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Die Jungen waren umzingelt.
Matt spähte hinunter zu der reglos hingestreckten Mrs. Henderson. Sein sehschwaches Auge brannte, als hätte ihm der Doktor Tropfen hineingeträufelt. Das Auge, das Christopher geheilt hatte. Mit ihm nahm er jetzt einen Schatten wahr, der durch die Lichtung huschte. Von einer Person zur anderen. Wispernd.
Allmählich wurden die zufälligen Bewegungen der Meute zielstrebiger. Die Leute, die an den herabhängenden Ästen baumelten, zogen den Hals aus der Schlinge. Wie Eicheln purzelten sie auf den Boden und scharten sich um Mrs. Henderson. Von Special Eds Kugel hatte sie eine klaffende Wunde an der Stirn.
»O Gott. Sie lebt noch«, flüsterte Mike.
»Das ist unmöglich.« Special Ed trat ans Fenster.
Stumm beobachteten die Jungen, wie die Stadtbewohner die Bibliothekarin sanft hochhoben.
Dankend nickte Mrs. Henderson den Briefkastenleuten zu, während sie das Garn von ihrem Mund löste. Dann legte sie einem liebevoll die Hand auf die Schulter und sprach mit ruhiger Stimme. »Tötet Christopher und bringt ihn her.«
Leise marschierte die halbe Horde durch den Wald davon. Die andere Hälfte blieb und erwartete ihren nächsten Befehl.
Mrs. Henderson zerschnitt die Fäden an den Lippen und Augen von Doug und Debbie Dunham. »Geht zu Mary Katherine. Sie lacht über euch. Bringt sie zum Schweigen.«
Mit einem Nicken machten sich die beiden Teenager auf den Weg.
Mrs. Henderson legte das Messer weg und nahm Nadel und Garn. Ohne das Baumhaus aus den Augen zu lassen, nähte sie die Schusswunde zu, die wie ein Daumenabdruck auf ihrer Stirn prangte.
Dann rief sie zum Angriff und stürmte im nächsten Moment die Leiter hinauf.
»O Gott«, entfuhr es Matt.
Special Ed prüfte hastig seine Pistole. Fünf Patronen im Magazin. Zweihundert in seinem Rucksack. Er stieß die Tür auf und zielte nach unten wie in einem durchgeknallten Videospiel. Dutzende von Leuten kletterten die Stufen herauf, und Hunderte andere warteten darauf, sie abzulösen. Special Ed schoss. Hielt die erste Welle auf. Die Vordersten stürzten nach hinten. Doch niemand starb. Niemand wollte aufhören.
Mit brennendem Auge verfolgte Matt das Geschehen. Überall erkannte er den Schattenmann, der die Leute antrieb. Der sich in eine warme Küche verwandelte. In ein Hotelzimmer. Ein Traumhaus. Den Jungen, der ihre Liebe erwiderte. Das Mädchen, das endlich Ja sagte. Den verschollenen Vater. Den verlorenen Sohn. Wispernd. Sie mussten nur diese Tür öffnen. Das Baumhaus erobern. Die drei kleinen Kinder aus dem Weg räumen, dann winkte ihnen das Glück.
Ewig.
»Wir haben nicht genug Munition«, stellte Special Ed fest.
Matt schaute hinab auf die heranwogende Meute. Eddie hatte recht. Zweihundert Schuss waren eine Menge, doch die Bösen würden immer weiter heranrücken.
Mike packte einen Hammer und machte sich auf den Weg nach unten. »Gib mir Deckung«, sagte er zu Special Ed.
»Nicht, Mike!«, schrie Matt entsetzt.
»Ohne Leiter können sie nicht raufklettern. Ich lasse nicht zu, dass euch was passiert.«
Schnell huschte Mike zehn Stufen hinab. Unten auf der Lichtung entstand lauter Tumult. Mike holte mit dem Hammer aus und schlug das erste Kantholz weg. Matt riss Special Ed die Pistole aus der Hand. Er wartete, bis der erste Briefkastenmensch nach Mikes Bein griff.
Dann schoss er.
Der Briefkastenmensch stürzte ab und riss andere mit wie Dominosteine. Mike warf das Kantholz hoch, und Special Ed fing es auf. Dann stieg er Stufe für Stufe hoch und hebelte sie nacheinander ab. Er beförderte die Kanthölzer nach oben zu Special Ed, und die Leiter verschwand.
»Holt ihn runter vom Baum!«, rief Mrs. Henderson.
Die Leute auf der Lichtung warfen Steine nach ihm. Erdbrocken. Alles, was sie finden konnten. Der Schutt traf Mike, doch er ließ sich nicht bremsen. Wieder nahm er eine Stufe weg. Und wieder. Dann erreichte er das vorletzte Kantholz. Das letzte. Bis zum Boden waren es gut vier Meter. Das Baumhaus war von dort nicht mehr erreichbar. Sie konnten auf Unterstützung warten. Auf Christopher. Auf den Sheriff. Sie hatten gewonnen.
Da zog Brady seinen Revolver.
Entsetzt erkannte Matt, dass sich der Schattenmann wie eine Baumwurzel um Brady schlang.
»So ist es gut, Brady«, wisperte eine Stimme. »Komm raus aus der kalten Hundehütte.«
Brady hob den Revolver, gerade als Mike das letzte Kantholz löste.
»Schaff diesen Jungen aus unserer Küche.«
Mike reichte seinem kleinen Bruder den Hammer zurück.
»Du musst nie wieder frieren.«
Brady Collins feuerte.
der nettE manN lächelte, als die leute auf der lichtung in ihren kleinen kampf auf leben und tod um das baumhaus zogen. eR beobachtete, wie die kugel mikes schulter traf. eR nahm zur kenntnis, wie mike nach unten stürzte und mrs. henderson mit nadel und faden herbeihinkte. eR wisperte matt zu, dass er seinen bruder noch retten konnte. eR sah, wie matt die geheime strickleiter herabließ und im nebel nach unten kletterte. eR nahm matts gesichtsausdruck wahr, als sein briefkastenbruder mit nadel und faden auf ihn zurannte. eine minute später verfolgte eR, wie special ed die strickleiter nach oben zog.
eddie.
»Matt? Bist du das?«
ja. lass die leiter runter.
»Wie lautet das Passwort?«
schokoladenmilch.
eR beobachtete, wie die leiter nach unten fiel und sich die seile spannten. die hände, die sich aus der dunkelheit herabtasteten. special eds miene, als er erkannte, dass es nicht matt war.
es war brady collins.
der nettE manN lächelte über die beiden, die sich anknurrten, weil eine hundepfeife sie angelockt hatte. bald würden sie einander auf seiN signal hin durch den wald hetzen. mit gezückten schusswaffen. zwei kleine jungen, die krieg spielten. wie leicht konnte eR menschen dazu bringen, sich wegen dingen zu töten, die letztlich doch nur der zeit gehörten. wie leicht konnte eR jeden der beiden davon überzeugen, dass er der gute war.
wie auch immer, das baumhaus war jetzt leer und unbewacht, so wie eR es wollte. noch konnte eR nicht hinüberwechseln zur erde. nicht, solange die zischende lady noch lebte. doch die pforte war jetzt offeN.
jetzt brauchte eR nur noch christopher.
und den schlüssel in seiner tasche.
allerdings musste eR sich vorher noch um ein paar andere leute kümmern.