71
Was für ein beschissenes Jahr.
Dieser Gedanke streifte Jerry, als er wach im Bett lag. Er starrte zum Fenster hinaus. Kurz vor Morgengrauen. Am 23. Dezember. In letzter Zeit war er öfter so früh schon munter. Seit diese Träume angefangen hatten. Diese fiesen Träume. Darin war er immer zu Hause, in seinem Viertel oder im Bone Yard bei gegrillten Spareribs, und dann tauchte auf einmal seine Kate auf. Jedes Mal ein wenig anders, aber immer umwerfend schön. Mit einem Schlüssel an einer Schlinge um den Hals. Und einem durchtriebenen Lächeln. Er durfte alles mit ihr machen, was er sich je gewünscht hatte. Brutal. Wütend. Schmutzig. Hässlich. Es spielte keine Rolle. Sie liebte es. Sie liebte ihn. Jede Nacht legte er sich schlafen, um die Kate seiner Träume zu treffen. Und wenn er dann am nächsten Morgen erwachte, drehte er den Kopf zur Seite und sah die leere Stelle, wo eigentlich die echte Kate hätte liegen müssen. Und in seinen Ohren hallte diese verdammte Stimme.
Du vermisst sie, Jerry.
Jeden Morgen fühlte sich sein Kopf an wie der zerpflügte Vorgarten, wenn er nach einem Besäufnis seinen Wagen abgestellt hatte. Der Rasen sah aus wie die Einfahrt, und die Träume sahen aus wie sein Leben. Bloß dass sie nicht sein Leben waren. Kate war verschwunden. Auf Nimmerwiedersehen. Wie oft hatte er versucht, sie abzuschütteln! Aber dann hörte er irgendeinen Song, oder ihm lief eine Tussi in abgeschnittenen Jeans über den Weg, und sofort fiel ihm wieder ein, dass er es dieses eine einzige Mal geschafft hatte, eine richtig gute Frau einzuwickeln.
Bis sie dir mitten in der Nacht davongelaufen ist, Jerry.
Jerry wälzte sich im Bett herum. Er hatte heute keine Schicht, da stand einem kleinen Besuch der 8 Mile Road nichts im Weg. Die Bars hatten noch nicht geöffnet, doch er kannte einen Club, wo er bestimmt durch die Hintertür reinkonnte. Er konnte sich einen Drink reinziehen und vielleicht irgendein tief hängendes Obst pflücken. Klar, es war noch Morgen. Aber scheiß drauf. Er hatte keine Schlampe mehr am Hals, die ihn herumkommandierte. Am Freitag hatte er seinen Lohn gekriegt, der Rest konnte ihm egal sein.
Er zog die Jeans an und stieg in seinen Pick-up. Zwanzig Minuten später war er an der 8 Mile Road. Er parkte vor der berüchtigten Spelunke und ging hinein. In der Jukebox lief ein klasse Song. Hotel California von den Eagles. Der Zigarettenrauch stand im Raum wie eine Wand. So dicht, als würde er durch eine Wolke laufen. Er setzte sich und bestellte einen Gin Tonic. Er schaute hinüber zu der Frau an der Bar und konnte sein Glück kaum fassen.
Sally.
Sally kannte er noch von der Highschool. Sie war immer ein braves Mädchen gewesen, bis es damit eines Tages vorbei war. Wie die meisten Katholikinnen kam sie ungefähr in sechs Sekunden von null auf hundert, sobald jemand den Schlüssel in die Zündung steckte. Ein Jahr später wurde sie erwischt, als sie es im Ford ihres Daddys mit zwei Footballspielern gleichzeitig trieb. Danach hatte sie den Spitznamen »Mustang Sally« weg – obwohl das Auto ihres Daddys eigentlich ein Focus war. »Focus Sally« hatte einfach nicht diesen Klang. Auch wenn sie nicht unbedingt die Hellste war, hatte Sally gegen ein bisschen Spaß nie was einzuwenden. Und er brauchte seinen Spaß. Er hatte Kohle in der Tasche. Er war ungebunden und noch jung. Er konnte sich Sally schnappen, in den alten Chevy steigen und einfach rüberdüsen zu einem Casino in West Virginia. Das half bestimmt, um sich Kate aus dem Schädel zu schrubben.
»Nach West Virginia?«, entgegnete Sally. »Du spinnst. Draußen schneit es wie verrückt. In Detroit gibt es doch auch Casinos. Warum zum Teufel sollen wir nach West Virginia fahren?«
Gute Frage.
Vielleicht ein Bauchgefühl. Eine Ahnung. Oder der Gin Tonic. Aber irgendwie glaubte Jerry, dass sich in West Virginia das Blatt für ihn wenden würde. Dass heute sein Glückstag war, wenn er einfach auf die Stimme in seinem Kopf hörte.
Du hast nichts zu verlieren, Jerry.
»Kommst du jetzt mit oder nicht?«, fragte er Sally.
Sie kam mit.
Eine Stunde später glitt er über einen weiß bedeckten Highway. Es war der schlimmste Schneesturm seit dem Blizzard nach Thanksgiving. So viel zum Thema Erderwärmung. Auf allen Seiten bemerkte er Autos, die feststeckten oder in einen Unfall geraten waren. Bloß bei ihm lief es wie geschmiert. Sally klickte sich durch die Radioskala wie ein Einbrecher bei dem Versuch, einen Safe zu knacken. Top 40. Hip-Hop. Ein Oldies-Sender, auf dem Blue Moon lief. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Sally mitzunehmen. Ihr fiel nichts anderes ein, als an seinem Radio rumzufummeln und Geschichten über ihre Kolleginnen zu erzählen, die sich angeblich alle gegen sie verschworen hatten. Schließlich arbeitete sie bei JCPenney, verdammte Kacke. Glaubten Frauen wirklich, dass sich die Welt für ihre Probleme interessierte?
»Scheiße, Sally, jetzt entscheid dich mal für einen Kanal.«
»Schon gut. Blödmann.«
Endlich landete sie bei einem Classic-Rock-Sender, der Hotel California von den Eagles spielte. Zweimal an einem Tag.
Er nahm es als gutes Omen.
Beim Casino übergab er den Schlüssel nicht dem Angestellten, sondern fuhr selber weiter zum Parkplatz. Dafür erntete er von Sally einen finsteren Blick. Bitte viiiieeeeeelmals um Verzeihung für den Versuch, ein paar Dollar zu sparen. Sie stiefelten quer über den eiskalten Parkplatz, und vom Himmel fuhr ein wütender Wind herab, der ihnen den Schnee um die Köpfe peitschte wie Dorothys Tornado. Wie oft hatte er sich an diesen verdammten Filmfreitagen mit Kate und ihrem schrägen Sohn den Zauberer von Oz
reingezogen?
Du vermisst sie, Jerry.
Aber sie vermisst dich nicht.
Diese Stimme. Diese nervige Stimme.
Er konnte die ganze Nacht durchsaufen. Zocken. Mit dem Auto rumtuckern. Mit den Jungs angeln. Mit seinen Cousins jagen. Egal was er machte, diesen Gedanken wurde er einfach nicht mehr los.
Sie ist die Beste, die du je kriegen wirst, Jerry. Und jetzt ist sie weg.
Natürlich musste Kate irgendwo dort draußen sein. Wahrscheinlich war sie mit einem neuen Typen zusammen. Dem sie sich hingab. Den sie überall berührte. Diese Vorstellung machte ihn ganz krank. Sein Magen rumorte. Er musste dringend in dieses Casino und sich einen ordentlichen Drink holen. Damit das endlich aufhörte.
»Sally, beeil dich ein bisschen, verdammt«, rief er.
»Versuch du mal, in High Heels durch diesen Matsch zu laufen«, blaffte sie zurück.
Die Türen öffneten sich auf eine Wolke aus Zigarettenrauch, die über dem weißen Rauschen der einarmigen Banditen und Videopokermaschinen waberte. Sally musste pinkeln. Klar. Obwohl es erst kurz nach zehn war, setzte sich Jerry an die Bar und kippte einen doppelten Tanqueray mit ein bisschen Tonic in sich hinein. Es brannte wie nach einem guten Work-out, trotzdem reichte es noch nicht. Er brauchte etwas, das ihn von dieser Stimme ablenkte. Er schaute sich um und bemerkte eine Zeitung, die jemand auf dem Tresen vergessen hatte.
Eine Zeitung aus Pittsburgh.
Zwei Monate alt.
Jerry suchte nach dem Sportteil, aber den hatte sich schon irgendein Bauer gekrallt. Also überflog er den Rest des Käseblatts. Im Nahen Osten war noch immer die Kacke am Dampfen. Meine Güte. Und so was nannte sich Nachrichten! Die sollten mal was über das Ende der Krise bringen, dann gab es vielleicht einen Grund, die Zeitung zu kaufen. Und die Flüchtlinge? Hey, Leute, ich hab da eine Idee. Hoch mit euch und ab nach Norden. Es konnte doch nicht so schwer sein, auf so was zu kommen, oder? Wer saß einfach still da, wenn um ihn herum die Welt vor die Hunde ging? Das mussten wirklich komplette Idioten sein.
Jerry blätterte weiter zum Teil Vermischtes. JUNGEN FINDEN SKELETT IM WALD. Als er gerade einen Blick auf das Bild werfen wollte, schwang sich Sally mit zugeschminktem Gesicht und leerer Blase auf den Stuhl neben ihm.
»O Gott, hier mieft es wie die Hölle«, meinte sie.
Jerry legte die Zeitung weg und warf sich ins Getümmel. Blackjack war normalerweise nicht sein Spiel, doch irgendwie hatte er so ein Gefühl, dass es am besten war, erst mal klein anzufangen. Er zog eine Dame und erinnerte sich, wie ihm Kate erzählt hatte, dass das Gesicht der Dame auf einer Spielkarte das Porträt von Queen Elizabeth zeigte. Prompt bekam er ein Ass dazu und gewann hundert Dollar. Er bestellte den nächsten Gin Tonic. Kate hatte ihm erzählt, dass diesen Drink britische Soldaten in irgendeinem Krieg erfunden hatten. Das Tonic half wohl gegen Malaria.
Du vermisst sie, Jerry.
Sie fickt einen anderen, Jerry.
Er orderte noch zwei Drinks, obwohl Sally sich beschwerte, dass er sich schon vor Mittag einen ansoff. Ihm war das egal. Für ihn war entscheidend, dass diese nervige Stimme heute eine ganz neue Schärfe hatte. Er kriegte es nicht richtig zu fassen. Jedenfalls fühlte er sich irgendwie unbezwingbar.
Also ließ er es darauf ankommen.
Er konzentrierte sich auf die Karten. Der Geber verpasste ihm bescheuerte dreizehn. Trotzdem war er sich sicher, dass es klappen würde. »Scheiß drauf. Das Blatt hat vier Achten, oder?« Kurz darauf kam seine Acht. Wieder einundzwanzig. Noch mal fünfzig Dollar. Er wiederholte den Coup mit zwölf. Und noch mal mit achtzehn. Um ihn herum bildete sich allmählich ein Kreis. Er wusste genau, was die Gaffer dachten. Wer war dieser Prolo mit der Lions-Mütze und der billigen Schlampe, die daherkam, als hätte sie das Schminken an einer Clownschule gelernt?
Ich sag euch, wer ich bin, ihr Arschlöcher.
Ich bin der Schweinehund, der heute nicht verliert.
Die Stimme forderte ihn auf, bei der folgenden Runde nur zehn Dollar zu wetten. Und siehe da, er überkaufte sich. Bei der nächsten hielt er sich wieder an sein Gefühl und setzte fünfhundert Dollar. Blackjack. Hinter ihm klatschte eine Frau. Eine hübsche Indianerin, die ebenfalls eine Ausgabe dieser alten Pittsburgher Zeitung in den leuchtend rot lackierten Fingern hielt. Flüchtig wunderte er sich, dass hier überall diese alten Schmierblätter rumlagen.
Dann holte ihn eine Stimme zurück in die Gegenwart. »Blackjack!«
So ging das mehrere Stunden lang. Der Chefcroupier wechselte den Geber, in der Hoffnung, dass seine Strähne abriss. Sie schlossen den Tisch und zwangen ihn zum Umziehen. Sie benutzten sechs Blätter statt einem, in der Annahme, dass er vielleicht die Karten mitzählte. Aber was sie auch anstellten, es brachte ihnen nichts.
Du kannst nicht verlieren, Jerry.
Um fünf Uhr Nachmittag erhob sich Jerry und wanderte auf wackligen Beinen hinüber zum Rouletterad. Sally meinte, er sollte sein Glück nicht überstrapazieren, doch er hörte nur noch auf die Stimme in seinem Kopf. Die erste Zahl, auf die er setzte, war die Neun. Als die Neun kam, gab Sally endlich Ruhe. Solche Strähnen kamen vor, das wusste er von seinen Barfreunden. Er selbst hatte nie eine erlebt, nicht einmal als Zuschauer. Doch im Moment war er einfach unschlagbar. Die Stimme riet ihm, zwanzig Dollar auf Schwarz zu setzen. Zehn Dollar auf Rot. Einmal zu pausieren. Die Kugel fiel auf die Null. Die scharfe Squaw machte es sich neben ihm bequem und hakte sich mit den High Heels an ihrem Stuhl fest. Offenbar wollte sie ein bisschen mitzocken.
»Darf ich deine Zeitung lesen?«, fragte Sally gelangweilt wie eine Highschool-Tussi, die ihrem Freund bei einem Videospiel zuschaute.
Die Squaw reichte sie ihr. Sally schaute das Blatt flüchtig durch. Nichts über Hollywood. Bloß ein langweiliger Bericht über vier kleine Jungen, die in einem Wald im westlichen Pennsylvania ein Skelett entdeckt hatten.
»Ach, ist der Kleine süß.« Sally deutete auf das Bild. »Schau mal, Jerry.«
»Sally, kannst du vielleicht mal die Klappe halten?« Jerry wettete auf dreiunddreißig.
»Dreiunddreißig!«, kreischte die Indianerin.
Du kannst nicht verlieren, Jerry.
Jerry schloss die Augen, während die Kugel im Rouletterad kreiste. Er hatte das Gesicht von Kate Reese vor sich. Die leere Wohnung, nachdem sie sich davongeschlichen hatte. Was war denn so Schlimmes passiert? Er hatte sie geschlagen, ja, aber dann hatte er sich schließlich auch entschuldigt und es ernst gemeint. Also scheiß auf sie, wenn sie ihm nicht glaubte. Scheiß auf die Schlampe!
Du vermisst sie, Jerry.
Du möchtest sie finden.
»Vier!«, quiekte die Squaw.
Um Mitternacht rief der Chefcroupier den Casinoleiter, der Jerry sofort mit dem Lächeln eines Politikers und dem Handschlag eines Weicheis ein Gratiszimmer anbot. Die Indianerin gratulierte ihm zu dieser Mutter aller Strähnen. Sie hatte die ganze Zeit verloren, war aber trotzdem neben ihm sitzen geblieben. Den ganzen Tag. Mit einem offenbar unendlichen Vorrat an Chips. Vielleicht war sie ein Spitzel des Casinos. Oder eine Professionelle. Für ihn zählte nur, dass sie wirklich extrem scharf war. Sie stand vom Tisch auf und ließ die alte Zeitung auf dem Boden zurück.
Er hob sie auf und rief ihr nach. »Hey, du hast deine Zeitung vergessen.«
Sie machte kehrt und bedachte ihn mit einem schlüpfrigen Lächeln. »Jerry, weißt du eigentlich, was rauskommt, wenn man alle Zahlen an einem Roulettetisch addiert?«
»Nein. Aber warum erklärst du mir das nicht beim Frühstück?« Er konnte nicht glauben, dass er sich das getraut hatte.
Doch da war es. Die Einladung hing in der Luft wie die Wolke aus Zigarettenrauch. Bestimmt hätte ihm Sally dafür am liebsten mit ihren falschen Nägeln die Augen ausgekratzt. Doch »Mustang Sally« machte keinen Mucks. Das Grinsen der Indianerin war so breit, dass er Angst hatte, ihr könnten die Zähne ausgehen.
Du kannst nicht verlieren, Jerry.
Zu dritt fuhren sie hinauf in die Gratissuite und öffneten eine Flasche Gratissekt. Die Indianerin schaltete den Fernseher ein, weil sie manchmal »ein bisschen laut« werden konnte. Um drei Uhr früh brachte der Sender die Lokalnachrichten aus dem Einzugsbereich Pittsburgh. Jerry hörte irgendein Geschwafel über einen furchtbaren Verkehrsunfall und den schwer verletzten Jungen, der für seine Mutter im September in der Lotterie gewonnen und im November ein Skelett gefunden hatte. Doch er schaute sich nicht nach dem Fernseher um, weil er so in den Anblick der beiden Frauen versunken war, die sich gegenseitig den Sekt ableckten, während draußen der Wind gegen das große Fenster mit der Aussicht auf das Zentrum von Wheeling donnerte. Jerry packte so viel Sex wie nur möglich in diese eine Nacht, doch immer wenn er auch nur einen Moment nachließ, kehrte die Stimme wieder.
Du vermisst sie, Jerry.
Du musst sie finden, Jerry.
Eine Stunde vor Morgengrauen wachte Jerry auf. Obwohl er höchstens eine halbe Stunde geschlafen hatte, war er hellwach. Er trank den letzten Rest lauwarmen Sekt, um seine rasenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Er hatte schon öfter einen Kater gehabt. Manchmal schon, während er noch betrunken war. Aber dieser Schmerz war irgendwie anders. Als wäre er … eine Person und sauer auf ihn. Als hätte Jerry seine Frau flachgelegt. Er hörte Sally in der Dusche; die Indianerin hatte sich aus dem Staub gemacht. Er rechnete damit, dass sie ihn völlig ausgeplündert oder mindestens tausend Dollar für »geleistete Dienste« eingesteckt hatte, doch wie sich herausstellte, hatte sie ihm nicht einmal einen Pokerchip gestohlen.
Nur ihre alte Zeitung hatte sie dagelassen.
Du vermisst sie, Jerry.
Du möchtest sie finden, Jerry.
Sie fickt einen anderen Typen, Jerry.
Die Schlampe macht sich über dich lustig, Jerry.
Nach der Mutter aller Strähnen war die Stimme gemein wie eine Schlange zurückgekehrt. Um nicht ständig an Kate denken zu müssen, griff er nach der alten Zeitung vom Herbst. Er überflog einen Wetterbericht, der einen ungewöhnlich milden Winter vorhersagte. Da hatten sie wohl den falschen Wahrsager konsultiert. Als er schon Vermischtes aufschlagen wollte, überlegte er es sich anders und blätterte weiter zum Sportteil. Zum Glück war die Ausgabe der Indianerin vollständig.
Er war gerade zur Hälfte mit einem Artikel über die Pittsburgh Steelers durch, die den nächsten Super Bowl anstrebten (und was war mit den Lions, ihr Vollidioten?), da kam Sally mit verheulten Augen aus der Dusche. Jerry begriff, dass mit dem Alkohol auch Sallys Mustangleidenschaft verflogen war. Die Neugier auf flotte Dreier konnte sich wohl doch nicht auf Dauer gegen ihre katholische Erziehung in Flint durchsetzen.
»Es ist Heiligabend. Ich muss nach Hause«, erklärte sie.
»Okay, Sally. Fahren wir.«
Die Zeitung ließ er im Zimmer liegen.
Als er zum letzten Mal durch die Wolke aus Zigarettenrauch im Casino schlenderte, schaute er sich nach der scharfen Indianerin um. Ihm fiel ein, dass er nicht mal ihren Namen kannte. Vielleicht war sie bloß ein Trugbild gewesen wie in dem Song Hotel California. Er summte seine eigene Version. Welcome to the Hotel West Virginia. Such a shitty place. Such a shitty face.
Die Casinotüren öffneten sich wie ein Maul und spuckten sie aus. Die Luft war frisch und süß. Sauber und trocken wie der Mond, der durch die Wolken blitzte.
Langsam schlenderte er über den Parkplatz. Der Wind fegte ihm übers Gesicht. Er roch nach irgendetwas. Wahrscheinlich lag es an seinem Kater. Jedenfalls fiel Jerry ein, wie er als kleiner Junge zum ersten Mal auf der Jagd gewesen war. Das Waldaroma vermischt mit dem Geschmack von Pulver und Bier. Er musste an den Freund seiner Mom denken, der ihm das Schießen beigebracht hatte. Der, der ihm Basebälle an den Kopf geschmissen hatte, damit er lernte, keine Angst davor zu haben.
Er stöhnte, als er sein Auto sah. Irgend so ein Vollpfosten hatte ihm einen Flyer unter den Scheibenwischer geklemmt. Anscheinend ein Gutschein oder die Werbung von einem Autoaufkäufer. Als er näher kam, bemerkte er, dass es aus vier Karteikarten bestand, an denen etwas mit Schnüren befestigt war. Der Wind blies hinein, und vier farbige Gummiteile klatschten an die Wagenseite.
Es waren vier geplatzte Ballons.
Jerry zog die Karten heraus. Auf jeder stand der gleiche Text.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben einen Ballon gefunden, der bei unserem Derby an der Grundschule Mill Grove aufgestiegen ist. Bitte senden Sie die Karte schnellstmöglich zurück, damit unser Schüler erfährt, wie weit sein Ballon geflogen ist. Vielen Dank.
Jerry drehte die Karten um und sah Namen, die ihm nichts sagten. Matt Sowieso. Mike Sowieso. Eddie Scheißdrauf. Als er die Karten schon wegschmeißen wollte, peitschte ihm der Wind kalt durch die Jacke. Auf einmal war der Jagdgeruch überall. Und diese leise Stimme forderte ihn auf, lieber einen Blick auf die letzte Karte zu werfen, bevor er alles auf den Boden warf. Mit zitternden Händen drehte er sie um und las den letzten Namen.
Christopher Reese
Heute ist dein Glückstag, Jerry.