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Aripiprazol.
Christophers Mutter hielt das Arzneifläschchen in der Hand. Sie konnte den Namen des Medikaments kaum lesen. Nachdem der Kinderpsychiater eine Stunde mit Christopher verbracht hatte, erklärte er ihr, dass sie es als Erstes damit probieren sollten. Es war bei Kindern und Jugendlichen erprobt und wies eine ausgezeichnete Erfolgsbilanz auf.
»Und was ist das?«, fragte sie.
»Ein Antipsychotikum.«
»Christopher ist nicht psychotisch.«
»Mrs. Reese, ich verstehe Ihre Gefühle, aber Ihr Sohn hat eine Stunde lang nicht mit mir geredet, weil …« Er griff nach seinen Notizen und las daraus vor. »Weil die zischende Lady zuhört. Ich behandle schon seit drei Jahrzehnten psychische Erkrankungen bei Kindern und kann Ihnen versichern, dass Hilfe für Ihren Sohn möglich ist. Dafür brauche ich bloß Ihre Mitwirkung.«
Christophers Mutter hatte Mühe, sich zu konzentrieren, während der Arzt mit geflüsterten Begriffen wie Schizophrenie, bipolare Störung und klinische Depression andeutete, dass sie Christopher mit ihrer Loyalität unterstützen konnte, nicht aber mit der Leugnung seines potenziellen Problems. Trotzdem beharrte sie eisern darauf, dass der Arzt unrecht hatte.
Bis er sie zurück ins Krankenzimmer führte.
Der Anblick war schockierend. Bleich wie ein Gespenst saß Christopher im Bett. Mit fast schon katatonischer Langsamkeit blinzelte er und leckte sich über die trockenen Lippen. Seine Augen waren stumpf wie Kohlestücke. Sie hatte den Eindruck, dass er sie nicht ansah, sondern vielmehr an ihr vorbei. Durch sie hindurch. Durch die Wand hinter ihr. Und sie musste ständig an Christophers Vater denken. Sie hatte einen gesunden, attraktiven Mann kennengelernt. Und fünf Jahre später brabbelte er wirres Zeug vor sich hin, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Damals hätte sie alles gegeben, um das richtige Medikament für ihn zu finden. Wenn sie dieses Medikament damals gekannt hätte, dann wäre ihr vielleicht der Tod ihres Mannes erspart geblieben.
Christopher hätte noch immer einen Vater.
»Was macht das Medikament?« Sie hasste jedes Wort, das aus ihrem Mund drang.
»Es hilft bei der Eindämmung manischer Phasen. Und es wirkt gegen Selbstverletzung, Aggression und rasch wechselnde Stimmungen. Sollte es mit dem Aripiprazol nicht klappen, können wir es mit anderen Mitteln probieren. Meiner Meinung nach ist es ein guter erster Schritt, weil die Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Präparaten gering sind.«
»Welche Nebenwirkungen?«
»Am häufigsten kommt es bei Kindern zu Schläfrigkeit.«
Der Kinderpsychiater kratzte sich an der Hand und stellte das Rezept aus. Gleich danach entließ er Christopher aus dem Krankenhaus. Gegen den Willen von Christophers Mutter, die weitere Tests und Erklärungen forderte. In der Notaufnahme hatten sich inzwischen Hunderte von Leuten angesammelt, und die Klinik konnte kein Bett erübrigen für ein verrücktes Kind (und seine, wie die Mienen des Personals andeuteten, womöglich nicht weniger verrückte Mutter).
Beim Verlassen der Einrichtung erschrak Kate, weil sich die Lage so dramatisch verschlechtert hatte. Das Gebäude war inzwischen hoffnungslos überfüllt. Alle Zimmer waren belegt. In den Korridoren bildeten sich lange Schlangen. Sie fragte die Schwester, die Christophers Rollstuhl schob, ob sie so etwas schon einmal erlebt hatte. Die verneinte und meinte dann, dass zumindest noch niemand gestorben war. »Ist ein Wunder«, fügte sie in ihrem gebrochenen Akzent hinzu.
Sie erreichten den Parkplatz, und die Krankenschwester verschwand mit dem Rollstuhl.
Kate Reese war auf sich allein gestellt.
Sie hob Christopher auf den Beifahrersitz und machte sich sofort auf den Weg zum Giant Eagle, um das Rezept einzulösen. Die Vorräte im Krankenhaus waren aufgebraucht. Der Verkehr war fast so psychotisch, wie es ihrem Sohn unterstellt wurde. Die ununterbrochen plärrenden Hupen klangen wie Enten in einem Teich.
Als sie endlich zum Supermarkt gelangte, ging es Christopher so schlecht, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Sie küsste ihn auf die Wange, die sich anfühlte wie heiße Glut. Dann öffnete sie die Autotür, in der Hoffnung, dass die kalte Dezemberluft durch das Fieber drang, das er laut Auskunft der Ärzte gar nicht hatte.
»Kannst du gehen, Liebling?«
Christopher sagte nichts und starrte bloß blinzelnd durch die Windschutzscheibe.
Also half sie ihm heraus und trug ihn wie ein Baby in den Supermarkt. Er war zu groß, um oben im Einkaufswagen zu sitzen. Sie polsterte das Metall mit ihrer Jacke und legte ihn sanft hinein. Dann eilte sie zur Apotheke und legte das Rezept vor.
»Das dauert ein paar Minuten.« Der müde Apotheker kratzte sich an der Hand.
Da sie mit einer längeren Wartezeit rechnete, wollte sich Christophers Mutter im Giant Eagle rasch nach Vorräten für die nächsten ein, zwei Wochen umschauen.
Doch sie fand keine.
Christophers Mutter hatte schon leer gefegte Lebensmittelläden gesehen. Sie war im Land herumgekommen und hatte erlebt, was nach einer Tornado- oder Orkanwarnung in einer Gemeinde ablief. Und manchmal hatte sie sich sogar gefragt, ob die Supermärkte die lokalen Medien nicht sogar zu übertrieben dramatischen Wetterberichten anhielten, um ihre Bestände zu reduzieren.
Aber so etwas war ihr noch nie untergekommen.
Paracetamol, Ibuprofen, Aspirin. Salben gegen Hautausschlag und Juckreiz. Dosensuppen, Trockenfrüchte, Fleisch und Fisch in Büchsen.
Alles weg.
Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte Christophers Mutter geglaubt, dass sich die Stadt auf einen Krieg vorbereitete.
Sie sammelte ein, was sie konnte. Trockenfleisch, Tütensuppen und Getreideflocken. Wenigstens bekam Christopher seine Froot Loops. Sie ging weiter zur Kühlabteilung und packte Käse ein, weil er sich gut hielt. Dann kam sie zur Milch. Emily Bertovich beobachtete alles aus Dutzenden von Bildern. Sie nahm die letzten zwei Plastikkannen Milch.
Kate schielte kurz zum Einkaufswagen, um sich davon zu überzeugen, dass mit Christopher so weit alles in Ordnung war. Er war völlig ruhig, doch bei den Leuten im Laden sah es anders aus. Alle waren gereizt. Stritten sich wegen Kleinigkeiten. Pfiffen die Regalauffüller an, weil nicht genug Artikel da waren.
Nachdem sie alles eingeladen hatte, schob sie den Wagen mit eingezogenem Kopf zur Apotheke, um Christophers Medizin zu holen. Der Apotheker steckte mitten in einer hitzigen Debatte mit einem alten Mann.
»Ich habe gefragt, ob Sie hinten noch Aspirin haben.«
»Was wir haben, ist im Regal«, antwortete der Apotheker grob.
»Können Sie vielleicht hinten …«
»Was wir haben, ist im Regal.«
»Ich brauche mein Aspirin zur Blutverdünnung!«
»Der Nächste!«
Der Alte entfernte sich schäumend vor Wut.
Christophers Mutter fiel auf, dass er sich am Bein kratzte. Sie wandte sich dem Apotheker zu, der mit einem »Was-für-ein-Arschloch«-Blick Christophers Tabletten in eine weiße Papiertüte stopfte.
»Muss er die zum Essen nehmen oder nicht?«, erkundigte sich Christophers Mutter.
»Lesen Sie den Beipackzettel. Der Nächste!«
Nachdem sie das Medikament bezahlt hatte, ging sie mit den Lebensmitteln nach vorn. Eine lange Schlange hatte sich gebildet, weil nur eine Kassiererin da war. Eine hübsche Teenagerin.
Ein Mann in schlammverkrusteten Stiefeln brachte seinen Unmut zum Ausdruck. »Ich warte jetzt schon zwanzig Minuten. Warum macht ihr nicht endlich eine andere Kasse auf, verdammt?«
»Tut mir leid, Sir. Alle sind krank«, antwortete die Angestellte.
»Dann trödel wenigstens nicht so rum, du kleine …«
Ein stämmiger Mann hinter ihm schaltete sich ein. »Hey, vielleicht lässt du mal das Mädchen in Ruhe!«
»Du kannst mich mal!«
»Gern. Weiß bloß nicht, ob dir das so gefällt.«
Ein Wachmann ging dazwischen und trennte die Streithähne.
Christophers Mutter wartete still darauf, dass sich der Sturm wieder verzog.
Der Mann vor ihr in der Schlange drehte sich um und begutachtete den Inhalt ihres Einkaufswagens. Schließlich blieb sein Blick an der Milch hängen, und er zeigte ein fieses Lächeln. »Schöne Kannen.«
Mit bedrohlichen Männern kannte sich Christophers Mutter aus. Bei so einem Kerl gab es nur eine Gangart. »Hey, du kleiner Scheißer. Wenn du irgendwas bei meinem Kind anfasst, brech ich dir die verdammten Finger.«
Der Mann starrte ihr voll in die Augen. »Fotze.«
»Und stolz darauf.« Sie setzte ihr bestes Pokerface auf.
Innerlich kochend, wandte sich der Mann schließlich wieder nach vorn. Christophers Mutter schenkte dem Wachmann ein kokettes Lächeln, damit er in der Nähe blieb. Dann erreichte sie die Spitze der Schlange. Während die Teenagerin ihre Sachen eingab, beobachtete Christophers Mutter, wie der »Kannenmann« auf seinen Geländewagen zusteuerte. Die Kassiererin hustete. Sie sah aus, als hätte auch sie die Grippe. Auf ihrem Namensschild stand DEBBIE DUNHAM.
»Harter Abend, Debbie?«
»Die reinste Hölle«, erwiderte sie ohne eine Spur von Humor. »Der Nächste!«
Christophers Mutter wartete im Laden, bis alle Männer aus der Schlange in ihre Pick-ups gestiegen und weggefahren waren. Natürlich konnte der »Kannenmann« auch umgekehrt sein und ihr irgendwo auflauern. Fern von den Überwachungskameras und vom Licht. Sie kannte solche Situationen und hatte Lehrgeld gezahlt.
Sie hatte ihre Lektion gelernt.
Normalerweise dauerte die Heimfahrt vom Giant Eagle zehn Minuten, doch der Verkehr hatte sich weiter verschlimmert. Der Stau reichte inzwischen fünf Kilometer zurück. Viele Leute drückten ungeduldig auf die Hupe. Fenster glitten nach unten, und Stimmen keiften hinaus in den Abend.
»Jetzt fahrt mal endlich! Na los!«
»Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit, verdammt!«
Als sie schließlich ans Ende des Staus kam, begriff sie, dass die Ursache ein einziger Unfall war.
»Gaffer«, murmelte sie.
Ein Hirsch war in einen Pick-up gekracht. Er hatte sich im Seitenfenster verkeilt. Als hätte er den Wagen absichtlich gerammt, um den Fahrer zu töten. Dieser saß zusammengesunken da, während die Sanitäter seine Verletzung versorgten. Das Geweih des Hirschs hatte sich wie ein Spieß durch seine Hand gebohrt. Plötzlich schaute der Fahrer auf. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, als sie den »Kannenmann« in ihm erkannte. Obwohl er sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, hatte sie das Gefühl, er würde sie mit seinem Blick durchbohren und das Wort denken.
Fotze.
Christophers Mutter fuhr schnell an dem Unfall vorbei und beschloss, nicht auf die Route 19 zurückzukehren. Noch einen Stau wollte sie nicht riskieren. Sie blieb lieber auf kleinen Nebenstraßen.
Sie passierten das alte Olson-Haus an der Ecke. Christopher hatte den Kopf an das kalte Fensterglas gelehnt. Die Hitze an seiner Stirn vertrieb den Dunst von der Scheibe. In der Dachkammer der Blockhütte saß die alte Dame schlafend in ihrem Schaukelstuhl.
Christophers Mutter bog in die Einfahrt und stellte das Auto in der Garage ab. Sie stieg sofort aus und trat hinüber zu Christophers Seite.
Sie öffnete die Tür. »Komm, Schatz. Jetzt sind wir zu Hause.«
Christopher bewegte sich nicht und starrte einfach weiter durch die Windschutzscheibe. Das einzige Lebenszeichen war, dass er sich über die trockenen, aufgesprungenen Lippen leckte. Christophers Mutter bückte sich und nahm ihn auf die Arme. Es war Jahre her, dass sie ihn zuletzt vom Auto hineingetragen hatte. Damals war er noch so klein gewesen. Und jetzt war er so krank.
Fang jetzt bloß nicht an zu heulen.
Sie brachte Christopher ins Haus und hinauf in sein Zimmer. Sie zog ihm die Schulkleider aus, die er beim Weihnachtsumzug getragen hatte. O Gott, wie lang war das inzwischen her? Zwei Tage? Zweieinhalb? Es kam ihr vor wie ein Jahr. Die Sachen waren so schweißgetränkt vom Fieber, dass sie sie abschälen musste wie eine Schlangenhaut. Sie setzte Christopher in die Badewanne und wusch ihn, wie sie es früher getan hatte, als er noch in der Küchenspüle Platz hatte. Sie wollte ihm das Krankenhaus abschrubben. Die Keime. Die Verrücktheit. Sie reinigte ihn vom Kopf bis zu den Füßen und streifte ihm dann seinen neuen Lieblingspyjama über. Den mit dem Iron-Man-Bild. Bad Cat trug er aus irgendwelchen Gründen schon seit einem Monat nicht mehr.
Nachdem sie ihn ins Bett gesteckt hatte, kehrte sie ins Bad zurück und holte die Schmerzmittel aus dem Medizinschränkchen. Eigentlich hatte sie gedacht, dass noch genug für mehrere Wochen da war. Doch jetzt stellte sie fest, dass die Fläschchen mit Ibuprofen und Paracetamol fast leer waren.
»Christopher, hast du ohne mein Wissen Medikamente genommen?«
Christopher lag einfach auf dem Bett und starrte durchs Fenster zum Nachthimmel. Wie lange war er schon krank? Und warum hatte er sich gesund gestellt, um zur Schule gehen zu können? Machten es Kinder sonst nicht genau andersherum? Christophers Mutter setzte ihren Sohn auf und gab ihm eine Paracetamol. Als sie merkte, dass das Kissen unter seinem Hals bereits heiß war, drehte sie es automatisch um und bettete ihn auf die kühle Seite.
»Schatz, ich mach dir was zu essen, damit du die neue Tablette nehmen kannst. Ruh dich ein bisschen aus, okay?«
Er lag bloß da. Wortlos. Reglos.
Schnell lief Christophers Mutter hinunter und öffnete eine Packung Hühnersuppe von Lipton. Eine alte Lieblingsspeise von ihm. »Ich mag die kleinen Nudeln, Mommy.«
Hör auf, Kate.
Sie schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht weinen. Sie musste stark sein. Schwäche brachte nichts. Wegen der Vitamine gab sie ein wenig gefrorenes Gemüse dazu. Sie stellte den Zeitschalter der Mikrowelle auf fünf Minuten. Dann nahm sie Brot, Butter und Käse heraus, um ihm Grillkäsetoast zu machen. »Ich mag ihn gern braun, Mommy.«
Schluss jetzt.
Während das Essen kochte, zog Christophers Mutter das Fläschchen Aripiprazol heraus und las den Beipackzettel. Man konnte es auch ohne Essen einnehmen. Aber er war so krank, da wollte sie nicht riskieren, dass er die einzige Arznei, die ihm helfen konnte, gleich wieder von sich gab. Die einzige Arznei, die vielleicht die Stimmen vertreiben konnte. »Daddy ist von uns gegangen.« – »Was heißt ›von uns gegangen‹, Mommy?«
Hör auf zu flennen, verdammt.
Doch sie konnte nicht. Sie konnte die Tränen genauso wenig aus ihren Augen verbannen wie Ambrose Olson die Wolken aus seinen. Sie konzentrierte sich wieder auf den Beipackzettel und kam zu den Nebenwirkungen bei Kindern. Müdigkeit. Schläfrigkeit.
»Dann kriegt er wenigstens mal Schlaf«, tröstete sie sich. »Er braucht doch so dringend Schlaf.«
Kopfschmerzen. Übelkeit. Verstopfte Nase. Erbrechen. Unkontrollierte Bewegungen durch Rastlosigkeit und Muskelzittern.
Dein Sohn ist genauso verrückt wie dein Mann.
Christophers Mutter trat gegen die Schrankwand, sie trat und trat, bis sie nicht mehr konnte. Sie war jetzt seit über zwei Tagen wach. Sie hatte sich keinen Schlaf gestattet. Hatte einfach ihren Sohn gehalten, während er sich vollsabberte, weil niemand wusste, was ihm fehlte. Dieses ganze verdammte System. Ein Haufen gieriger Leute, die das Bett eines Kindes weggaben, damit sie der Versicherung eines anderen Patienten für ihr beschissenes Bett und ihre Inkompetenz Tausende von Dollar am Tag in Rechnung stellen konnten.
Schluss mit dem Geflenne, du blöde Schlampe!
DING.
Die Mikrowelle. Verwirrt schaute sich Christophers Mutter um. Sie hatte den Schalter vor fünf Minuten angestellt. Wo war die Zeit geblieben? Sie nahm die Suppe vom Herd und drehte den gegrillten Käsetoast um, der eine perfekte Brauntönung hatte. Zusammen mit einer einzelnen Aripiprazol stellte sie alles auf ein Tablett. Zum Hinunterspülen schenkte sie ein schönes, kühles Glas Milch ein. Als sie die Tür schloss, starrte Emily Bertovich sie aus dem Kühlschrank heraus an. Christophers Mutter wischte sich energisch übers Gesicht. Dann stieg sie hinauf, in der Erwartung, ihren Sohn zu füttern wie früher als Baby.
Doch als sie ins Zimmer trat, war Christopher nicht da.
»Christopher?«
Stille. Sie stellte das Tablett ab und lief zum Fenster. Vor ihr lag unberührt der Schnee im Garten. Es gab keine Spuren. Nur zwei Hirsche, die an den immergrünen Bäumen im Missionswald knabberten.
»Christopher?!«
Sie rannte zum Bad. Bilder von ihrem Mann schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen, die sie unter Verschluss hielt wie einen Feuerlöscher hinter einer Glasscheibe. Im Notfall einschlagen. Der Tag, an dem Christopher verschwunden war. Der Tag, an dem sie ihren weinenden Sohn neben ihrem reglosen Mann in der Badewanne entdeckt hatte.
Sie öffnete die Tür. Er war nicht hier. Sie hastete weiter zu ihrem Zimmer. Zum anderen Bad. Da war er auch nicht. Die Treppe hinunter zum Wohnzimmer. Saß er vor dem Fernseher? Nein. War er draußen im Garten? Nein. In der Garage? In der Küche? Vorne auf der Veranda? Nirgends eine Spur von ihm.
»Christopher Michael Reese! Du kommst jetzt raus, sofort!«
Keine Antwort. Plötzlich fiel ihr auf, dass die Kellertür offen war. Sie stürmte hinunter in die Dunkelheit. An der Ecke knipste sie die Neonröhre an. Und da bemerkte sie ihren Sohn, der auf dem Boden kniete. Nicht katatonisch, sondern hellwach.
Und er redete mit sich selbst.
»Hast du was rausgefunden?«, flüsterte er in Richtung Sofa.
Christophers Mutter brachte kein Wort heraus. Auf schwachen Beinen ging sie zu ihrem Sohn und erkannte die alte Jacke und eine Hose von ihrem Mann auf dem Sofa. Als Kopf diente eine weiße Plastiktüte. Eine Vogelscheuche, flach und bestürzend.
»Christopher, mit wem sprichst du?«
»Bist du sicher?« Lächelnd wandte sich Christopher zu ihr um. »Mom, das ist mein Freund, der nette Mann.« Er deutete auf die Tüte.
Dann legte Christopher den Finger an die Lippen. »Und jetzt schsch. Sonst merkt die zischende Lady, dass er hier unten ist.«