88
40,5 Grad
piEp.
Christophers Mutter harrte vor dem Zimmer ihres Sohns aus. Am liebsten hätte sie mit bloßen Händen die Glasscheibe zertrümmert. Spätestens bei 41,5 Grad, wenn sein Gehirn zu kochen begann, musste sie handeln. Auch wenn die Wachleute mit ihren Wänsten zu beiden Seiten der Tür standen. Sie kratzten sich wie besessen über das fieberverschwitzte Gesicht. Und warteten nur auf einen Vorwand, um sie wegschleifen zu können.
40,6 Grad
piEp.
Die Eingangstür summte wie ein Hornissennest, und Schwester Tammy kehrte zurück auf die Intensivstation. An ihrer Dienstkleidung klebte der Zigarettenrauch wie ein Klettverschluss. Mit einer Lotion wusch sie sich ausgiebig die Hände, die hinterher rochen wie ein Lavendelaschenbecher.
Schnell trat Christophers Mutter auf sie zu. »Entschuldigen Sie bitte, Schwester.« Sie sprach so sanft, wie sie nur konnte. »Ich muss jetzt wieder zu meinem Sohn.«
Schwester Tammy rieb sich die müden Augen und schaute durch die Glasscheibe. Der Arzt reagierte mit einem gereizten Kopfschütteln. Jedes Kind hätte die Geste deuten können: DIE MUTTER BLEIBT DRAUSSEN, UND SIE KOMMEN GEFÄLLIGST REIN UND HELFEN MIR.
»Tut mir wirklich leid, meine Liebe«, antwortete sie in herzlichem Ton. Mit geübtem Auge prüfte sie durch das Fenster Christophers Vitalparameter. »Mrs. Reese, ich weiß, dass seine Temperatur sehr hoch ist, aber machen Sie sich keine Sorgen. Er wird nicht sterben.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Christophers Mutter.
Schwester Tammy senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, damit ihre Kollegen sie nicht hören konnten. »Weil seit über einem Monat niemand gestorben ist. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott ausgerechnet bei Ihrem Sohn wieder damit anfängt.«
»Was?«
»Ja. Seit sie das Skelett von dem kleinen Jungen im Wald gefunden haben, ist niemand mehr gestorben. Ein Weihnachtswunder.«
»Jesus Christus«, ächzte Ambrose.
Obwohl der Ausdruck gut auf die Situation passte, war Schwester Tammy anzumerken, dass sie den Ton des alten Mannes merkwürdig fand. »Ja, Sir.« Sie rümpfte die Nase. »Gelobt sei Jesus Christus.« Ohne ein weiteres Wort ging Schwester Tammy in Christophers Zimmer.
Christophers Mutter und Ambrose blieben allein zurück. Ihr Schweigen hatte seinen eigenen Puls. Kate Reese fasste nach den Griffen von Ambrose’ Rollstuhl und begann eine Runde durch die Intensivstation. Es war förmlich mit Händen zu greifen. In den wenigen Stunden, in denen sie Davids Tagebuch gelesen hatten, hatte sich die Zahl der Patienten verdreifacht. Es gab keine freien Rollbetten mehr. Nur noch Schreie und Krankheit. So viele leidende Menschen. So viele zornige Seelen. Verschwitzte Gesichter. Juckend. Fiebrig. Das Jucken hörte nicht auf. Das Krankenhaus war am Rand eines Aufruhrs.
»Sieht es so schlimm aus, wie es klingt?«, fragte Ambrose.
»Noch schlimmer«, antwortete Kate Reese. »Sie ist überall.«
Entweder du wirst zum Opfer, oder du kämpfst, Kate.
Sie schüttelte ihre Furcht ab und konzentrierte sich. Furcht half Christopher nicht weiter. Nur Handeln. Und Antworten. Seit dem Fund von David Olsons Skelett war niemand gestorben. Vielleicht gab es irgendwo im Tagebuch eine Antwort. Oder im Wald, wo sie David ausgegraben hatten. Und niemand kannte diesen Wald besser als Christopher und …
Der Sheriff.
Sie wusste nicht, ob die Worte ihre Augen zu ihm lenkten oder umgekehrt. Jedenfalls hatte Kate Reese auf einmal den Sheriff in seinem Zimmer auf der Intensivstation vor sich.
»Der Sheriff«, murmelte Ambrose, als wäre sein Gedankengang ihrem mit drei Sekunden Verzögerung gefolgt. Auch wenn er blind war, sein Verstand war hellwach.
»Schon unterwegs.« Sie schob ihn ins Zimmer des Sheriffs.
Der Sheriff war leichenblass. Seine Lippen bebten selbst im Schlaf. Sie trat an sein Bett und nahm seine Hände. Die Hände, die bei ihrer ersten Verabredung geschwitzt hatten. Jetzt waren sie eiskalt. Nicht weil ihn fror. Sondern vom Blutverlust.
»Wie geht es ihm?«, fragte Ambrose.
Sie betrachtete die mit geübter, wenn auch hastiger Hand vernähten Wunden. Zum Anlegen eines Verbandes war wohl keine Zeit gewesen. Mehrere Schüsse aus kürzester Distanz in die Brust. Einer direkt über dem Herzen. Trotzdem schlug es noch immer.
»Er lebt«, antwortete sie.
Der Arm des Sheriffs hing an einem Morphintropf. Obwohl der Arm anscheinend gründlich gewaschen worden war, konnte sie noch Abdrücke und Reste von Permanentmarker erkennen.
»Auf seinem Arm steht was geschrieben.«
»Was?«, fragte Ambrose.
Sie bewegte die Finger über die Wörter wie über Blindenschrift und las sie Ambrose vor.
David Olson … Jungen. Nicht … schlafen. Carl anrufen.
SOFORT . Werkzeug … Kindern. Stein … Holz. Ganze Stadt … Grippe. Die letzte Grippe … endete … Davids Verschwinden. Hat David die Grippe … aufgehalten? Hat er uns gerettet?
Plötzlich drang aus dem Korridor lauter Tumult. Ein Mann hatte Hunger und wollte nicht einsehen, dass die Mahlzeiten nur für die Patienten waren. »Beruhigen Sie sich, Sir!«, rief eine Schwester, und der Mann entgegnete: »Helfen Sie meiner Frau!« Schließlich krachte etwas Metallisches auf den Boden, und man hörte, wie der Mann schreiend und tretend von den Wachleuten hinausgezerrt wurde.
»So geht es uns auch bald«, warnte Ambrose. »Lesen Sie weiter.«
Kate Reese griff nach dem anderen Arm und entzifferte die verblassten Wörter.
Ambrose … anrufen! Hör nicht auf die Stimme … Sie belügt dich … will, dass du vergisst. Du weißt, wofür das Werkzeug war! … sofort zu Kate. Christopher stößt gerade … Gleiche zu wie David. Los jetzt! Zu spät, Sheriff. Ich habe die zwei gerade mit einem Auto überrollt.
»Ihr müsst hier verschwinden«, flüsterte eine Stimme.
Vor Schreck hätte Kate Reese fast aufgeschrien.
Die Stimme gehörte dem Sheriff. Er hatte sich zum Aufwachen gezwungen. Sein Krächzen war kaum hörbar. »Ist hier nicht sicher. Keine Polizei mehr da.« Er versuchte, sich aufzusetzen, doch er war zu schwach.
Kate legte ihm sanft die Hand auf die Stirn und drückte ihn mit einem leisen »Schsch« zurück auf das Kissen. »Christopher ist gleich nebenan, wir lassen dich nicht allein.«
Der Sheriff gab nach und driftete wieder weg. Das Morphin fiel wie Regen auf einen spiegelglatten Teich. Tropf. Tropf. Tropf.
»Bobby«, flüsterte sie. »Wofür war das Werkzeug?«
»Hm?« Seine Stimme klang völlig benommen von dem Betäubungsmittel.
»Das Werkzeug. Wofür war es?«
Mit einem harten, trockenen Schlucken kämpfte er sich durch den Schmerz. »Die Bauarbeiter haben Werkzeug und verhärtetes Holz entdeckt. Mein Freund Carl hat es untersucht. Da draußen liegen die Überreste von Dutzenden Baumhäusern. Die Kinder bauen sie schon seit Hunderten von Jahren.«
»Was bedeutet das?«, fragte Ambrose.
»Es bedeutet, dass David und Christopher nicht allein dort sind.« Nachdenklich lehnte sich Kate zurück. Es gab also noch andere Kinder. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob das gut oder schlecht war.
Ambrose riss sie aus ihrer Versunkenheit. »Waren die Baumhäuser immer an derselben Stelle?«
»Nein«, antwortete der Sheriff. »Sie sind über den ganzen Wald verteilt. Warum?«
Auf der Stirn des alten Soldaten erschienen Falten. »Vielleicht sind sie alle miteinander verbunden. Vielleicht benutzen sie sie, um was Größeres zu bauen.«
40,7 Grad
piEp.