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Mrs. Collins schlüpfte in Morgenmantel und Pantoffeln und ging zum großen Bad. Sie öffnete die Tür und genoss den Anblick der herrlichen Gestaltung aus Marmor und Glas. Die Leute ihres Mannes arbeiteten noch an den neuen Schränken und hatten mehrere Dosen Farbe und Beize hinterlassen. Doch bald würde der Raum wieder ganz ihr gehören.
Sie ließ sich ein schönes, warmes Bad ein. Sie kippte etwas Lavendelbadezusatz hinein und beobachtete, wie es schäumte. Während die Wanne volllief, wischte Mrs. Collins den Dampf ab, der sich auf dem Spiegel sammelte wie Dunst auf einer Windschutzscheibe. Sie betrachtete das Diamantcollier um ihren Hals und empfand Stolz darauf, dass die kleine Kathy Keizer diesen kalten Garten hinter sich gelassen hatte. Mit schierer Willenskraft hatte sie die Aluverkleidung in dieses Bad mit der herrlichen Wanne und dem herrlichen Marmorboden verwandelt.
Siehst du das Haus, Kathy? Eines Tages wirst du in einem größeren Haus leben.
Dem größten Haus in der ganzen Stadt. Siehst du den guten Ehemann? Und den schönen Sohn?
Mrs. Collins ließ sich nackt in die Wanne gleiten. Sie wusste nicht, was sich besser anfühlte. Das warme Wasser oder der kalte Wein? Ihr Blick streifte die Wunden an ihren Handflächen. Schleier aus apfelrotem Blut schienen für einen Moment durchs Wasser zu ziehen wie sanfte rosige Wolken. Mrs. Collins schloss die Augen und wartete, dass das heiße Wasser die Kälte aus den Knochen saugte. Die Kälte des Gartens, die sie nicht abschütteln konnte. Nicht einmal bei den Familienausflügen nach Hawaii, wenn sie versuchte, die hässlichen Brandmale und Narben unter der Abdeckcreme zu vergessen. Es war immer da.
Mein Gott, bist du hässlich, Kathy Keizer.
Sie wollte die Stimme nicht hören. Nicht heute Abend. Sie war nicht mehr Kathy Keizer. Sie erinnerte sich noch gut an die Worte des Priesters: »Hiermit erkläre ich Sie zu Mr. und Mrs. Bradford Collins.« Ab da hatte sie den Namen Kathleen benutzt. Mrs. Kathleen Collins.
Kathy Keizer war für sie genauso tot wie ihr Vater.
Nach der Rückkehr aus den Flitterwochen in Europa wollte Kathleen Collins nur noch ihr Traumhaus bauen. Ihr Mann war für ein Haus in Deerfield nahe bei der Route 19 und seinem Büro. Doch die frischgebackene Mrs. Collins hatte nicht die ganze Zeit im Garten gefroren, um jetzt ein gebrauchtes Haus zu kaufen. Alles musste neu sein. Elegant. Modern. Aus Glas und Stahl. Keine Aluverkleidung. Ein großer Kamin, um ihre Knochen zu wärmen. Ein herrliches Bad, um die hässlichen Erinnerungen wegzuspülen. Mr. Collins war mit allem einverstanden, weil er sie damals noch liebte. Für ihn war seine Frau so schön wie das Haus für sie.
Mein Gott, bist du hässlich, Kathy Keizer.
»Ich heiße Kathleen Collins, gottverdammt!«
Ihr Fauchen hallte von dem importierten Marmorboden wider. Sie hatte ihn von ihrer dritten Reise nach Italien mitgebracht, ein Land, das ihr Vater nie gesehen hatte. Sie schloss die Augen und bot der Stimme die Stirn. Das hatte sie schon oft getan und immer gewonnen.
Die Narben kannst du nicht verdecken, Kathy Keizer.
Dir wird nie richtig warm sein, Kathy Keizer.
Mein Gott, bist du hässlich, Kathy Keizer.
Selbst bei der Bestattung ihres Vaters besiegte sie die Stimme. Sie hasste den Mann im Sarg aus tiefstem Herzen, und trotzdem vergoss sie ein paar Tränen für ihn, weil sich das für eine Collins gehörte. Sie beobachtete, wie er mitten im Winter in die Erde hinuntergelassen wurde. Seitdem war er auf alle Ewigkeit in einem kalten Garten begraben. Begraben mit sämtlichen Geheimnissen, weil sie nicht vorhatte, ihre Vergangenheit in einer Talkshow für Leute auf Rollbetten auszubreiten. Sie hatte nicht vor, als einer von unzähligen Talkshowgästen die Idee zu untermauern, dass alle missbrauchenden Eltern selber Missbrauchsopfer waren. Für sie selbst kam ein Begräbnis nicht infrage. Sie würde sich einäschern lassen. Sie hatte genug Kälte durchgemacht.
»Mom?«
Mrs. Collins schlug die Augen auf und bemerkte ihren Sohn in der Tür. »Brady, was machst du denn hier?«
»Mir war kalt.« Brady trat auf sie zu.
»Was hast du da hinter dem Rücken, Brady?«
»Ein Geheimnis.«
»Das ist keine Antwort.«
»Eine andere Antwort wirst du nicht von mir kriegen, Mom.« Brady machte noch einen Schritt.
»Das reicht jetzt, Mister. Möchtest du vielleicht die ganze Nacht draußen in der Hundehütte verbringen? Wenn du dich aufführst wie ein Hund, wirst du auch behandelt wie ein Hund.«
»Du bist der Hund, Mom. Dein Diamantcollier ist dein Hundehalsband. Du bist bloß die Schlampe von einem reichen Typen.« Brady machte wieder einen Schritt.
Sie schaute ihm in die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich aufsässig zeigte. Doch diesmal war es anders. Es war … beängstigend. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr hier die entscheidende Kraftprobe mit ihrem Sohn bevorstand. Wer von ihnen würde als Erster blinzeln? Das war der Krieg.
Und sie hatte nicht vor zu verlieren. »Mister, du marschierst jetzt sofort hier raus, oder du bleibst eine Woche lang in dieser gottverdammten Hundehütte. Haben wir uns verstanden?«
Wortlos kam Brady weiter auf sie zu. Sein Gesicht war völlig ruhig. Er hatte keine Angst mehr vor ihr.
»Bradford Wesley Collins, ich zähle bis drei.«
»Gut, ich zähle auch.« Wieder ein Schritt.
Mrs. Collins hatte bisher jeden zum Nachgeben gezwungen, der sich auf ein Starrduell mit ihr eingelassen hatte. Doch Bradys Gesicht war erfüllt von einem dumpfen, stillen Zorn, den sie gut kannte. Es war, als wollte sie ihr eigenes Spiegelbild niederstarren.
»EINS!«, fauchte sie.
Über Bradys Gesicht zog ein schräges Lächeln wie ein krankes Stirnrunzeln.
»ZWEI!«
Da löste Brady die Hände vom Rücken und brüllte: »DREIIIIIII!« Mit erhobenem Messer stürzte er auf die Badewanne zu.
Mrs. Collins stieß ihn weg und hievte sich aus dem Wasser. Jeder Gedanke an eine Disziplinierung ihres Sohns hatte sich in Luft aufgelöst. Hier ging es nur noch um Selbstverteidigung. Beim Landen rutschte sie weg und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Sie lag auf dem importierten italienischen Marmor, als Brady in ihr Blickfeld trat. Turmhoch ragte er über ihr auf. Sie war ganz benommen und wusste nicht einmal mehr, ob sie wach war oder in der Badewanne vor sich hindöste.
»Mom? Grandma sagt, es tut ihr leid, was Grandpa mit dir gemacht hat, aber wir haben jetzt was Wichtigeres zu tun, okay?« Brady berührte sie am Arm.
Sie spürte das Prickeln durch seine Fingerspitzen wie die erlöschende Glut eines Lagerfeuers. Brady reichte ihr das Messer, und sie überlegte, ob sie sich damit die Kehle durchschneiden oder ihn niederstechen sollte. Doch dafür war das Messer nicht gedacht. Nein, es war für etwas anderes.
Brady öffnete die Schminkschublade und gab ihr all ihre Lieblingsartikel. Lidschatten. Abdeckcreme. Lippenstift.
»Grandma meint, es ist höchste Zeit, dass du dich nicht mehr hässlich fühlst. Du bist nicht mehr Kathy Keizer. Du bist Kathleen Collins. Ich soll dir helfen, damit du dich endlich hübsch fühlst, okay?« Brady streckte den Arm aus und half ihr auf.
Ihr war immer noch leicht schwindlig, und Brady half ihr mit sanfter Hand hinüber zum Stuhl. Zu zweit blickten sie in den Spiegel des herrlichen Toilettentischs mit der maßgefertigten Beleuchtung wie für ein Hollywood-Starlet. Er streifte ihr den Bademantel über die Schultern, um ihre Brandmale zu verdecken.
»Grandma sagt, du bist kein Hund, Mom. Hör auf Grandma.« Brady griff ihr in den Nacken und nahm das Diamantcollier ab.
Mrs. Collins blickte auf ihren langen Hals. Früher, bei Kathy Keizer, war die Haut dort so straff gewesen. Jetzt hatte Mrs. Collins einen runzligen Hals. Es fing an zu jucken, und sie kratzte sich. Doch es half nicht. Das Jucken wurde bloß schlimmer. Da hatte sie eine Idee. Sie griff nach der Abdeckcreme und füllte die hässlichen roten Dellen aus, die die Diamanten auf ihrer Haut hinterlassen hatten.
»So ist es gut, Mom. Es wird Zeit, dass Kathy Keizer verschwindet.«
Mrs. Collins trug weiter Creme auf, weil das Rot noch immer durchschimmerte. Nachdem jeder Zentimeter Hals geschminkt war, ging sie zum Gesicht über. An Weihnachten musste sie eine gute Figur abgeben. Was sollten sonst die Leute denken? Schließlich war sie jetzt Kathleen Collins. Kathy Keizer musste verschwinden.
Mein Gott, bist du hässlich, Kathy Keizer.
Sie bemalte ihren Mund mit leuchtend rotem Lippenstift, doch es passte nicht. Sie sah nicht aus wie Kathleen Collins, sondern wie die alberne kleine Kathy Keizer, die sich bei ihrem ersten Schminkversuch wie ein Straßenmädchen zurechtgemacht hatte. Wie eine Nutte. Wie ein Clown. Das Gesicht eines Clowns.
»Grandma möchte, dass du dich schön fühlst«, sagte Brady.
Mrs. Collins schmierte sich noch mehr Abdeckcreme auf die Haut. Schicht um Schicht. Wie Butter aufs Brot. Trotzdem reichte es nicht. Sie wühlte in ihrer Schminkschublade. Sie zog den flüssigen Selbstbräuner heraus und spritzte sich eine Lache in die Hände. O Gott, diese Handflächen. Diese Narben. Das passte einfach nicht zu Kathleen Collins’ eleganten Händen. Das waren die Hände von Kathy Keizer.
Mein Gott, bist du hässlich, Kathy Keizer.
Sie rieb sich den Selbstbräuner über die Hände. Über alle Narben. Über alle Erinnerungen. Aber es reichte nicht. Noch immer nahm sie das kleine Mädchen draußen in der Kälte wahr, das sehnsüchtig in die warme Küche starrte. Sie griff nach mehr. Lidschatten. Lidstrich. Lippenstift in allen Tönen. Sie schmierte es sich über den ganzen Körper. Und es reichte noch immer nicht. Die Narben wollten einfach nicht verschwinden. Mrs. Collins goss und klatschte sich alles Make-up auf die Haut, das sie hatte. Umsonst, Kathy Keizer wollte nicht verschwinden. Verzweifelt schaute sie sich nach weiterer Schminke um.
Doch sie hatte nur noch Malerfarbe.
Mrs. Collins schnappte sich die Farbdosen der Bauarbeiter und hebelte sie mit dem Messer ihres Sohns auf.
»So ist es gut, Mom.«
Sie trat vor den Spiegel und schmierte sich Farbe aufs Gesicht. Eine schöne graue Grundierung. Eine dicke weiße Schicht. Sie goss sich die Farbe übers Haar. Über den ganzen Körper. Das Jucken unter ihrem Hals hörte dennoch nicht auf. Egal wie viel Farbe sie sich auf die Haut schüttete, sie konnte sich nicht schön fühlen.
Weil du innen drin hässlich bist, Kathy Keizer.
Die Stimme war wieder da. Sie wusste nicht, wie sie diesmal gewinnen sollte. Und vielleicht hatte die Stimme ja recht. Natürlich, dachte sie. Die Stimme hat
recht. Mein Inneres ist vernarbt und hässlich. Dort hält sich Kathy Keizer versteckt. Dort muss die Farbe hin.
»Mom.« Die Stimme ihres Sohns war ganz ruhig.
»Ja, Brady?«
»Weißt du noch, wie du mal gedacht hast, dass es irgendwo Eltern geben muss, die ihre Kinder missbrauchen, obwohl sie selbst keine Missbrauchsopfer sind?«
»Ja?«
»Und dass du dich als glückliche Frau ins Grab legen könntest, wenn dir das jemand bestätigen würde?«
»Ja.« Die Tränen zogen Spuren durch die Farbe auf ihren Wangen.
»Also, ich weiß ganz genau, dass es so ist«, sagte er leise.
In ihr brandete große Erleichterung auf. Lächelnd rührte Mrs. Collins mit Bradys Messer die Farbe um wie Suppe über einem Lagerfeuer. Dann führte sie die Dose an den Mund. Sie überlegte, ob sie vielleicht schlief. Ja, es musste ein Traum sein, denn wie hätte sie sich sonst die glühenden Augen ihres Sohns erklären sollen? Schwarz wie Kohle.
»Und, Mom, möchtest du wissen, wer der erste Vater war, der seine Kinder missbraucht hat, obwohl er selbst nicht missbraucht wurde?«
»Ja, Brady. Bitte sag es mir.«
Brady kauerte sich vor ihr auf die Marmorplatte. Als sich seine Stimme veränderte, wurde ihr Blut so kalt wie damals draußen im Garten. Denn sie kannte diese Stimme. Es war die Stimme ihres Vaters. Nur verlangsamt, als hätte man eine alte Single mit Geschwindigkeit dreiunddreißig abgespielt.
»diE antworT lauteT: gotT.«
Mrs. Collins hob die Dose und deckte Kathy Keizers Inneres zu.