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»Diese Dreckschweine!«
Mrs. Collins sah, wie ihr Mann das Handy auf den Cafeteriatisch klatschte. Ihre Mutter lag noch immer ohnmächtig oben in ihrem Krankenhauszimmer. Doch irgendwie war seine Arbeit selbst an Heiligabend wichtiger.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie pflichtbewusst und setzte eine betroffene Miene auf.
Nur mit halbem Ohr hörte sie, wie sich ihr Mann schimpfend über »diese Dreckschweine« ausließ, die die Reifen seiner Lastwagen und Bulldozer zerstochen hatten. Eigentlich hatte er mit diesem »Scheißprojekt« im Missionswald neue Maßstäbe setzen wollen, aber irgendjemand wollte ihn anscheinend fertigmachen. So viele Verzögerungen konnte er sich einfach nicht leisten. Er steckte bis zum Hals in Schulden. Die Kredite liefen ab. Sie sollte endlich aufhören, das Geld zum Fenster hinauszuschmeißen.
Blablablablabla.
Wie oft belämmerte er sie mit diesem Thema? Fünfmal im Monat. Und wenn die Rechnungsprüfer kamen, bestimmt zehnmal. Er hätte genauso gut ein Tonband abspielen und sich die Zeit sparen können.
»Kathleen, was glaubst du, wer das alles bezahlt? Deine karitative Arbeit jedenfalls nicht!« »Aber Brad, ich habe aus dem Shady Pines ein florierendes Geschäft gemacht.« »Ein florierendes Geschäft?! Mit diesem Altenheim könntest du nicht mal deine Schuhe finanzieren!«
Wann hatte der Versöhnungssex aufgehört? Wie konnte er den Klang seiner Stimme den ganzen Tag ertragen? O Gott, laberte er immer noch? Tatsächlich, er laberte immer noch.
Mrs. Collins nickte und kratzte sich unter ihrem Diamantcollier. Dieses Jucken wollte einfach nicht weggehen. Mrs. Collins führte es darauf zurück, dass sie hier im Krankenhaus festsaß und darauf wartete, dass ihre Mutter erwachte. Sie klebte am ganzen Körper vom Schweiß, und ihre Frisur war eine Katastrophe, weil sie sich in dieser schrecklichen Toilette hier nicht anständig zurechtmachen konnte. Und sie wusste nicht, wie lange sie noch so tun konnte, als würde sie diesen Kerl nicht hassen.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, bellte er jetzt.
»Natürlich, Brad. Es ist furchtbar. Erzähl weiter.«
Während ihr Mann seine Tirade fortsetzte, bemerkte Mrs. Collins hinter ihm ein Zimmer, das mit Leuten auf Rollbetten überfüllt war. Anscheinend brachten sie die Kranken jetzt schon in die Cafeteria wie die sterbenden Soldaten in Vom Winde verweht.
Sie dachte an ihre Mutter, die gemütlich oben in ihrem Privatzimmer lag, in dem leicht noch zwei Betten Platz gehabt hätten. Warum erhoben sich die Armen nicht von ihren Tragen und drehten ihnen den Hals um? Sie
hätte es so gemacht. Keine fünf Minuten hätte sie sich diesen Scheiß bieten lassen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie reich war und diese hoffnungslosen Idioten arm blieben.
Kurz malte sich Mrs. Collins aus, wie die Leute von den Tragen aufstanden, in die Cafeteria marschierten und ihrem Mann die Zunge aus dem Mund rissen. O Gott, wie sehr sie sich das wünschte! Warum strömten sie nicht endlich herein und erdrosselten ihn, damit sie ihm nicht mehr ständig nachbeten musste, dass die Welt es auf ihn abgesehen hatte, obwohl ein flüchtiger Blick auf die Fakten und seine zahllosen Bankkonten genügt hätte, um das Gegenteil zu beweisen.
Und wenn der Mob mit ihm fertig war, konnte er gleich weiterziehen in dieses komfortable Privatzimmer, ihre Mutter aus ihrem feinen Bettzeug reißen und sie damit aufknüpfen. Dafür, dass sie ihre Erinnerungen an Dinge verloren hatte, die Mrs. Collins nie vergessen konnte. An die mit Wodka gefüllte Wasserflasche. An die Schulden und die Armut. An den brutalen Kerl, der seine eigene Tochter im Dezember mit dem Wasserschlauch abgespritzt und sie hinaus in den Garten gesperrt hatte. An die mausgraue kleine Mutter, die nie dagegen eingeschritten war, obwohl sie Dutzende Male Gelegenheit dazu gehabt hatte.
»Wenn du dich aufführst wie ein Hund, dann bleibst du auch draußen wie ein Hund«, war sein Wahlspruch gewesen.
Und was tat ihre Mutter? Nichts.
Danke für die Erinnerungen.
Seit acht Jahren schaute Mrs. Collins zu, wie die Erinnerungen ihrer Mutter nach und nach im Orkus verschwanden. Seit acht Jahren betrieb sie dieses Altenheim, um ihrer Mutter eine Betreuung zu sichern, die sie von ihr nie bekommen hatte. Warum? Weil sich das für eine Collins gehörte. Nicht für eine Keizer. Die Keizers verrotteten auf Liegen in Gängen, während die Familie Collins sich in Privatzimmern aalte. Die Keizers soffen sich mit Wodka zu Tode, während die Familie Collins durch den Verkauf des Wodkas reich wurde. Sie war jetzt eine Collins. Deshalb tat Mrs. Collins seit acht Jahren alles für ihre Mutter und erhoffte sich im Gegenzug nur, dass die Alte endlich abkratzte. Damit sie sich nicht mehr an ihrer Stelle an alles erinnern musste. Damit sie endlich nicht mehr im Aufenthaltsraum neben ihr sitzen und sich uferlose Talkshows mit uferlosen Paraden von Opfern anschauen musste, die von Moderatoren aller Geschlechter, Hautfarben und Glaubensbekenntnisse zu ihren Missbrauchserfahrungen befragt wurden, während die psychologischen Sachverständigen im Publikum davon faselten, dass die Eltern bestimmt selbst Missbrauchsopfer waren. Damit sie endlich nicht mehr sehen musste, wie Einfaltspinsel einfältige Tränen vergossen.
Müssten diese Tölpel nur drei Monate die harten Erfahrungen von Kathy Keizer machen, dann hätten sie wirklich einen Grund zum Weinen. Sollten sie doch mal probieren, wie es war, dem eigenen Vater einen Tag lang als Aschenbecher zu dienen. Wie es war, jeden Tag als hässlich beschimpft zu werden. Wie es war, als Magersüchtige fett genannt zu werden. Wie es war, jeden Abend nass in der eisigen Kälte zu stehen und auf die Aluverkleidung der Hausrückseite zu starren. Und dann sollten sie mal probieren, ob sie es schafften, diese Aluverkleidung in eine schöne Zukunft zu verwandeln.
Siehst du das Haus, Kathy? Eines Tages wirst du in einem größeren Haus leben.
Dem größten Haus in der ganzen Stadt, Kathy. Mit einem Diamantcollier.
Und einem mächtigen Ehemann. Siehst du den guten Ehemann? Und den schönen Sohn?
Jeden Tag hatte sie sich die Nägel in die Hände gebohrt, um da draußen im Garten nicht zu erfrieren. Hatte ihrem Vater beim Trinken in der warmen Küche zugeschaut. Da sollte ihr noch einmal jemand erzählen, dass dieser besoffene Saukerl selber missbraucht worden war. Denn – Überraschung! – es gab auch missbrauchende Eltern, die keine Missbrauchsopfer waren. Selbst im unaufhörlichen Wechsel von Henne und Ei hatte nicht jeder automatisch eine Ausrede. Irgendjemand musste schließlich damit angefangen haben. Eine Million Dollar hätte sie dafür gegeben, wenn nur in einer dieser endlosen und sinnlosen Schwafelshows mal ein ehrlicher Vater aufgetreten wäre.
»Ich bin aufgewacht und hab mir gesagt, heute verbrenne ich sie mit Zigaretten.«
»Warum? Weil Sie selbst misshandelt wurden?«
»Nö. Weil mir langweilig war.«
Als Dank für seine Ehrlichkeit würde Mrs. Collins diesem Mann glatt einen Scheck schicken. Und seinen Kindern einen zweiten, weil die vielleicht eine Ahnung davon hatten, was Kathy Keizer durchgemacht hatte. Alle anderen sollten bloß mal versuchen, einen Tag lang Kathy Keizer zu sein. Und rausfinden, ob sie nicht am Ende des Tages als Pfütze den Boden zierten.
»Kathleen? Was ist denn bloß los mit dir, verdammt?«, fragte ihr Mann.
Mrs. Collins schielte zur Uhr an der Cafeteriawand. Irgendwie waren zehn Minuten vergangen.
»Tut mir leid, Schatz. Ich bin nicht ganz auf der Höhe. Könntest du das am Schluss noch mal wiederholen?«
»Ich habe gesagt, dass ich zum Missionswald muss, um das Ganze irgendwie in den Griff zu kriegen. Ich weiß, es ist Heiligabend, aber wir haben nun mal eine Deadline.« Er schien sich zu wappnen, als hätte er Angst, sie würde ihm für sein Ansinnen einen neuen Scheitel ziehen.
Doch sie lächelte nur. »Verstehe, Schatz. Wenn du am Abend von der Arbeit heimkommst, kriegst du ein besonders feines Essen.«
»Geht’s dir gut, Kathleen?«
»Natürlich.« Sie blieb völlig gelassen.
»Sicher?«
»Fahr zur Arbeit. Ich warte auf dich, bis du wieder da bist.« Mit diesen Worten drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen.
Er hätte nicht verwirrter sein können, wenn sie ihm zum Hochzeitstag ohne das Minimum von drei Gläsern Chardonnay einen geblasen hätte. Mr. Collins kannte vieles von seiner Frau, aber Verständnis nicht. »Okay. Äh, ruf mich an, wenn du was brauchst.«
Sie nickte, und er zog ab. Als er endlich außer Sichtweite war, senkte Mrs. Collins den Kopf und entdeckte, dass ihre Hände bluteten, weil sie die Nägel so tief hineingegraben hatte. Sie hatte es nicht einmal gemerkt. Sie ließ den Blick über die ungewaschenen Patienten auf den Liegen gleiten.
Alle starrten sie an.
Nach dem Verschwinden ihres Mannes war natürlich nicht auszuschließen, dass sie über sie
herfallen würden. Wie es den Frauen reicher Männer bei einer Revolution erging, wusste sie aus dem Geschichtsunterricht. Ihr war klar, dass diese Leute sie mit ihrem Geglotze einschüchtern wollten. Aber sie hatten keine Ahnung.
Für Mrs. Collins waren sie bloß Aluverkleidung.
Das Starrduell dauerte über eine Minute. Nachdem die letzte Person in der Cafeteria blinzelnd den Blick gesenkt hatte, verließ Mrs. Collins den Saal. Ob Vernunft oder eine Stimme in ihrem Kopf – etwas sagte ihr, dass sie ihren Sohn nach Hause holen sollte. Sie brauchte jetzt ein Glas Weißwein und ein langes, heißes Bad. Sie konnte sich nicht noch einmal in den Privaträumen ihrer Mutter waschen. Also stieg sie hinauf und stellte fest, dass ihre Mutter immer noch ohnmächtig war.
Ihr Sohn saß bei ihr und las ihr vor. »Dass ich dich besser sehen kann.«
»Brady, wir müssen heim«, flüsterte sie.
»Ich will bei Grandma bleiben.«
»Grandma schläft doch noch«, erwiderte sie sanft.
Brady schaltete auf stur. »Nein, Grandma ist wach. Wir haben uns gerade unterhalten.«
»Erzähl mir keine Lügen. Hol deine Jacke.«
»Ich lüge nicht.«
Mrs. Collins musterte ihre fest schlafende Mutter. Auch wenn sie üble Witze von ihrem Sohn kannte, das war ein neuer Tiefpunkt. »Brady Collins, ich zähle jetzt bis drei. Bei drei sitzt du in der Hundehütte.«
Brady rührte sich nicht. »Ich schwöre, dass wir uns unterhalten haben.«
»EINS.«
»Grandma, wach auf.«
»ZWEI«, fauchte sie.
»Bitte, Grandma! Ich will nicht mit ihr heimfahren!«
»DREI!« Mrs. Collins packte ihren Sohn und riss ihn zu sich herum. Sie schaute ihm tief in die Augen. »Wenn du mir vor all diesen Leuten eine Szene machst, steck ich dich bis zum Weihnachtsmorgen in die Hundehütte. Das schwöre ich bei Gott.«
Bradys Augen wurden schwarz, und er starrte sie so lange an, wie er es ertrug. Doch am Ende tat er, was alle bei seiner Mutter taten. Auch sein Dad.
Er blinzelte als Erster.
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatten, beschlich Mrs. Collins ein merkwürdiges Unbehagen. Es lag nicht an dem Marsch durch das halbe Krankenhaus, auch wenn der gaffende Pöbel leicht beunruhigend war. Es lag auch nicht an der Fahrt nach Hause, trotz der vielen Unfälle, umgestürzten Bäume und langen Schlangen an der Tankstelle.
Nein. Das Problem war Brady.
»Mom, wie heißt du?«, fragte er.
»Kathleen Collins.«
»Ich meine früher. Wie hast du geheißen, als du Dad kennengelernt hast?«
»Kathy Keizer. Warum interessiert dich das?«
»Nur so.«
Mrs. Collins war vielleicht nicht die warmherzigste Mutter unter der Sonne, aber sie kannte ihren Sohn. Brady stellte keine Fragen. In dieser Hinsicht war er genau wie sein Vater. Außerdem war er auf einmal so freundlich zu ihr. Bloß dass es eine falsche Freundlichkeit war. Eine berechnende Freundlichkeit. In seinem Gesicht klebte ein künstliches Lächeln. Ein Schweigen, das sich als Frieden tarnte. Zu Hause angekommen, liefen sie die lange Einfahrt durch das Anwesen hinauf. Die Autos der Bediensteten waren alle weg. Sie hatten die günstige Gelegenheit ergriffen und waren ausgeflogen. Mrs. Collins und ihr Sohn waren ganz allein.
»Mom, möchtest du ein Sandwich?«
»Nein danke. Ich brauche bloß ein Bad. Und hast du nicht was vergessen?«
»Was?«
»Ich habe bis drei gezählt. Du kannst mich nicht hinters Licht führen mit deinem netten Benehmen. Du kennst die Regeln. Wenn du dich aufführst wie ein Hund, wirst du auch behandelt wie ein Hund. Raus mit dir.«
Zwischen ihnen wurde es still. Mrs. Collins weidete sich nicht daran, ihr Kind zu bestrafen. In diesem Punkt war sie das Gegenteil von ihrem Vater. Sie hätte Brady nie mit dem Schlauch abgespritzt. Sie hätte ihn nie die ganze Nacht ungeschützt den Elementen ausgesetzt. Er hatte eine Hundehütte, in der er sich wärmen konnte. Aber die Regeln existierten nicht ohne Grund. Er musste lernen, über sich hinauszuwachsen. Er brauchte seine eigene Aluverkleidung, auf die er seine Träume malen konnte. Es diente nur seinem eigenen Besten.
»Eine Stunde, Brady. Oder willst du zwei?«
Stumm starrte er sie an. Angespannt wie eine Schlange. »Eine.«
»Gut, dann setz dich eine Stunde raus, während Mom ein Bad nimmt.«
»Gut, Mutter.«
Sie hatte mit Widerstand gerechnet und bekam Schuldgefühle, als er ausblieb. Vielleicht hatte er es diesmal doch nicht verdient … Aber sie wollte nicht, dass ihr Sohn die falsche Lektion lernte und auf einer Liege in einer Cafeteria endete. Natürlich nicht. Also brachte sie ihn unter den Blicken der Hirsche hinaus zur Hundehütte im Garten. Sogar seine Jacke durfte er behalten.
»Ich hab dich lieb, Brady.« Mit diesen Worten ging sie zurück in die warme Küche, um sich ein kaltes Glas Chardonnay einzuschenken.
Brady antwortete nicht. Er setzte sich einfach in die Hundehütte und beobachtete sie, wie abgemacht. Seine Großmutter hatte ihm erzählt, dass es so kommen würde. Sie hatte ihm genau erklärt, was sie von ihm erwartete, bevor sie wieder die Augen schloss und sich schlafend stellte. Sie wollte ihre Tochter nicht durch etwas so Banales wie eine Mutter ablenken, die das Vergessen hinter sich gelassen hatte.
»Brady, kannst du deiner Grandma einen großen Gefallen tun?«
»Klar, Grandma.«
»Wenn sie dich wieder in diese Hundehütte steckt, sorg dafür, dass es das letzte Mal ist. Diese Familie muss endlich heil werden. Einverstanden?«
»Einverstanden, Grandma.«
Die alte Frau lächelte zahnlos. »Danke, Brady. Du bist ein wunderbarer kleiner Junge. Ich weiß, wie schwer es war. Alte Leute und Kinder sind für den Rest der Welt unsichtbar. Aber ich verrat dir ein Geheimnis.«
»Was denn?«
»Dadurch sind wir unschlagbar beim Versteckenspielen.«
Nachdem Mrs. Collins hinaufgegangen war, um ihr Schaumbad zu nehmen, stahl sich ihr Sohn zurück ins Haus und in die Küche. Mit seinen kleinen, durchfrorenen Fingern zog er das lange Messer aus dem Block. Dann schlich er lautlos die Treppe hinauf, wie es ihm seine Großmutter eingeschärft hatte.