
Mary Katherine brachte nur ein stummes Nicken zustande, denn wenn sie gesprochen hätte, wäre sie sofort in Tränen ausgebrochen.
»Und, was sagst du zu den Steelers? Ich glaube, die gewinnen in diesem Jahr alles.«
Mary Katherine hob den Blick zu der Verkäuferin. Sie war so lieb. Fast so lieb wie ihre Großmutter.
»Danke, Schätzchen. Frohe Weihnachten wünsch ich dir.«
»Frohe Weihnachten, Ma’am.«
Die Frau tippte die Tests ein und legte sie in eine Tüte. Mary Katherine gab ihr Münzen und zerknitterte Scheine. Sie wartete nicht auf das Wechselgeld.
Als Mary Katherine die Apotheke verließ, hielten in der Nähe ein paar Collegestudenten in einem lauten Ford Mustang. Mary Katherine hörte, wie sie mit ihren jüngsten Eroberungen prahlten. Diese »doofe Tussi« aus dem Kappahaus. Und diese »scharfe Schlampe« war so besoffen, dass sie es mit jedem gemacht hätte. Mary Katherine stieg schnell wieder in den Kombi ihrer Mutter und verriegelte die Türen. Sie nahm Mütze und Brille ab und öffnete die erste Packung. Die Anleitung war so klein gedruckt, dass sie sie im Dunkeln nicht lesen konnte. Trotzdem schaltete sie das Licht nicht ein, weil sie Angst hatte, jemand könnte sie beobachten. Sie musste sich einen abgelegenen Ort suchen. Also ließ sie den Motor an und machte sich auf die Rückreise nach Mill Grove.
Unterwegs fiel ihr ein, wie sie früher immer nach dem Heiligabend bei Grandma nach Hause gefahren waren. Das Lachen über den Song »Grandma Got Run Over By a Reindeer«. Wie der Radiosprecher am Ende mitgesungen und dann erklärt hatte, dass über dem Nordpol soeben ein Schlitten gesichtet worden war. Wie sie ihren Dad zur Eile angetrieben hatte, weil sie rechtzeitig ins Bett musste, damit Santa nicht böse wurde und ihr Haus ausließ.
Bitte, Daddy, fahr schneller.
Mary Katherine fuhr, vorbei am Gefängnis, durch die Liberty-Röhren, durch Dormont und St. Lebanon und schließlich zurück nach Mill Grove. Sie bog von der Route 19 ab und tuckerte durch die Vorstadtstraßen, bis sie schließlich eine völlig abgelegene Stelle fand.
Direkt am Missionswald.
Mit einem Blick durch die beschlagene Windschutzscheibe überzeugte sich Mary Katherine, dass niemand da war. Sie bemerkte nur die Bulldozer und Geräte der Baufirma Collins. Keine Wachleute. Keine Kameras. Sie hatte nichts zu befürchten.
Mary Katherine zog die Anleitung heraus. Sie faltete sie ordentlich auseinander und las alles, bis sie zur spanischen Übersetzung gelangte. Als ihr klar wurde, was sie für den Test tun musste, konnte sie es schier nicht fassen.
Auf einen Streifen pinkeln?
Es fehlte nicht viel, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. So was Widerliches! Warum war alles im Zusammenhang mit dem Körper eines Mädchens so erniedrigend? Jungen blieben schön sauber und trocken. Und Mädchen mussten sich mit ihrem ganzen Schmutz abfinden und so tun, als wäre nichts.
Du riechst falsch. Du bist schmutzig.
Mary Katherine war zu Besuch im Haus ihrer Großmutter gewesen, als sie ihre erste Periode bekam. Sie glaubte, sich da unten geschnitten zu haben, und wusste nicht, was sie tun sollte. Also benutzte sie Toilettenpapier. Und als es irgendwann nicht mehr reichte, stahl sie im Bad ihrer Mutter einen Tampon. Sie schämte sich so. Als sie ihn hineinsteckte, fing sie an zu weinen. Irgendwie dachte sie, dass es eine Sünde war. Und als sie ihn später herauszog, traute sie ihren Augen nicht. Da war keine blaue Flüssigkeit auf Löschpapier wie in der Werbung. Es war blutig. Und klumpig. Eklig! Sie war so schmutzig.
Du bist schmutzig. Dieses Mädchen ist schmutzig.
Schließlich öffnete sie die Wagentür. Draußen war es eiskalt. Mary Katherine zog die Jeans herunter und spürte die kleine Delle, die der Knopf in ihrem Bauch hinterlassen hatte. Sie kauerte sich neben das Auto, ließ es laufen und pinkelte auf den Streifen. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Es ist in Ordnung. Du hattest nur ein einziges Mal oralen Sex. Davon kannst du nicht schwanger sein. Das ist völlig unmöglich. Durch den Mund ist noch nie eine Frau schwanger geworden. So funktioniert das nicht, Mary Katherine. Das weißt du doch aus Sexualkunde. Du bist auch nicht schwanger geworden, als dich Doug an der Brust berührt hat. Das ist das Gleiche, oder? Genau.
Wenn ich mich täusche, lieber Gott, lass mich auf dem Heimweg einen Hirsch überfahren.
Mary Katherine schaltete ihr Telefon ein, damit sie Licht hatte. Sie schaute auf den Streifen. Blau hieß, dass sie schwanger war. Weiß hieß, dass sie nicht schwanger war. Laut Anleitung dauerte es ein paar Minuten. Die Sekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit.
Keine Panik. Ja, er hat dir den Pullover mit Sperma vollgemacht, aber davon kannst du nicht schwanger werden. So funktioniert das nicht. Oder? Genau. Auch wenn ich es beim Auswaschen berührt habe. Das war ja schon Stunden später. Kann ich so schwanger werden? Nein, natürlich nicht. Ich war in Sexualkunde. So funktioniert das nicht. Das weißt du ganz genau.
Lieber Gott, wenn ich mich täusche, lass mich auf dem Heimweg einen Hirsch überfahren.
Ihr Blick strich über das Bauareal. Die Bäume wiegten sich im Wind. Ihr Arm juckte so. Überall an der Haut juckte es. Sie zog die Jeans über die eiskalten Beine und setzte sich wieder ins Auto. Nicht einmal das Licht schaltete sie aus. Sie saß bloß da und starrte auf den Streifen. Kratzte sich am Arm. Wartend. Betend.
Bitte, lieber Gott. Mach es weiß. Mach, dass ich nicht schwanger bin. Ich schwöre, dass ich nichts getan habe. Ich hab mich nicht berührt. Ja, ich hab daran gedacht. Und ich weiß, schon der Gedanke ist die Tat. Trotzdem hab ich es nicht getan! Ich habe mich zusammengerissen! Bitte, lieber Gott, hilf mir! Mach es weiß. Ich gehe auch öfter in die Kirche, ich schwöre es. Ich werde bis zum Ende des Jahres im Shady Pines als ehrenamtliche Helferin arbeiten. Ich werde bei Father Tom die Beichte ablegen. Ich werde meinen Eltern gestehen, dass ich heute Nacht rausgeschlichen bin. Bitte, lieber Gott. Ich tu alles. Aber mach es weiß.
Mary Katherine sah nach unten.
Der Streifen war blau.
Sie fing an zu schluchzen.
Mary Katherine war schwanger.