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Mary Katherine schlug die Augen auf. Draußen ging gerade die Sonne unter. Die Übelkeit hing in ihrem Magen wie ein Klumpen. Es war Heiligabend. Doch heute gab es keine Pilzsuppe bei Tante Gerri für sie. Und auch keine Christmette bei Father Tom. Sie war mit zweihundert Stundenkilometern gefahren. Und in dem entscheidenden Moment, als ihr der Hirsch vor das Auto sprang, hatte Mary Katherine nur an ihr eigenes Heil gedacht. Um nicht in der Hölle zu landen, hatte sie das Steuer herumgerissen und stattdessen einen kleinen Jungen und seine Mutter erfasst.
Du bist so egoistisch, Mary Katherine. Du bist so egoistisch.
Die Stimme krallte sich in ihren Magen, und die Erinnerungen schwappten über sie hinweg wie ein Hochwasser. Der schreckliche Aufprall. Das brutale Zerreißen von Metall, das Zerplatzen von Glas. Die Rettungsschere, die beide Autos aufschnitt wie Suppendosen. Die Sanitäter, die Christopher und Mrs. Reese herausholten. Das waren so nette Leute. So gute Menschen.
Du hast ein Kind überfahren, um nicht in die Hölle zu kommen, Mary Katherine.
Mary Katherine hätte alles dafür gegeben, wenn sie mit dem Kleinen hätte tauschen können. Doch sie hatte nur einen Tag verschlafen müssen, um wieder auf der Höhe zu sein. Der Gurt und der Airbag hatten dafür gesorgt, dass sie glimpflich davonkam. Ihr ging es gut. Wenn der Airbag sie nur zerquetscht hätte! Wenn der Gurt sie nur erwürgt hätte! Sie hatte es verdient, bei diesem Unfall zu sterben.
Endlich zwang sich Mary Katherine, den Blick auf ihren Körper zu richten. Sie trug einen Krankenhauskittel. An ihren Zeigefinger war ein Kontrollmonitor geklemmt. Das Herzfrequenzgerät piepte und piepte und piepte. Bei ihrer Einlieferung hatte ihr die erschöpfte Schwester Tammy versichert, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Sie brauchte nur ein wenig Ruhe. Der Arzt hätte sie vielleicht sogar gleich nach Hause geschickt.
Wenn da nicht das Baby gewesen wäre.
Die Tür ging auf.
»Mary Katherine?« Ihre Mutter stürzte weinend zu ihrer Tochter und drückte sie immer wieder an sich.
»Mom, es tut mir so leid.«
»Gott sei Dank ist dir nichts passiert«, sagte ihre Mutter. »Gelobt sei Jesus Christus.«
Dann trat ihr Vater ein. Sein Kiefer knackte verspannt vom stundenlangen Zorn. Zorn über ihren Ungehorsam. Über ihre Fahrlässigkeit. Über die Krankenhausrechnungen und die Versicherungsansprüche, die die Familie zusätzlich zu den Studiengebühren für die Notre Dame mit Schulden belasten würden.
»Dad, es tut mir so leid.«
Er blieb stumm wie eine Statue. Und er schaute sie nicht an. Er stand bloß da und kratzte sich an der kahlen Kopfhaut. Als kleines Kind hatte sie geglaubt, dass er sich das Haar weggekratzt hatte wie mit einem Radiergummi.
Sie wartete auf eine Antwort, und als er schwieg, fragte sie: »Wie geht es Christopher?«
»Er liegt im Koma. Kann sein, dass er stirbt, Mary Katherine.«
Alle Gewissensbisse ihres Lebens wurden im Vergleich zu diesem Moment zur Trockenübung. Mary Katherines Gesicht brannte buchstäblich vor Scham. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Stimme bebte. »Es tut mir leid, Dad. Das ist alles meine Sch…«
Er schnitt ihr das Wort ab. »Was hattest du um zwei Uhr nachts auf der Straße zu suchen?« Seine Stimme klang ganz anders als sonst. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.
Stumm suchte Mary Katherine den Blick ihrer Mutter.
»Schau nicht sie an, schau mich an. Was hattest du dort zu suchen, Mary Katherine?«
Voller Angst starrte Mary Katherine ihrem Vater in die Augen. »Ich war in der Kirche.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, begann ihr Magen zu rumoren. Dabei war es keine Lüge. Sie hatte die Kirche besucht. Allerdings erst, nachdem sie drei Schwangerschaftstests gekauft hatte. Nachdem sie auf drei Streifen gepinkelt hatte. Nach drei positiven Tests. Vater. Sohn. Heiliger Geist.
»Zum Beten?« Die Augen ihrer Mutter wurden weich.
»Ja, Mom.«
»Warum?«, fragte ihr Vater.
Mary Katherine versuchte, Zeit zu gewinnen. »Wie bitte?«
Ihr Vater starrte sie an. Mit immer noch wachsendem Zorn. »Du wusstest, dass wir heute zur Christmette fahren, und trotzdem hast du heimlich um zwei Uhr früh das Auto genommen, um in der Kirche zu beten?«
»Ja, Dad.«
»WARUM?«
Mary Katherine kam sich vor wie ein im Scheinwerferlicht erstarrter Hirsch. »Ähm …«
»WARUM HAST DU GEBETET?«
Mary wandte sich ihrer Mutter zu.
»Bitte, Schatz. Warum hast du gebetet?«, fragte ihre Mutter leise.
»Mommy …« Mary Katherine fühlte sich auf einmal zehn Jahre jünger. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Bestimmt hab ich was Falsches getan, ich weiß bloß nicht was. Vielleicht liegt es daran, dass ich es gedacht habe, weil ja schon der Gedanke die Tat ist. Aber ich habe nicht gewusst, dass das so sein kann. Ich schwöre es.«
»Erzähl mir einfach, warum du gebetet hast, Schatz. Egal was es ist, zusammen finden wir schon eine Lösung.«
Wieder bekam Mary Katherine feuchte Augen.
Ihr Vater packte sie an der Hand. »SCHLUSS MIT DEM GETUE! ICH WILL EINE ANTWORT, VERDAMMT! WARUM HAST DU GEBETET?«
»Daddy, ich bin schwanger.«
Mit der Wahrheit flossen die Tränen. Schluchzend flüchtete sie sich in die Arme ihrer Mutter. Kurz keimte in Mary Katherine Hoffnung auf. Ihre Mutter liebte sie noch immer. Sie konnte auf die Notre Dame gehen und eine tolle Arbeit finden. Sie konnte ihrem Vater alles zurückzahlen und Christopher helfen, damit er wieder gesund wurde. Sie nahm es sich fest vor. Weil ihre Mutter ihr vergeben hatte. Weil sie geliebt wurde, obwohl sie es nicht verdiente.
»Seit wann hast du Sex mit Doug?«
Mary Katherine blickte zu ihrem Vater auf.
Er wirkte unendlich enttäuscht. »Seit wann hast du Sex mit Doug?«, wiederholte er.
»Ich hatte keinen Sex mit ihm.«
»Was? Du schläfst mit anderen?«
»Nein, Dad.«
»Wer ist dann der Vater?«
Mary Katherine blieb stumm.
Ihre Mutter fasste weich nach ihrer Hand. »Wer ist der Vater, Schatz?«
»Ich weiß es nicht, Mom.«
»Du weißt es nicht? Wie viele waren es denn?« Ungläubig schüttelte ihr Vater den Kopf.
»Gar keiner.«
»Was soll das heißen?!«
»Ich hatte noch nie Sex.«
»Und wieso bist du dann schwanger?« In seinen Augen spiegelte sich Verwirrung, die die Wut zurückhielt wie ein bröckelnder Damm.
Mary Katherine konnte den Anblick nicht mehr ertragen. »Ich weiß es nicht. Das hab ich doch schon gesagt. Ich weiß nicht, wie es passiert ist.«
»Wer ist der Vater? Raus mit der Sprache!«
Mary Katherine wandte sich wieder an ihre Mutter. »Es gibt keinen Vater. Das wollte ich damit sagen. Ich verstehe nicht, was ich getan habe. Bitte hilf mir, Mom.«
»Schon gut, Schatz. Du musst niemanden schützen. Erzähl uns einfach, wer der Vater ist.«
»Mom … es gibt keinen Vater. Es ist eine unbefleckte Empfängnis.«
Ihr Vater versetzte ihr eine Ohrfeige. »Schluss mit dieser Blasphemie! Mit wem hast du geschlafen?«
»Mit niemandem, Daddy.«
»Wer ist der Vater?«
»Ich bin Jungfrau.«
»MARY KATHERINE, WER IST DER VATER?!«
Mary Katherine wappnete sich innerlich, doch ihr Vater schlug sie nicht mehr. Stattdessen trat er mit einem Ausdruck äußerster Verachtung hinaus in den Korridor. Mary Katherine sank ihrer Mutter in die Arme und schluchzte so heftig, dass ihr erst nach mehreren Sekunden etwas Entsetzliches auffiel.
Ihre Mutter drückte sie nicht an sich.
»Mom? Kannst du mir vergeben?«, fragte sie flehend.
Ihre Mutter wollte sie nicht mal ansehen. »Das kann nur Gott.«
Mary Katherine hätte es auf sich genommen, wenn ihr Vater sie stundenlang geschlagen hätte. Aber von ihrer Mutter konnte sie nicht einmal zehn Sekunden Enttäuschung ertragen.
Kurz darauf kehrte ihr Vater mit einem Arzt zurück, den Mary Katherine nicht kannte.
»Hallo, Mary Katherine. Ich bin Dr. Green. Wir geben dir jetzt ein leichtes Beruhigungsmittel.«
Auf seine Anweisung hin begann eine Schwester, Mary Katherines Arm mit einem Wattebausch und einem Desinfektionsmittel zu reinigen.
»Das ist nur, damit dir der Transport leichter fällt«, erklärte Dr. Green.
»Was für ein Transport? Komme ich wieder nach Hause?«
»Nein, du bleibst fürs Erste hier.«
»Dad, was bedeutet das?«
Ihr Vater wich ihrem Blick aus.
»Mom?«
Ihre Mutter blieb stumm.
Da begriff Mary Katherine. Sie hielten sie alle für verrückt. Sie wollte auffahren, doch schon stürmten Pfleger ins Zimmer. »Bitte, Mom. Lass das nicht zu.«
»Du brauchst Hilfe, Schatz«, erwiderte ihre Mutter.
»Mom, es ist eine unbefleckte Empfängnis. Das hast du mir doch ein Leben lang beigebracht.«
Die Pfleger packten sie. Sosehr sie sich auch sträubte, sie waren zu stark.
»NEIN!«, schrie sie. »BITTE!«
Der Arzt zückte die Spritze.
»ICH LÜGE NICHT! ICH SCHWÖRE ES BEI MEINER SEELE! DA PASSIERT ETWAS SCHRECKLICHES!«
Der Arzt bohrte Mary Katherine die Nadel in den Arm.
Sekunden später wurde sie ganz schlaff. Kurz bevor sie einschlief, wandte sie sich noch einmal mit ruhiger Stimme an ihre Mutter. »Mom, bitte lass nicht zu, dass sie mich in die Hölle bringen.«
Ihre Mutter kehrte ihr den Rücken zu, und die Pfleger schleiften sie aus dem Zimmer.
»Du brauchst Hilfe, Mary Katherine«, sagte der Arzt. »Es ist Zeit.«