72
Der nette Mann führte Christopher über einen alten, verwitterten Weg. Er schob totes Gestrüpp beiseite, hinter dem ein frischer Pfad verborgen lag. Christopher spähte hinauf zu den Wolken über dem Missionswald. Der Mondschein war darin gefangen wie in einer Laterne. Die zischende Lady breitete sich überallhin aus. Etwas Schreckliches stand bevor.
Es heißt, dass du stirbst.
Die Worte des netten Mannes hallten Christopher durch den Kopf, als sie zu dem alten Kühlschrank gelangten. Groß und weiß wie die Eiskästen in den alten Filmen, die seine Mutter so liebte. Das rostige Chrom erinnerte Christopher an Jerrys alten Chevy in der Einfahrt.
Jerry ist unterwegs …
Jerry ist unterwegs … und will meine Mutter töten.
Christopher musste aus der Fantasiewelt heraus. Er musste heraus und sie retten.
»Da ist es«, flüsterte der nette Mann.
Mit einem Knarrrrren öffnete er die Kühlschranktür. Der Kühlschrank hatte keine Unterseite. Stattdessen war da nur ein großer Fleck Erde.
»Was ist das?«, fragte Christopher.
»Mein letztes Versteck.« Der nette Mann kniete sich hin und wischte die Erde weg, unter der eine Falltür zum Vorschein kam. Er öffnete sie.
Christopher bemerkte eine lange Treppe, die hinab in eine Art Luftschutzbunker führte.
»Das hat sie noch nicht entdeckt«, flüsterte der nette Mann. »Ich habe es für einen Notfall aufgehoben. Wir müssen uns verstecken, bis es Tag wird.«
Christopher kletterte hinein. Der nette Mann zog leise die Kühlschranktür hinter ihnen zu. Dann folgte Christopher ihm die lange Treppe hinunter. Als sie den Grund erreichten, faltete der nette Mann die Treppe zusammen wie eine ausfahrbare Speicherleiter. Mit ächzenden Federn schnurrten die Stufen zusammen, und sie waren verborgen unter der Erde. Der nette Mann zündete eine Petroleumlampe an, dann öffnete er eine tragbare Kühlbox. Es gab Wasser und Cola in Flaschen, dazu Obst, Käse und Süßes.
»Wo hast du das alles her?«, fragte Christopher.
»Von Leuten, die Diät machen. Ihre Albträume drehen sich alle ums Essen. Es macht ihnen nichts aus, wenn man es ihnen wegnimmt, glaub mir. Du tust ihnen sogar einen Gefallen.«
Christopher lud sich die Arme voll wie einen Einkaufswagen.
»Die Süßigkeiten nicht«, mahnte der nette Mann. »Wir bleiben nur bis zum Tagesanbruch. Das ist für längere Zeit deine letzte Mahlzeit. Wir müssen dich vor Mitternacht hier rausholen. Du wirst deine Kraft brauchen.«
Widerstrebend tauschte Christopher ein Snickers gegen Apfelmus und hockte sich auf den Boden. Erst jetzt schaute er sich im Schutzraum des netten Mannes um. Er war kahl und schlicht. Eine Pritsche. Ein Spind. Ein paar Kleider. An der Wand eine Uhr. Bloß dass sie nicht die Stunden und Minuten anzeigte, sondern die …
Jahre.
Christopher bemerkte die Zahl. 2020. Die Zahl der Monate. 24 240. Die Zahl der Tage. 737 804 Tage des Schreckens und der Qualen. Er betrachtete die Narben des netten Mannes. An den Füßen. An den Händen. Sein Gang war ganz krumm, weil ihm im Lauf der Jahrhunderte immer wieder die Knochen gebrochen worden waren.
»Wie alt warst du, als sie dich gefangen hat?«, fragte Christopher.
Der nette Mann schaute ihn überrascht an. »Sie hat mich nicht gefangen. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Iss jetzt.«
Der nette Mann öffnete eine Flasche Wasser und setzte sie an den Mund. Dann schraubte er den Deckel auf und schluckte. Das kalte Wasser schien durch seinen zerschlagenen Körper zu schneiden wie ein kalter Fluss.
»Was passiert um Mitternacht?«
Der nette Mann schwieg. Er legte den Finger vor den Mund und machte leise Schschschsch. Er deutete nach oben.
Christopher erstarrte und lauschte. Er hörte ganz deutlich Stimmen. Dort oben im Wald wurde offenbar nach ihm gesucht.
»Chrissssstopher! Chrissssstopher! Wo bist du?«
Der nette Mann erhob sich.
»Ich kann ihn nicht mehr riechen«, rief eine Stimme. »Könnt ihr ihn hören?«
Christopher beobachtete den netten Mann, der bei der zusammengefalteten Leiter lauerte, angespannt wie eine Feder und sprungbereit. Alles an seiner Haltung beruhigte Christopher. Wenn es sein musste, würde der nette Mann ihn bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Das kannte er von seiner Mutter. Er hatte nicht gewusst, dass auch Männer sich so für Kinder einsetzen konnten.
Schließlich zogen die Stimmen weiter, und es wurde still. Christopher wollte sprechen, doch der nette Mann hob den Finger. Dann griff er nach einem Block und kritzelte etwas mit einem Bleistift darauf.
Sie sind noch da oben. Es ist eine Falle.
Christopher nahm den Bleistift und schrieb. Dann reichte er den Zettel zurück an den netten Mann.
Was passiert um Mitternacht?
Christopher studierte das Gesicht seines Gegenübers. Ernst und gehetzt.
Der nette Mann schüttelte den Kopf und schrieb erneut.
Es hilft nicht, wenn du Angst hast. lch brauche dich stark.
Der nette Mann schrieb weiter, doch Christopher spürte genau, wie seine Gedanken zwischen den Worten Verstecken spielten.
Der nette Mann …
Der nette Mann … schreckt davor zurück, mir die Wahrheit zu sagen.
Der nette Mann weiß … dass sie mir Angst machen wird.
Die Temperatur im Bunker fiel um mehrere Grad. Christopher zog dem netten Mann den Block aus den Händen und schrieb.
Wenn du es mir nicht sagst, lese ich es einfach in deinem Kopf.
Mit einem Seufzen nahm der nette Mann wieder den Block. Ohne den Blick von Christopher zu wenden, schrieb er in großen Buchstaben. Als er fertig war, musste Christopher die Nachricht gar nicht umdrehen, um sie zu entziffern.
Gib mir deine Hand.
Christopher forschte in seinen Augen. Sie verrieten nichts. Sein Magen geriet ins Schlingern. Auf einmal hatte er keinen großen Hunger mehr. Nicht einmal auf Süßes. Er griff nach dem Block, und sie reichten den Block hin und her wie Schüler.
Was passiert dann?
Wenn du in meinem Kopf lesen willst, öffne ich ihn dir.
Christopher schaute auf die Hände, die der nette Mann aufschlug wie ein Buch. Er betrachtete die Handflächen. Zerschnitten und narbig. Zahllose Male im Wasser gewaschen. Er spürte eine Last auf der Brust. Die Lösung so vieler Rätsel. Vier Wege hinein. Drei Wege hinaus. Alles in diese Handflächen eingegraben. Christopher schrieb erneut.
Was passiert um Mitternacht?
Der nette Mann holte tief Luft und schrieb nur ein Wort.
Alles.
Christopher fasste nach seiner Hand.