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Christophers Mutter raste über den Highway. Sie hatte fünfzehn Minuten bis zum Shady Pines gebraucht, wo Ambrose’ ramponierter alter Cadillac stand. Fünfzehn Minuten, in denen sie an brennenden Läden vorbeikam und sich hinter Autos mit eingeschlagenen Scheiben vor Plünderern verstecken musste, die im Schatten lauerten. Es gab keine Taxis. Keine Polizei. Sie war ganz allein, umringt von Gewalt. Mit gebrochenen Rippen, die Wirkung des Schmerzmittels nur noch eine Erinnerung. Christophers Mutter spähte auf die Uhr an der Armatur.
Zehn Minuten vor Mitternacht.
Sie fuhr ab von der Route 19 und bremste, bis sie bloß noch dahinkroch. Eigentlich hätte das Viertel sie mit Weihnachtsschmuck und Feiernden begrüßen müssen, die noch einen letzten Schluck an Heiligabend genossen. Mit Kindern, die ins Bett gescheucht wurden, damit Santa ihr Haus nicht überging.
Doch was sie sah, war etwas ganz anderes.
Überall herrschte unheimliche Stille. Alle Straßenlichter waren abgestellt. Zu beiden Seiten der Fahrbahn standen Hirsche aufgereiht wie Telefonmasten. Ihre schwarzen Augen schimmerten im Mondschein. Beobachteten sie. Belauerten sie.
Sie bog in die Hays Road.
Sie spähte in die vorbeiziehenden Häuser. An den Christbäumen funkelten Lichter und ließen den Schmuck leuchten. Doch in den Wohnzimmern war niemand. Keiner verfolgte die Weihnachtssendungen im Fernsehen. Keine Menschenseele.
Da waren nur die Hirsche.
Sie erreichte ihren Block. Fuhr vorbei an dem alten Olson-Haus an der Ecke. Keine Spur von Jill und Clark. Dann das Haus der Hertzogs. Weder Jenny noch ihr Stiefbruder waren zu sehen. Keine Autos in den Einfahrten. Sie blickte die Straße entlang zum Missionswald. Alles war wie ausgestorben.
Doch sie spürte etwas.
Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Es ließ sich nicht ignorieren. Dort im Wald war etwas Schreckliches. Etwas, das sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitete.
Trotzdem fuhr sie weiter.
Auf ihr Haus zu.
In diesem Moment stürzte die alte Frau von gegenüber aus der Blockhütte. Sie trug ein weißes Nachthemd. Baumwolle und Spitze. Barfuß huschte sie vor das Auto, die Scheinwerfer erfassten ihr Gesicht. An ihren Augenlidern waren Reißverschlüsse, der Mund war mit schwarzem Garn zugenäht. Mit einem Schrei stieg Christophers Mutter auf die Bremse.
Die Frau stöhnte durch die Naht. »Eaa waaa hooo ei üübheaa Juungeee!« Dann huschte sie wie ein aufgescheuchtes Tier in den Missionswald.
Christophers Mutter wartete, ob noch etwas anderes passierte. Doch es blieb still. Sie hatte nur dieses überdeutliche Gefühl.
Der Tod kommt. Der Tod ist hier. Wir sterben am Weihnachtstag.
Sie schaute auf die Uhr.
Sechs Minuten vor Mitternacht.
Sechs Minuten vor Weihnachten.