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Christophers Mutter schlug die Augen auf. Zuerst nahm sie ihre Umgebung nicht richtig wahr. Über ihrem Kopf strahlte es hell. Alles war verschwommen. Sie musste zweimal blinzeln, bis sie begriff, dass sie in einem Krankenhausbett lag. An ihren Zeigefinger war ein Kontrollmonitor angeschlossen. An ihrem Arm hing eine Infusionsnadel. Sie fühlte sich leicht benommen – wahrscheinlich hatte man ihr Schmerzmittel verabreicht.
Vorsichtig setzte sie sich auf. Die Übelkeit brandete in Wellen hoch zu ihrer Kehle. Sie fühlte sich schwach, doch dafür war jetzt keine Zeit. Sie musste herausfinden, was mit Christopher war. Sie schwang die Füße über die Bettkante und erhob sich auf wackligen Beinen. Durch den offenen Krankenhauskittel zog es ihr kalt an den Rücken. Sie streckte den Arm aus, um sich abzustützen. Da spürte sie den Schmerz.
In kleinen Puzzleteilen kam die Erinnerung zurück. Der Aufprall gegen die Fahrertür. Das Krachen ihrer Rippen. Das hydraulische Rettungsgerät, das sie aus dem Auto schnitt. Ihr bewusstloser Sohn im Rettungswagen, der mit jaulender Sirene zum Krankenhaus raste.
»Bitte setzen Sie sich hin, Mrs. Reese. Sie hatten einen schlimmen Unfall.«
Erst jetzt bemerkte Christophers Mutter die Schwester. »Mein Sohn. Wo ist mein Sohn?«
»Auf der Intensivstation. Legen Sie sich bitte wieder ins Bett, Sie brauchen noch Ruhe.«
»Wo ist die Intensivstation?«
»Im zweiten Stock, aber Mrs. Reese, Sie müssen …«
Ohne ein weiteres Wort zog sich Christophers Mutter die Infusionskanüle aus dem Arm. Sie schluckte ihren Schmerz hinunter und trat hinaus in den Gang.
»Mrs. Reese!«, rief ihr die Schwester nach.
Sie fand den Aufzug und fuhr hinauf in den zweiten Stock. Als sich die Tür öffnete, erschrak sie. Die Intensivstation war hoffnungslos überfüllt. Allein im Wartezimmer, das Plätze für zehn bot, waren bestimmt an die fünfzig Leute zusammengepfercht.
»Christopher Reese«, sagte sie zur Empfangsschwester. »Ich bin seine Mutter.«
»Zimmer 217.« Die Schwester kratzte sich am Arm.
Die Sicherheitstür summte wie eine zornige Wespe. Christophers Mutter passierte sie und folgte dem Korridor. Im Vorbeigehen konnte sie erkennen, dass alle Betten belegt waren. Patienten mit Stichwunden. Mit Schussverletzungen. Der Wahnsinn – oder was es auch war – hatte während ihrer Bewusstlosigkeit weitergetobt. Sie schleppte sich zum Zimmer 217 am Ende des langen Gangs. Ohne zu klopfen, öffnete sie die Tür.
Und sah ihn.
Ihr kleiner Junge lag auf dem Bett. Er hatte einen dicken Verband am Arm. Sein ganzer Körper war übersät mit Schnittwunden von der explodierten Glasscheibe. Er hatte die Augen geschlossen. Aus seinem Mund ragte ein dicker Schlauch, der mit einem Dschungel von Monitoren verbunden war. Maschinen atmeten für ihn. Aßen für ihn. Überwachten alles vom Herz bis zum Gehirn. Eine Schwester trug Zahlen in Christophers Patientenblatt ein und unterbrach sich nur einmal kurz, um sich an der Schulter zu kratzen.
»Was ist mit ihm?«, fragte Christophers Mutter.
Die Schwester fuhr zu ihr herum. Erschrocken. Als sie nach einem kurzen Moment der Verwunderung begriff, dass sie die Mutter vor sich hatte, setzte sie ein Pokerface auf und schlug einen salbungsvollen Ton an wie in der Kirche. »Ich hole gleich den Arzt, Ma’am.« Eilig verließ sie das Zimmer.
Christophers Mutter trat ans Bett. Als sie nach seiner Hand fasste, war es, als würde sie einen heißen Ofen berühren. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Nach ihrer Schätzung hatte er bestimmt über vierzig Grad Fieber. Sie prüfte die Monitore und entdeckte seine Temperatur vergraben zwischen unzähligen Zahlen und Lichtern.
Laut dem Monitor hatte er siebenunddreißig Grad.
Christophers Mutter nahm einen Becher Eisstücke von seinem Nachttisch. Sie schüttelte sich etwas davon in die Hand und häufte es ihm sanft auf die Stirn. Das Eis schmolz so schnell, als läge es auf heißem Asphalt. In kurzer Zeit verwandelte seine Haut es in Wasser und dann in Dampf. Sie packte ihm weitere Eisstücke unter die Achseln, auf den Hals und die Brust.
»Mrs. Reese.«
Christophers Mutter drehte sich um und entdeckte einen Arzt in der Tür. Er trug eine Chirurgenmaske.
»Doktor, Sie müssen ihn wecken!«
»Mrs. Reese, setzen Sie sich bitte hin.«
»Nein! Er muss aufwachen. Sie müssen ihn wecken! Sofort!«
Der Arzt nahm seine Maske ab. Sein Pokerface war nicht so perfekt wie das der Schwester. Offenbar hatte er keine guten Nachrichten.
»Mrs. Reese, es tut mir sehr leid, aber wir haben schon alles versucht. Ohne Erfolg. Wir können Ihren Sohn nicht wiederbeleben.«
»Warum nicht?«
»Christopher ist gehirntot, Mrs. Reese.«
Wie eine tonnenschwere Last landeten die Worte auf ihrer Brust und raubten ihr den Atem. Dann brach wieder der Zorn hervor. »Von wegen! Wir müssen ihn wiederbeleben! UND ZWAR SOFORT!«
»Mrs. Reese, begreifen Sie doch …«
»Nein, Sie müssen begreifen! Jemand hat meinen Sohn!«
Der Arzt schielte kurz zu den Pflegern im Gang, die sofort ins Zimmer traten.
»Jemand hat Ihren Sohn? Was meinen Sie damit, Mrs. Reese?«, fragte der Arzt mit leiser Stimme.
Es lag ihr schon auf der Zunge. Die zischende Lady, die wollte, dass ihr Sohn schlief. Und sein unsichtbarer Freund, der sich als weiße Plastiktüte tarnte. Dann bemerkte sie, dass sich der Doktor wie besessen am Ohr kratzte. Der Fieberschweiß stand ihm im Gesicht. Hinter sich spürte sie die Pfleger. Gleich würden die Wachleute anrücken.
Du wirst klingen wie eine Spinnerin, Kate.
Sie wiederholte den Gedanken, um sicher zu sein, dass es ihre Stimme war und nicht die falsche.
Du wirst klingen wie eine Spinnerin.
Sie war es. Und sie hatte recht. Die Gesichter im Zimmer ließen keinen Zweifel. Genauso hatten die Leute auch auf ihren Mann reagiert. Mit dieser seltsamen Mischung aus Ruhe und Anspannung. Sprungbereit und darauf gefasst, dass sich der Patient jederzeit als labil und gefährlich erweisen konnte. Und alle hier kratzten sich wie die Insassen einer Opiumhöhle. Der Arzt. Die Schwester. Die Pfleger. Und jetzt auch noch ein Wachmann. Alle lauerten nur auf einen Vorwand, um sich auf sie zu stürzen.
Sie vergegenwärtigte sich die Situation. Christopher war wieder im Krankenhaus. Bewusstlos. Genau wie es die zischende Lady wollte. Und wenn die zischende Lady so viel Macht besaß, dass sie das arrangieren konnte, fiel es ihr sicher auch nicht schwer, einen Arzt dazu zu bringen, dass er eine deprimierte Mutter für achtundvierzig Stunden zu einer psychiatrischen »Beurteilung« in die geschlossene Abteilung einwies.
»Wer hat Ihren Sohn, Mrs. Reese?«
»Niemand. Entschuldigung, ich … es ist einfach …« Sie schützte fassungslosen Kummer vor.
Die Anwesenden entspannten sich sofort, als hätte ein unsichtbarer Feldwebel »Rührt euch!« gerufen.
»Das verstehen wir sehr gut, Mrs. Reese.« Der Arzt machte eine kleine Pause. »Ich weiß, wie schwer das ist. Bitte lassen Sie sich ruhig Zeit. Danach können wir die nächsten Schritte besprechen.«
Christophers Mutter wusste genau, was mit den »nächsten Schritten« gemeint war. Trauerbegleitung, ein Anwalt, ein Blatt Papier, ein Stift und ein Begräbnis. Sobald sie auf der gestrichelten Linie unterschrieb, würde Dr. Mitgefühl den Stecker an jeder Maschine ziehen, die ihren Sohn am Leben hielt. Ohne auf die Idee zu kommen, dass Christopher gar nicht gehirntot war. Dass er sich bloß verirrt hatte. Dort, wo ihn die zischende Lady hingebracht hatte.
»Entschuldigen Sie, dass ich die Beherrschung verloren habe«, murmelte sie zerknirscht. »Sie haben bestimmt Ihr Möglichstes getan.«
»Schon gut, Mrs. Reese. Dafür haben wir vollstes Verständnis. Wir lassen Sie jetzt allein. Nehmen Sie sich ruhig Zeit.«
Die Prozession von Marionetten verließ das Zimmer, darunter ein bulliger Wachmann, der sich mit einem Schlagstock am Oberschenkel kratzte und sie beäugte wie eine reife Ananas.
Als sie ungestört war, küsste sie ihren Sohn auf die heiß verschwitzte Stirn und flüsterte ihm ins Ohr, damit niemand – nicht einmal die zischende Lady – es hören konnte: »Christopher, ich hol dich hier raus. Das verspreche ich dir.«