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Mrs. Henderson spürte einen heftigen Schauer. Ein böser kalter Lufthauch, der von drinnen nach draußen wollte. Wie Zahnschmerzen. Sie wusste, dass sie Verspätung hatte. Das war unentschuldbar, und daran ließ die Stimme auch keinen Zweifel.
Unentschuldbar.
Mrs. Henderson beschleunigte das Tempo. Sie bretterte an den Bulldozern und Kränen der Baufirma Collins vorbei, die so reglos waren wie ihr Mann im Krankenhaus. Große, nutzlose Metallkästen wie die, die den Schweinehund am Leben hielten. Die Ärzte hatten keine Ahnung, warum er noch nicht gestorben war. Im Gegensatz zu ihr. Sie wusste ganz genau, was das alles zu bedeuten hatte. Sie wusste, was als Nächstes bevorstand. Ihnen allen. Und ganz besonders Christopher.
Mrs. Henderson parkte den Streifenwagen des Sheriffs und betrat den Missionswald.
Sie war noch nie hier gewesen, trotzdem schritt sie ohne Zögern voran. Die Stimme zeigte ihr den Weg. Beim Baum links. Bei dem Felsbrocken rechts.
Hier entlang, Mrs. Henderson.
Mrs. Henderson richtete den Blick auf den Boden. Sie bemerkte Fußspuren unterschiedlichster Größen. Alle deuteten in die gleiche Richtung. Zu dem Ort, den auch Mrs. Henderson anstrebte.
Schnell, du musst dich beeilen.
Ohne Rücksicht auf ihre müden Beine fing Mrs. Henderson an zu rennen. Es war ein wenig unangenehm, weil sie bei jedem Schritt die wieder aufgeplatzte Wunde in ihrer Seite spürte. Aber ein Indianer kannte keinen Schmerz, wie die Kinder immer sagten. Ihre Wanderstiefel pflügten sich durch Schnee und Schlamm. Sie lief durch den Bergwerksstollen und kam an einem Dutzend Hirsche vorbei, die herumhüpften wie kleine Hündchen. Lauter und lauter hallte die Stimme durch ihren Kopf.
Beeil dich, beeil dich. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Mrs. Henderson erreichte die Lichtung und hielt den Atem an.
Es war so schön. Noch schöner als ihr Mann am Traualtar. Schöner als ihr Gelübde. Oder die Hochzeitsnacht. So etwas hatte Mrs. Henderson in ihrem ganzen Leben nicht erblickt. Ein herrlicher alter Baum, auf dessen Ästen ein anmutiges kleines Baumhaus ruhte.
Um den Baum hatten sich Hunderte von Menschen versammelt.
Still wie in der Kirche.
Einige von ihnen, wie Ms. Lasko, Brady Collins und Jenny Hertzog, kannte sie von der Schule. Auch ehemalige Schüler, die sich in einem Wimpernschlag von bezaubernden kleinen Jungen in kahlköpfige Herren verwandelt hatten. Aber viele waren ihr fremd. Beliebige Gesichter, die ihr vielleicht einmal im Supermarkt, an der Tankstelle oder bei ihrem kurzen Gefängnisaufenthalt begegnet waren. Trotzdem war die Versammlung wie eine einzige große Familie. So wohl fühlte sie sich.
So wohl fühlten sich alle.
Sie überquerte die Lichtung, und die Menge teilte sich vor ihr wie das Rote Meer. Alle Gesichter wandten sich ihr zu. Alle lächelten. Sie waren so glücklich, mit all den anderen hier zu sein. Es war ein wunderbarer Tag. Keine Schmerzen mehr. Kein Leid. In ihrem ganzen Leben war Mrs. Henderson der weihnachtliche Geist nie in solcher Reinheit erschienen.
Mrs. Henderson trat zu Ms. Lasko. Die zwei Frauen nickten einander lächelnd zu und mussten dann über ihre alberne Förmlichkeit lachen. Sie umarmten sich wie lang getrennte Schwestern. Und waren sie das im Grunde nicht auch? Waren nicht alle Anwesenden Geschwister? Mrs. Henderson drückte Ms. Lasko an sich. Dann legten beide je einem Kind mütterlich die Hand auf die Schulter: Brady Collins und Jenny Hertzog. Alle fühlten sich wie befreit. Beflügelt vom gleichen Gedanken.
Endlich versteht mich jemand.
Ms. Lasko wusste, dass sie nicht mehr nüchtern bleiben musste, so wie Brady Collins wusste, dass er nicht mehr in der Hundehütte schlafen musste, und so wie Jenny Hertzog wusste, dass sie sich nicht mehr vor ihrem Stiefbruder ausziehen musste. Und wenn jemand etwas anderes behauptete, dann würde eben die Gemeinschaft ein Machtwort sprechen. Wenn irgendwelche furchtbaren Leute wie Christophers Mutter, ihre Freunde, der Sheriff oder Ambrose Olson sich ihnen in den Weg stellten, wurden sie eben aus dem Verkehr gezogen. Die Gruppe konnte jeden ausschalten, der nicht verstand. Und wenn es zum Krieg kam, würden sie siegen.
Weil in einem Krieg immer die Guten siegten.
Alle knieten sich nieder und legten zusammen die Hände an den Baum. Der Baum war warm wie ein Babyhintern. Sie empfanden ein Glück wie noch nie in ihrem Leben. Die kühle Seite des Kissens verbunden mit einem warmen Bad. In einem einzigen Moment fiel bei allen das Fieber. Ihre Arme hörten auf zu jucken. Endlich hatten sie Frieden. Die Ruhe vor dem Sturm.
Den Frieden vor dem Krieg.
»Es ist Zeit«, rief Mrs. Henderson schließlich.
Sie griff nach ihrem Wochenendkoffer. Das weiche Leder in ihrer Hand. Wie brechende Wirbel schnappten die Zähne des kalten Reißverschlusses auseinander. Sie öffnete den Koffer und zog das scharfe Fleischermesser heraus.
»Kann ich helfen?«, fragte Brady Collins.
»Natürlich, Brady. Danke, das ist sehr freundlich von dir. Deine Grandma wäre stolz auf dich. Vielleicht magst du Wache halten?«
Lächelnd zückte Brady Collins seinen Revolver. Dann marschierte er auf und ab, um die Gemeinschaft vor Special Ed zu schützen, der sich, wie er wusste, irgendwo im Wald versteckt hatte.
»Ich auch?«, fragte Jenny Hertzog eifrig.
»Natürlich, Jenny. Deswegen bist du ja hier, Schätzchen.«
Strahlend vor Stolz fasste Jenny in den Koffer. Sie nahm ein Dutzend Nähnadeln und so viel von den 300 Metern schwarzem Garn heraus, wie in ihren kleinen Händen Platz hatte.
Mrs. Henderson wandte sich der versammelten Gemeinde zu und ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter gleiten.
»Können Sie meinen Stiefbruder als Ersten drannehmen?« Jenny Hertzogs leise Stimme bebte.
»Bist du sicher, dass du ihn dir nicht bis zum Schluss aufheben willst?«, fragte Mrs. Henderson.
»Lieber nicht.«
»Also schön. Scott, hier zur Mitte.«
Lächelnd trat Jennys Stiefbruder vor. »Ja, Ma’am. Was kann ich tun?«
»Du kannst die ganze Scheiße fühlen, die du Jenny angetan hast, ohne dass es jemals wieder aufhören wird. Wie findest du das?«
»Super.« Scott nickte verzückt.
Seine kleine Stiefschwester Jenny fädelte ein Stück schwarzes Garn durch eine Nadel und reichte sie Mrs. Henderson. Die alte Frau tätschelte ihr freundlich den Kopf und ging zu Scott. Mit der linken Hand presste sie seine Lippen aufeinander und machte sich mit der rechten daran, die Nadel zu führen, wie sie es in Hauswirtschaft gelernt hatte.
Während sie ihm den Mund zusammennähte, konnte sie durch das weiße Rauschen in ihrem Kopf nicht einmal seine gellenden Schmerzensschreie hören. Lächelnd tanzte Mrs. Henderson Walzer mit ihren Erinnerungen. Damals war alles noch einfacher gewesen. Als die Mädchen Hauswirtschaft und die Jungen Werken besuchten. Als die Männer ihren Frauen noch treu waren und nicht an Scheidung dachten. Als die guten alten Tage noch die guten neuen Tage waren. Damals war alles besser gewesen. Und so würde es bald wieder sein. Das hatte ihr die leise Stimme versprochen. Diesmal würde ihr Mann sie wahrnehmen. Diesmal würde er sie respektieren.
Dafür musste sie nur ihren Teil der Aufgabe erfüllen.
Und sie alle vorbereiten auf ihren.
Beim Nähen glitt ihr Blick hinauf zum Baumhaus. Was für ein schönes kleines Baumhaus. Auf der anderen Seite dieser Tür wartete ihr Mann. Fast konnte sie sein Wispern hören.
»Schatz, lass uns übers Wochenende wegfahren.«
»Was?«, fragte sie überrascht.
»Ich möchte mit meiner Frau einen Ausflug machen. Bloß schade, dass ich keinen Koffer gepackt habe.«
»Ich hab einen dabei! Einen fertig gepackten Koffer! Ich habe ihn mitgebracht und in der Bibliothek versteckt. Da ist er!«
»Du bist die tollste Frau, die sich ein Mann wünschen kann.«
Diesmal konnten sie den Koffer hinten in sein Auto werfen und losdüsen. Wohin, spielte keine Rolle. Denn sie war wieder jung. Ihr Haar war rot. Ihr Körper schlank und rank. Und sie wusste, sie konnte diesen Tag bis in alle Ewigkeit auskosten. Vielleicht musste sie ihn dann auch nicht mehr niederstechen.
»Wohin sollen wir fahren, Liebling?«, fragte sie endlich.
»Zum Baumhaus natürlich. Da drinnen ist es so wunderschön.«
Versunken in die Träume über ihre neue Zukunft, merkte Mrs. Henderson erst mit ein wenig Verzögerung, dass sie Scott bereits in einen Briefkastenmenschen verwandelt hatte. »Scott, es ist Heiligabend, und der Baum ist leer. Wir müssen ihn schmücken.«
Jenny reichte Scott ein Stück Seil, das Ms. Lasko mit dem Fleischermesser zurechtgeschnitten hatte. Scott nahm das Seil und stieg über die babyzahnartigen Kantholzstufen den Baum hinauf. Am ersten dicken Ast angekommen, kletterte er so weit hinaus wie möglich. Dann band er das Seil an den Ast und schlang sich das andere Ende um den Hals. Als er hinuntersprang, brach sein Genick wie ein dürrer Zweig, ohne dass er starb. So wie es Mrs. Henderson erwartet hatte. Niemand würde mehr sterben.
»Wann darf ich ihn im Hochwasser ertränken?«, fragte Jenny.
»Sobald wir den Krieg gewonnen haben, Jenny.« Mrs. Henderson lächelte. »Der Nächste bitte!«
Mrs. Henderson wandte sich dem Wachmann der Baufirma Collins zu, der sich über die vielen Überstunden freute, die er durch sein pflichtbewusstes Erscheinen so spät an Heiligabend auf dem Gelände einheimste. Als die alte Frau ihm mit schwarzem Garn Reißverschlüsse in die Augenlider einzog, drangen seine Schreie gar nicht durch ihre fieberhaften Gedanken. Wenn sie in ihrer langen Tätigkeit als Lehrerin an einer öffentlichen Schule etwas gelernt hatte, dann dass sie sich auf die Umstände einstellen musste. Sie blickte auf die mehreren Hundert Stadtbewohner, die darauf warteten, zu Briefkastenleuten zu werden. Wie gern hätte sie selbst alle von Hand genäht wie Scott, aber leider waren sie schon spät dran. Also musste sie ein wenig delegieren und sich von Ms. Lasko helfen lassen. Unterstützt von Jenny und Brady, die die frisch versiegelten Briefkastenleute ans Ende der Warteschlange führten.
Sonst werde ich nie mit der ganzen Näherei fertig.
»Der Nächste bitte!«