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Kurz vor Morgengrauen schlug Special Ed die Augen auf. Er senkte den Blick und merkte, dass er ins Bett gemacht hatte. Das war ihm in letzter Zeit häufig passiert. Dann schaute er nach draußen zu den Bäumen, und ohne dass er dafür einen Grund hätte nennen können, zog es ihn heute nur an einen Ort.
Chuck E. Cheese
Er verstand es selbst nicht. Obwohl Chuck E. Cheese sicher viel zu bieten hatte als Paradies für Videospiele und Robotertiere, war die Pizza dort kaum besser als in einer Cafeteria. Und heute war Heiligabend. Seit dem Tod seiner Großmutter fuhren sie an diesem Tag immer zu seiner anderen Großmutter. Jedes Jahr. Trotzdem wurde er den Gedanken einfach nicht los. Er musste
zu Chuck E. Cheese.
Hör auf Grandma.
Er ging ins Schlafzimmer seines Vaters und versuchte, ihn aufzuwecken. Doch er knurrte nur. »Es ist noch nicht mal hell, verdammt. Leg dich wieder hin.« Also verließ Special Ed das Zimmer, wenn auch nicht, ohne das Handy seines Dads vom Nachttisch zu klauen, wie es ihm Grandma eingeschärft hatte. Special Ed trottete weiter zum Elternschlafzimmer. Seine Mutter lag schlafend im Bett. Sie hatte ihm erzählt, dass sie getrennt schliefen, weil sein Vater schnarchte. Inzwischen kannte Special Ed die Wahrheit. Seine Mutter trank zu viel, und seine Eltern hatten sich gestritten. Sie sagte, dass sie jederzeit aufhören könnte, und er: »Dann beweis es!« Und sie darauf: »Leck mich!« Sie forderte ihn auf, im Gästezimmer zu schlafen, aber er wollte nicht. »Du säufst, du schläfst im Gästezimmer.« Dann weinte sie, und am Ende zog er um, nachdem sie angefangen hatte, aus dem Fläschchen in ihrer Handtasche zu trinken, das wie ein Parfüm aussah, damit sich die Trauer in ihrem Kopf legte.
Hör auf Grandma.
»Mom, können wir zu Chuck E. Cheese fahren?«, flüsterte er.
Sie nahm die Schlafmaske mit Kühlgel ab, die sie jung hielt.
»Schatz, heute ist Heiligabend. Wir fahren zu Grandma.«
»Ich weiß. Trotzdem möchte ich unbedingt zu Chuck E. Cheese.«
»Was? Entschuldige, Liebling, aber das ist total bescheuert. Leg dich wieder hin.«
»Wir könnten doch dort zum Mittagessen anhalten.«
»Frag deinen Vater.«
»Hab ich schon. Für ihn ist das okay.«
»Na gut. Von mir aus.«
Aber es war nicht gut. Nachdem sein Dad aufgestanden war, erwischte er Special Ed bei der Lüge und vergatterte ihn zu einer Strafe. Vor allem nachdem er sich bei dem Weihnachtsumzug mit Brady Collins geprügelt hatte. Es reichte allmählich. Mit dem Kabelsender Showtime, den Special Ed für sein gutes Zeugnis bekommen hatte, war vorerst Schluss. Einen Monat lang kein Showtime.
»Aber Dad, das verstehst du nicht! Ich muss einfach hin!«, protestierte Special Ed.
»Lass die Faxen und zieh dich an. Wir fahren zu Grandma.«
Sie waren sowieso schon spät dran, weil sein Vater sein Handy nicht finden konnte. Er bat Special Eds Mutter, ihn anzurufen, damit es klingelte, aber auch sie hatte ihr Telefon anscheinend verlegt. Sie wussten nicht, dass ihr Sohn beide Telefone draußen im Schnee verscharrt hatte. Special Eds tote Grandma hatte ihn dazu aufgefordert, weil es sonst nicht mit dem Besuch im Chuck E. Cheese klappen würde.
Hör auf Grandma.
Die Familie zwängte sich in den Ford-SUV mit dem Aufkleber BUY AMERICAN und brach auf zu Großmutters Haus. Das Wetter hatte während der Nacht besonders heftig getobt, sodass die normale Strecke durch umgestürzte Bäume und mehrere Unfälle blockiert war. Vor allem ein Unfall sah wirklich schlimm aus. Ein Kombi war mit einem anderen Auto zusammengestoßen, das Betty vage an den Wagen von Kate Reese erinnerte. Sie griff sofort nach ihrem Handy, um Kate anzurufen.
Sie hatte vergessen, dass sie es verlegt hatte.
Ohne die Landkarten ihrer Smartphones musste sich die Familie auf das alte GPS verlassen, um eine andere Strecke zu Grandma zu finden. Special Eds Vater tippte die Adresse ein, und die GPS-Dame schickte sie auf die Route 19. Special Ed entspannte sich ein wenig auf dem Rücksitz, weil er wusste, dass sich seine Grandma als GPS-Dame ausgab.
Er verfolgte, wie sein Vater die übliche Abkürzung um Bridgeville nahm. Dummerweise lief genau in diesem Augenblick ein Hirsch über die Straße. Als sein Vater mit einem scharfen Ruck am Lenkrad auswich, schlitterte er in ein gemeines Schlagloch, und die zwei rechten Reifen waren platt. Zum Glück befanden sie sich direkt neben einer Mobil-Tankstelle. Der Tankwart erklärte ihnen, dass die meisten Mitarbeiter wegen Grippe ausgefallen waren und dass er keine Ersatzteile mehr vorrätig hatte. Aber wenn sie zwei Stunden Zeit hatten, dann konnte er seinen Cousin bitten, ihnen (für ein kleines Entgelt) gebrauchte Reifen zu bringen. Sie konnten sich ja inzwischen bei einem kleinen Mittagessen entspannen. Zum Glück war gleich neben der Tankstelle ein Restaurant.
Chuck E. Cheese
Eddie, nimm deinen Rucksack mit. Du kriegst was Schönes.
Als die Familie das Chuck E. Cheese betrat, war Special Ed überglücklich. Das Lokal war fast leer wegen Heiligabend, nur in einer Ecke wurde Geburtstag gefeiert. Für eineiige Zwillinge. Seine Eltern gaben Special Ed eine Spielkarte für zwanzig Dollar, dann bestellten sie eine Pizza und einen Krug Bier. Special Ed schlenderte durch die Spiele und Roboter und schaute sich nach allen Seiten um. Warum war er hier?
»Eddie«, flüsterte eine Stimme. »Eddie, pssst. Ich bin’s, Grandma.«
Special Ed drehte sich um und bemerkte einen Bad-Cat-Roboter, der ihn anlächelte. »Grandma?«
»Ja, Eddie. Hör mir jetzt genau zu. Da draußen auf dem Parkplatz hat gerade ein gefährlicher Kerl angehalten. Ich möchte, dass du bereit bist, okay?«
Special Ed nickte und richtete den Blick zum Eingang. Die Tür öffnete sich, und ein dicker, als Geburtstagsclown verkleideter Mann trat ein.
»Komm ihm nicht zu nahe, Eddie. Seine Frau hat ihn gerade verlassen. Hör auf Grandma.«
Special Ed beobachtete, wie sich der Clown der Geburtstagsfeier näherte.
»HALLO, KINDER!«, schrie der Clown.
»HALLO, ONKEL HAPPY!«, kreischten die Kleinen zurück.
Der dicke Clown zog einen Ballon heraus. »WER MÖCHTE ONKEL HAPPY BEIM BASTELN VON BALLONTIEREN HELFEN?«
»ICH ICH ICH!«, riefen die Kinder.
Schnaufend und keuchend blies der Clown lange, dehnbare Ballons auf. Erst einen. Dann noch einen. Und noch einen. Er bog und drehte alle drei wie Oberschenkelknochen, bis eine wunderbare Tiergestalt entstand.
»WAS IST DAS, KINDER? WAS HAT ONKEL HAPPY GERADE GEMACHT?«
»ES IST EIN HIRSCH! EIN HIRSCH!«, schrien sie begeistert.
Der Clown zog eine Spielzeugpistole und richtete sie auf den Hirsch.
»GANZ RICHTIG, KINDER! UND JETZT IST ES ZEIT FÜR DIE HIRSCHJAGD!«
Er drückte ab, und aus dem Lauf schoss ein langes rotes Banner mit der Aufschrift PENG! Das Banner traf den Hirsch, und die Ballons platzten. Die Kinder lachten und kreischten.
»WOLLEN WIR NOCH EINEN MACHEN, KINDER?«
»JUHU!«, plärrten die Kleinen.
»GUT! ABER DIESMAL BRAUCHE ICH EURE HILFE. DER IST WIRKLICH SCHWER.«
»Ich möchte hier weg«, sagte Special Ed.
»Das geht nicht, Eddie. Du bist aus einem bestimmten Grund hier.«
Unter Special Eds Augen verteilte der dicke Clown eine Handvoll Ballons an die Kinder. Schnaufend und keuchend wie der große böse Wolf, bliesen die Kinder sie auf.
»OKAY, KINDER! JETZT GEBT IHR ONKEL HAPPY DIE BALLONS ZURÜCK!«
»Eddie«, flüsterte Bad Cat. »Versteck dich hinter der Säule. Sofort.«
Special Ed folgte der Anweisung. Starr vor Angst beobachtete er, wie die Kinder eifrig heranflitzten.
»GUT GEMACHT, MEINE KLEINEN HELFER! JETZT SCHAUEN WIR MAL, WAS WIR SCHAFFEN, WENN WIR ALS TEAM ZUSAMMENARBEITEN!«
Onkel Happy drehte und bog die Ballons, dass sie wie Nägel über eine Tafel scharrten und quietschten. Er zog die Ballons in eine verzerrte Gestalt und hielt sie hoch wie einen Kopf auf einem Spieß.
»WAS IST DAS, JUNGS UND MÄDELS?«
»EIN CLOWN!«, schrien alle.
»SEHR RICHTIG. WIR HABEN EINEN CLOWN GEMACHT! UND JETZT IST ES ZEIT FÜR DIE CLOWNJAGD!«
Der dicke Clown griff in seine Tasche und nahm eine andere Waffe heraus.
Er richtete sie auf die Schläfe des Ballonclowns.
Das Lachen der Kinder erstarb.
»DIESER CLOWN HAT GERADE ALLES VERLOREN, JUNGS UND MÄDELS!«
Special Ed schielte zu Bad Cat, über dessen Gesicht ein schräges Lächeln zog wie ein krankes Stirnrunzeln.
»DIESER CLOWN HAT ALLES VERMASSELT, WAS ER JE ANGEFASST HAT, KINDER! UND DESWEGEN IST IHM TANTE HAPPY DAVONGELAUFEN! UND JETZT IST ONKEL HAPPY ÜBERHAUPT NICHT MEHR HAPPY!«
Plötzlich setzte er die Waffe an die eigene Schläfe.
»ALSO, WAS MEINT IHR, SOLLEN WIR DIESEN CLOWN NICHT VON SEINEM ELEND ERLÖSEN?!«
Die Eltern hatten keine Zeit mehr zu reagieren. Der Schuss krachte und traf den Clown in der Schläfe. Die Kinder wandten sich kreischend ab, und der Clown sackte leblos auf den Boden. Onkel Happys Tasche landete direkt vor Special Eds Füßen.
Sie war gefüllt mit Ballons.
Und mit Patronen.
»Los jetzt, Eddie. Niemand schaut her«, flüsterte Bad Cat.
Ohne Zögern beugte sich Special Ed vor und schnappte sich so viele Schachteln Munition, wie er konnte. Kaum hatte er sie in seinen Hulk-Rucksack gestopft, kamen auch schon seine Eltern aus der Toilette angerannt. Special Ed war richtig froh über die gelungene Aktion, denn als er es endlich geschafft hatte, den Waffensafe seines Dads zu öffnen, hatte er darin keine Patronen gefunden. Nur einen Haufen Drogen, die Big Eddie angeblich nicht nahm, genau wie Big Betty angeblich nicht zu viel trank.
»Siehst du, Eddie. Ich hab dir versprochen, du kriegst was Schönes. Jetzt kannst du Christopher vor diesem gemeinen Brady Collins beschützen. Hör auf Grandma.« Die Augen des Bad-Cat-Roboters erloschen.
Lächelnd zog Special Ed seinen Hulk-Rucksack mit über zweihundert Schuss Munition zu.