105
der nettE manN starrte auf den baum. auf der erde dauerte dieser moment eine sekunde. für ihN war es eine weitere ewigkeit. eR hatte recht gehabt. dieses kind war das kind. in zweitausend jahren war ihM niemand wie dieser junge begegnet. eR brauchte ihn. eR musste seinen willen brechen, dann konnte eR sich aus diesem kerker befreien. natürlich wusste eR genau, was zu tun war, um seinen willen zu brechen. eR wusste, wie eR an den schlüssel herankam. dann würde eR frei sein. endlich.
eR wandte sich zurück zum wald, und die hirsche drängten sich um david olson. seinE diener bissen den jungen und schleiften ihn wie eine maus zurück zu ihrem herrN. eR packte david am hals und hielt ihn hoch: ein armer tropf, der sich in einer schlinge wand. der nettE manN nahm david die stumpfe silberklinge weg und steckte sie zurück in seinE tasche.
»icH hab dir gesagt, was passiert, wenn du micH verrätst, david.«
eR ließ einen teil von sich zurück, der davids augen und lippen versiegelte. dann ging eR hinüber zu mrs. henderson. die liebe mrs. henderson. noch immer betäubt von der kugel, die von ihrer stirn abgeprallt war, lag sie auf dem boden. sie konnte von glück reden, dass eR keine menschen mehr sterben ließ, sonst hätte sie nie mehr die gelegenheit zu einem wiedersehen mit ihrem mann gehabt.
»steh auf, liebling«, rief eR mit der stimme ihres mannes. »wir können noch immer diesen wochenendausflug machen.«
»ist das dein ernst?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»ja. ich möchte dir zeigen, wie sehr ich das heim schätze, das du mir bereitet hast. und den körper, den du mir geschenkt hast. aber zuerst musst du etwas für mich tun. einverstanden, liebling?«
eR ließ einen wispernden teil von sich bei mrs. henderson und ging weiter zu brady collins, wo eR sich in den geruch einer warmen küche verwandelte.
»brady, steh auf. komm in die küche. du musst nie wieder frieren.«
»wirklich?«
»natürlich. mommy hat dich lieb. du musst mir bloß noch einen gefallen tun. okay?«
eR blieb bei brady collins und wurde für jenny hertzog zum geruch eines geschützten Zimmers … 
»möchtest du scott in einem hochwasser ertränken?«, fragte eR als jennys mutter.
… während eR sich gleichzeitig für ihren stiefbruder scott zum geruch von jennys Zimmer machte.
»du kannst mich haben, scott«, sagte eR mit jennys stimme. »vorher musst du bloß noch eine kleinigkeit für mich erledigen.«
eR wand sich den riesigen stamm zu christophers baumhaus hinauf – der jüngste und wertvollste schmuck des baums. durch das fenster beobachtete eR die drei kleinen jungen, die sich wie ferkel zusammendrängten hinter der noch rauchenden pistole von special eds vater. eR wusste, dass christopher diese jungen mit seiner liebe schützte. das war das risiko, wenn man jemanden zu gott machte. trotzdem hatte ihN diese wendung der ereignisse überrascht. mit viel mühe hatte eR special ed die munition besorgt. eR hatte ihn als eifrigen wächter eingesetzt, der die tür zum baumhaus offen halten sollte. nicht geschlossen. und jetzt hatte eR ein problem. doch auch dafür gab es lösungen. christophers schutz würde nicht ewig währen. wer sich nicht auf seinE seite ziehen ließ, konnte überlistet werden. es war so leicht, jungs in den krieg zu locken. fast so leicht wie erwachsene männer. wenn es wirklich darauf ankam, würde das baumhaus ihM gehören. eR musste bloß immer weiter wispern. und warten. wispern und warten.
»die guten gewinnen im krieg, eddie. hör auf grandma.«
»sie wollen deinen bruder umbringen, matt.«
»du musst die avengers schützen, mike.«
eR blieb vor dem baumhaus und glitt wieder die leiter hinunter.
Z
S
C
H
S
C
H
unten kroch eR über die lichtung und hinterließ überall schemen von sich wie kleine wolkenfetzen. eR wisperte allen ins ohr, wie eR es bei mary katherine gemacht hatte, bevor sie christopher überfuhr. bei mrs. henderson, damit sie buchstaben unterstrich. bei christopher während seines sechstägigen schlafs auf dem baum. die streichelnde hand auf seinem haar. immer lächelnd. immer ruhig. immer sanft. die berührung an den armen. dieses leise jucken. die leute meinen, es ist trockene Haut. aber in wirklichkeit bin icH es. eR war der alkoholgeschmack auf ms. laskos lippen, der so rein war, dass sie weinte, als eR ihr das gefühl von betrunkenheit wegnahm. eR war die ekstase, die debbie dunham immer empfand, bevor die scham und die einsamkeit zurückkehrten. eR war die gedanken, die doug durch den Kopf schossen.
sie hat dich betrogen, doug. sie ist eine hure und hat dich hintergangen.
willst du eine jungfrau? du kannst eine haben, doug.
du weißt, was du zu tun hast. du weißt, wohin du gehen musst.
eR war die verheißung der zweiundsiebzig jungfrauen und das erwachen in der dreiundsiebzigsten nacht.
keine jungfrAuen mehr. nur zweiundsiebzig unglückliche ehefrAuen und die zeit. es ist zeIt.
eR war ihre erinnerungen und träume, ihre wünsche und gedanken.
schon seit jahrhunderten.
nur bei christopher war es anders.
besser.
zuerst hatte eR es gar nicht gemerkt. so lange war es schon her. doch schon nach wenigen sekunden war es unverkennbar. eR konnte wieder riechen. es war nicht bloß die erinnerung, sondern ein richtiger geruch. kiefernnadeln, frisch und feucht wie sex. so lebendig hatte eR sich schon seit jahrzehnten nicht mehr gefühlt. nicht mehr seit david olson. david hätte ihn hier herausholen können. doch eR machte fehler, und david zerrann ihm zwischen den fingern wie sand. also musste eR nach dem nächsten kind suchen. es war keine suche an einem ort. sondern eine suche in der zeit. die reale welt durch das glas beobachten. wartend. wispernd. wie lange hatte eR auf ihn gewartet? eWig wie kinder auf den schulbus. und dann war der bus endlich gekommen. der bus zu diesem Tag. zu dieSem jungen.
der nettE manN schritt zurück durch die lichtung. eR spürte das feuchte gras an den füßen. den knirschenden, kalten schnee. es war herrlich. eR kam am ziegensteig vorbei.
der mann, der die prostituierte in dem hohlen baumstamm abgelegt hatte, schrie, als die hirsche sein gesicht abnagten. zum millionsten mal. »bitte! aufhören! es tut mir leid!«
eR verließ den wald.
seiN blick glitt über die landschaft. beleuchtet vom blauen mond. eR überquerte das glitschige feld und gelangte zu der straße, die eR geschaffen hatte, um sie zu verbrennen. die straße wärmte seine kalten füße wie trocknende strümpfe am kamin. der mann in der pfadfinderinnenkluft schleppte sich ins gebüsch und schrie.
das küssende paar unterbrach sich kurz und starrte ihN mit irrsinnigen augen an. »bitte. es tut uns leid!«
eR wisperte ihnen ins ohr. sie vergaßen. und betrogen einander weiter. bei jedem kuss den kummer im herzen, den ihre sterbenden liebsten empfanden. so wie der mann, der der polizei die tür öffnete und hörte, dass sein kind ermordet worden war. zehn minuten sorge. zehn minuten erschütterung. dreißig sekunden freude bei der geburt des kindes. dann zehn minuten sorge. zehn minuten erschütterung. eWig. nach seineR zählung hatte der mörder des kindes den schmerz, den er den eltern verursacht hatte, inzwischen 1 314 000-mal erlebt. die menschen glaubten, dass sie sich irgendwann an die eWigkeit gewöhnen konnten. begriffen sie denn nicht, dass ohne richtige erinnerung keine gewöhnung möglich war? natürlich war es so. dabei hätte eR gedacht, dass irgendjemand durchschauen würde, wie es funktionierte.
hier war jeder tag der erste.
und bald würde es auch auf der erde so sein.
eR betrachtete die briefkastenleute am straßenrand. sie warteten darauf, es mit der eWigkeit zu versuchen. ohne zu ahnen, was sie sehen würden, wenn sich die reißverschlüsse an ihren augen endlich öffneten. die obere seite einer wolke. oder diesen ort. eWig.
dann sah eR …
sie.
sie kroch verzweifelt über den grünstreifen. ihr ziel war davids elternhaus an der ecke. sie heilte bereits. wie immer. eR konnte sie in den wahnsinn treiben. eR konnte aus all ihren mahnungen erschreckende schreie machen. eR konnte all ihre mütterlichen gesten und warnenden Rufe wie »lauf weg. er ist böse. du darfst ihm nicht helfen« zu zischen, albträumen und wut verzerren, bis die kinder, die sie schützen wollte, vor angst davonliefen. eR konnte ihre güte so mühelos in grauen verwandeln wie die liebe der menschen in die kriege der menschheit. doch sooft eR sie auch niederstach. und niederschoss … 
eR konnte sie nicht töten.
und sie hielt ihN hier gefangen.
eWig.
zwischen ihnen herrschte ein fortwährendes auf und ab wie zwischen zwei kindern auf einer schaukel. ihre kräfte griffen ineinander wie ebbe und flut. keiner von ihnen besaß die macht. sie lenkten sie nur, so wie der mond mit seiner schwerkraft das wasser bewegte. einige jahrzehnte sie, dann wieder eR. außer in den seltenen phasen, wenn eR eins dieser noch selteneren kiNder entdeckte. so rEin. so freundlich. so vertrauensVoll. umfassend in ihrem wissen, doch ohne diese eine einsicht, die eR vor ihnen verbergen musste.
sie durften nicht erfahren, weR in wirklichkeit die fäden in der hand hielt.
im lauf der jahrhunderte hatte eR es mit vielen geschichten probiert. und eR hatte aus seinen fehlern gelernt. seltsamerweise hatte eR die erfahrung gemacht, dass ehrlichkeit die beste taktik war. dank seiner klugheit hätte christopher die ungereimtheiten wohl bald entdeckt, daher hatte eR dem jungen fast nur die wahrheit erzählt. zwischen den welten gab es eine art einwegspiegel. man konnte den menschen auf der realen seite etwas zuflüstern. das baumhaus war tatsächlich eine pforte von der einen in die andere welt. es gab vier wege hinein. drei wege hinaus.
aber …
die fantasiewelt war keine fantasie. der dritte weg hinaus erforderte nichts anderes als den schlüssel der zischenden lady. und die zischende lady war von ihnen beiden nicht unbedingt diejenige, die als böse gelten konnte.
außer für ihN.
eR hob sie hoch, zerschunden und blutig, wie sie war. sie spuckte ihN an. beschimpfte ihN. starrte ihN an. auge in auge. eR zog die stumpfe silberklinge heraus und schärfte sie an seineN zähnen wie ein rasiermesser an einem lederriemen. dann bohrte eR sie ihr in die brust. riss sie ihr aus dem fleisch. die wunde heilte sofort. immer und immer wieder stieß eR mit der silbernen klinge zu wie ein hackender specht. eR spürte das knirschen ihrer knochen, die die klinge abgestumpft hatten, bis von dem silber fast nichts mehr übrig war. genau wie sie es machte. jedes mal. eWig.
»warum stirbst du nicht endlich, verflucht?«, seufzte eR.
eR blieb bei der zischenden lady und verteilte sich in der stadt wie eine wolke. strich durch die krankenhausgänge. wunderte sich über die steine auf dem spielbrett. es gab keine zufälle. alle waren da, wo sie gebraucht wurden. alle krank. vor wut. vor grippe. so viel hitze. die frösche zappelten im kochenden wasser.
wisst ihr, warum niemand mehr stirbt?
eR streifte durch das altenheim und die kirche.
wisst ihr, was das bedeutet?
eR passierte die gaffer auf der route 19. in jedem einzelnen auto ließ eR sich auf dem beifahrersitz nieder. wispernd wiegelte eR die leute gegeneinander auf. rieb sich an ihnen wie zunder.
ihr sterbt nicht mehr.
wisst ihr, was das bedeutet?
seit zweitausend jahren befand eR sich in einzelhaft. lauernd. wartend. die grenze im blick bis zu diesem tag. zu diesem jungen. kurz holte eR all seinE teile zusammen. vom nahen osten, wo gerade die nächsten schüsse des endlosen krieges fielen, über europa und das dunkelste afrika bis zu der abgelegenen kleinstadt in pennsylvania, die niemand beachtete. das perfekte versteck für seinE hintertür. seit jahrzehnten hatte eR das nicht mehr gemacht. eR hob seiN auge zum himmel. vorbei an dem blauen mond, der dort lag wie ein garnknäuel für einen löwen. eR starrte hinauf zu seineM Vater, der sich zwischen einhundert milliarden sternen versteckte. zwischen den einhundert milliarden menschen, die gelebt hatten und gestorben waren. eR verlor die menschen immer an seineN Vater. an diese sterne. wenn sie starben, konnten sie ihM weggenommen werden. denn gotT ist ein mörder, daDdy.
aber jetzt stirbt niemand mehr.
und wisst ihr, was das bedeutet?
es bedeutet, dass die frösche weiterleben.
und weiterkochen.
eWig.
mehr ist die eWigkeit nämlich nicht.
nur die abwesenheit des todes.
und bald wird sie hIer sein,
damit ihr alle begreift,
dass die hölle zur erde gekommen ist.
was jetzt noch fehlt, ist ihr köniG.
eR stand so dicht davor. eR wusste es. vor der freiheit. endlich konnte eR den wald hinter sich lassen. den schatten. das kriechen am hals eines menschen. das war seinE chance, den kindern gottes in die augen zu schauen und sich ihnen allen vorzustellen. eR würde sich den kleinen blauen planeten seineS Vaters unterwerfen. eR würde seineM Vater das blau aus den augen reißen. aus diesen augen voller wolken. und damit das möglich wurde, musste nur eine winzige gruppe von menschen sterben.
christopher und alle, die er liebte.
durch die ganze stadt wanderte eR und verbreitete seinE botschaft wie die grippe. mit allen möglichen mitteln. ein wispern. eine andeutung. ein vergessener traum. der zusammenhalt einer familie. die angst, die die alten nachts wach hielt. der zorn, der die zu kurz gekommenen heimsuchte. und seit einigen monaten auch die milchwerbung, für die emily bertovichs vater in der hoffnung auf eine rückkehr seiner tochter ein vermögen ausgegeben hatte.
nur eR wusste, dass sie nicht zurückkehren würde.
in der ganzen stadt erinnerten sich die menschen an ihre längst verstorbenen liebsten und hörten geflüsterte worte von ihnen. wer von christopher berührt war, schüttelte es ab. für sie war es bloß ein seltsames leises raunen oder eine beängstigende warnung. doch bei allen anderen schwoll das wispern immer mehr an, bis es ein schreien in ihren ohren war. der sündenbock für alles. der grund für ihre unzufriedenheit. die ursache für das scheitern ihres lebens. endlich ergab das ganze einen sinn. endlich hatten sie eine erklärung für alle probleme der welt. ihre gebete waren erhört worden. zum ersten mal konnten die menschen es laut aussprechen … auch wenn sie den grund nicht kannten … sie wussten einfach, was zu tun war, damit endlich der himmel auf erden entstand …
»Wir müssen den kleinen Christopher und alle anderen töten, die sich uns in den Weg stellen. Denn er ist der Feind. Wir sind im Krieg. Und im Krieg gewinnen die Guten.«
eR lächelte so breit, dass ihM fast die babyzähne ausgingen.